Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Espen Dekko: "Sommer ist trotzdem"
Tränen ändern nichts?

Ein Mädchen verbringt die Sommerferien bei den Großeltern am Meer, mit Bootsfahrten, Lachanfällen und Salzwasser in der Nase. Eigentlich ist alles wie immer. Dennoch ist alles anders - denn es ist der erste Sommer nach dem Tod ihres Vaters. Und da sind auch Klöße im Hals und Wut.

Von Svenja Kretschmer | 27.06.2020
Der Autor Espen Dekko und sein Roman „Sommer ist trotzdem“
Der norwegische Autor Espen Dekko erzählt vom Umgang eines Kindes mit dem Tod (Buchcover Thienemann Verlag / Autorenportrait privat)
Wie erlebt es ein Kind, wenn ein geliebter Mensch stirbt? Was geht in ihm vor, und was braucht es in dieser schmerzhaften Situation? Diesen schwierigen Fragen geht Espen Dekko in seinem neuen Kinderbuch nach.
"Sommer ist trotzdem" heißt sein dritter Roman - und der Titel passt. Denn die elfjährige Protagonistin, deren Name bis zum Schluss unbekannt bleibt, verbringt den Sommer - nach dem Tod ihres Vaters - wie jedes Jahr bei ihren Großeltern am Meer. Es sind Ferien mit Bootsfahrten, Lachanfällen, Nusskuchen am Samstag und Salzwasser in der Nase. Mit aufgemalten Sommersprossen, Möwen und Kribbeln im Bauch.
Aber es passiert auch viel Schlimmes. Da sind die Gedanken an Papa, die einfach nicht verschwinden wollen, Klöße im Hals und Wut. Der Wal, den das Mädchen am Abend noch vor dem Stranden gerettet hat, liegt am nächsten Tag tot in der Bucht. Die Katzenbabys, auf die sie so freudig gewartet hat, kommen tot zur Welt, und bei einem Sturm auf hoher See fällt auch noch Opa ins Meer.
Trauer und Tränen zulassen
Doch am Ende sind es genau diese Verluste und Herausforderungen, die sie so sehr an ihre Grenzen bringen, dass sie ihre lang unterdrückten Tränen und ihre Trauer endlich zulassen kann.
"Ich gehe einmal um den Wal herum. Sein ganzer Rücken ist von Sand bedeckt. Ich versuche, ihn abzubürsten. Das geht nicht, der Sand ist festgetrocknet. Ich bleibe vor seinem Auge stehen. Es ist nicht so glasklar wie gestern. Es ist von einer trockenen Schicht überzogen. Im Augenwinkel sitzen die Fliegen. Ich verscheuche sie. Freche Fliegen. Jetzt verstehe ich, was Opa meinte. Ich kann es auch erkennen. Am Auge. Es ist leer. Keine Gedanken mehr. Der arme Wal. Während ich in meinem Bett lag und schlief, lag er hier im Sterben. Allein. Ich spüre den Klumpen in meinem Magen. Ich schlucke.
Wenn er eine Familie hat, hoffe ich, dass sie wissen, dass er tot ist. Damit sie nicht nach ihm suchen. Ich hoffe, sie waren heute Nacht hier und konnten sich verabschieden. Ich frage mich, ob große Tiere trauriger sind als kleine Tiere. Weil sie doch so groß sind? Wale und Elefanten und so. Bei Menschen ist es genau andersherum. Kinder weinen viel öfter als Erwachsene. Ich nicht. Ich will nicht. Das bringt eh nicht. Das weiß ich, weil ich es versucht habe. Tränen ändern nichts."
Hand halten hilft gegen alles
Ein schweres Thema, schmerzhaft schön erzählt. Besonders gelungen ist Dekko die Schilderung der liebevollen Beziehung zu den Großeltern, die dem Mädchen eine große Stütze sind. Da ist Opa, mit seinen tiefen, fröhlichen Falten, der ihr gute Laune macht, wenn sie es dringend braucht. Und Oma, die sie auch ohne viele Worte versteht und deren Hand zu halten gegen alles hilft.
"Oma streicht mir über die Wange. Atmet warmen Atem in meinen Nacken und legt beide Arme um mich. Sie drückt mich fest an sich.
,Atme ganz ruhig', sagt sie. ,Atme ruhig, mein Mädchen.'
Ich gebe mein Bestes. Aber mein Atem funktioniert nicht. Der macht gerade alles auf einmal. Oma hält mich ganz fest. Es tut so gut, so festgehalten zu werden. Zusammengehalten. Damit ich nicht zerberste."
Espen Dekko erzählt die Ferien-Erlebnisse aus der Ich-Perspektive der elfjährigen Protagonistin. Diese beobachtet, schweift dabei philosophierend ab, erinnert sich und vermittelt dem Leser mit kurzen, bildhaften Sätzen ihre intuitive Sicht auf die Welt. Durch die Nähe der Hauptfigur zur Natur und durch die Fragen, die sie sich stellt, lernen wir nicht nur ihre Wahrnehmung, sondern nebenbei auch ihr ganz praktisches Wissen über den Tod, Gerüche, das Atmen, Träume und Beerdigungen kennen.
Worte, die gesagt werden müssen
Espen Dekko schickt Leserinnen und Leser jeden Alters auf die gemeinsame Reise mit einem Mädchen, das Momente des schonungslosen Abschieds, des inneren Konfliktes und der seelischen und körperlichen Ohnmacht durchlebt. Aber immer wieder schafft er auch hoffnungsvolle Situationen, in denen das Mädchen sich geborgen fühlt, Spaß hat und glücklich ist. Wir erfahren, wie sich ihre Gefühle und Gedanken im Laufe der Tage bei den Großeltern wandeln und wie sie eine neue Perspektive auf den Tod ihres Vaters, auf die Beziehung zu ihrer daheimgebliebenen Mutter und auf ihre Trauer gewinnt – von: "Tränen ändern nichts" zu: "Tränen sind ein Anfang. Denn wenn wir die Tränen erst einmal zulassen, werden sie zu Worten. Worte, die gesagt werden müssen."
"Sommer ist trotzdem" ist ein Roman, der Kindern, die selbst Verluste erlitten haben, Mut machen und Trost spenden kann, aber auch Erwachsene anregt, das Thema Verlust durch die Augen eines Kindes zu erleben. Ein beeindruckender Roman über das Zusammenspiel von Trauer, Lebensfreude und Familienzusammenhalt.
Espen Dekko: "Sommer ist trotzdem"
Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe
Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart. 208 Seiten, 13 Euro, ab 10 Jahren.