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Bankiers und Kunstsammler, Komponisten und Philosophen

Die Geschichte der Mendelssohns reicht vom Philosophen Moses Mendelssohn, der zu seiner Zeit an Ruhm den Königsberger Immanuel Kant übertraf, bis hin zu seinem heute in Berlin lebenden Nachfahren, dem Historiker Julius H. Schoeps. Der hat sie nun aufgeschrieben, die Chronik seiner Sippe.

Von Hans-Joachim Föller | 10.08.2009
    Im Oktober 1743 machte sich ein vierzehnjähriger Jude aus Dessau auf den Weg in die preußische Hauptstadt Berlin. Er war bettelarm, aber lernbegierig und sehr begabt. Nichts deutete darauf hin, dass er einmal am Beginn einer Epoche stehen würde. Sein Name: Moses Mendelssohn, geboren in Dessau als drittes Kind eines Synagogendieners. Der junge Mendelssohn folgte seinem Lehrer David Fränkel, der sich seiner fürsorglich annahm. Zu dieser Zeit hatte Berlin etwa 100.000 Einwohner, darunter schätzungsweise 2000 Juden, die unter äußerst bedrückenden Verhältnissen lebten. Wie auch Moses Mendelssohn, der, als er in Berlin ankam, zunächst nicht wusste, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Er nutzte die Zeit, um unter anderem Deutsch lesen und schreiben zu lernen. Denn bis dahin konnte er lediglich Hebräisch und Jiddisch.

    Das musste heimlich geschehen. Die Rabbiner jener Zeit, die sich zumeist nur des deutsch-jüdischen Jargons bedienten, betrachteten jeden als Abtrünnigen, der sich deutsche Bildung aneignen wollte. Sie fürchteten, mit der deutschen Sprache dringe auch weltliches Wissen und damit Unglauben und Ketzerei in die frommen Gemüter ihrer Gemeindemitglieder. Sie bestraften jeden, der sich derartiger "Verbrechen" schuldig machte, mit Bann und Stadtverweisung. Das Recht dazu hatten sie von der weltlichen Obrigkeit erhalten.
    Diese Schwierigkeiten bremsten Moses Mendelssohn jedoch nicht. Teils autodidaktisch, teils durch die Unterstützung verschiedener Förderer erwarb er Kenntnisse in Latein, Englisch, Französisch und vor allem in Philosophie. Am Ende entwickelte er sich zu jenem bedeutenden Mann, dem sein Jahrgangsgenosse, Gotthold Ephraim Lessing, in seinem Stück "Nathan der Weise" ein Denkmal setzte. Sein Credo: Vor der Vernunft sind alle Menschen gleich. Moses Mendelssohn war jedoch nicht nur ein Vorreiter der jüdischen, sondern auch der deutschen Aufklärung. Sein Bekanntheitsgrad überstrahlte zu seinen Lebzeiten den seines heute berühmteren Zeitgenossen Immanuel Kant. Das verdankte der "deutsche Sokrates", wie Mendelssohn bisweilen genannt wurde, seinem eingängigeren Sprachstil und der leichteren Zugänglichkeit seiner Gedankenführung. Seinen Nachkommen schrieb er folgenden Spruch ins Stammbuch:

    "Wahrheit erkennen,/Schönheit lieben,/Gutes wollen,/das Beste tun" nannte der Ahnherr unserer Familie die "Bestimmung des Menschen". Wenn die Mendelssohns eine gemeinsame Maxime hatten, dann war es diese im 18. Jahrhundert formulierte Lebensweisheit. Die Nachkommen des Berliner Philosophen haben sie verinnerlicht. Wer sein Tun und Handeln an dieser Einsicht orientiere, sagte man sich noch nach Generationen, könne nicht schlecht fahren.
    Der Philosoph Moses Mendelssohn verkörpert bereits all jene charakteristischen Kennzeichen, die nach Ansicht des Historikers Julius Schoeps die gesamte Mendelssohn-Dynastie über 250 Jahre auszeichnen: Sie sind dem Neuen gegenüber aufgeschlossen, und sie treten für Toleranz und Verständigung ein. Ob Bankier, Musiker, Professor oder Protestant, Jude und Katholik. Julius Schoeps, einer der führenden Vertreter der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung, hat systematisch die Lebenswege von sechs Generationen der Mendelssohns analysiert: von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der 30er-Jahre des 20., als diese außergewöhnliche Geschichte einer deutschen Familie durch die Flucht vor den Nazis abrupt endete. Was in ihrer Heimat Deutschland zu dieser Zeit geschah, konnten viele der Mendelssohns nicht begreifen. Sie verstanden sich als Deutsche, insbesondere als patriotische Preußen und Berliner.

    Im bitteren Gefühl in Deutschland nicht mehr geduldet zu sein, fanden sich nicht nur zahlreiche Mendelssohns, sondern vor allem die Mitglieder des Familienzweigs Mendelssohn-Bartholdy plötzlich als Flüchtlinge an den verschiedensten Orten und in den unterschiedlichsten Ländern wieder. Die Fluchtrouten führten nach England, nach Schweden, in die Schweiz und nach Italien. Nur wenige entschlossen sich, nach Ende der Hitler-Diktatur in ihre einstige Heimat zurückzukehren.
    Einige Mendelssohns konnten jedoch bleiben. Sie hatten genügend sogenannte Arier unter den Vorfahren, waren deshalb als "Volksgenossen" anerkannt und dienten sogar in der Wehrmacht. Zu den verblüffenden Geschichten, die Julius Schoeps zusammengetragen hat, gehört die von Franz Mendelssohn, der sogar Mitglied der NSDAP war. Kennzeichnender für die Spätphase der Familiengeschichte ist jedoch eher das Schicksal des Bankiers, Mäzens und Kunstsammlers Paul von Mendelssohn-Bartholdy. Sein Wirken als Freund der Künste war bis zur Entdeckung durch Schoeps nicht bekannt. Als wagemutiger Sammler kaufte er Anfang des 20. Jahrhunderts Kunstwerke von Picasso, van Gogh, Cézanne, Degas, Toulouse-Lautrec. Damals umstrittene Werke gehören sie heute zu den Ikonen der klassischen Moderne. Detailliert beschreibt der Autor die Bemühungen von Paul von Mendelssohn-Bartholdy, seine Kunstwerke vor den Nazis zu retten. Doch war dem Sammler dabei kein Erfolg beschieden. Die Werke wurden in alle Welt verstreut. Noch heute hängen 16 dieser Bilder in bekannten Museen, zum Beispiel in New York, aber auch in Deutschland. Noch immer versucht die Familie, ihre Eigentumsansprüche geltend zu machen. In dieser Hinsicht musste sie noch andere bittere Erfahrungen machen: Deutsche Behörden weigerten sich, den Mendelssohn-Bartoldys ein Rittergut zurückzugeben, das ihnen zunächst durch die Nazis und dann durch die sowjetischen Besatzer genommen worden war:

    Die zuständigen Ämter nutzten dabei jedes Mittel, um die mögliche Rückgabe des Schlosses zu hintertreiben. Das Gebäude und das dazugehörige Gelände mit Wiesen, Äckern und Wäldern wurden als "junkerlicher" Großgrundbesitz eingestuft, womit das Anwesen der Mendelssohn-Bartholdys unter die Bodenreformmaßnahmen der SBZ in den Jahren 1945-48 fiel.
    Doch gibt es auch positive Zeichen. So bemühen sich die Stadt Berlin und die Bundesrepublik Deutschland um die Pflege des Mendelssohnschen Erbes. Erschwert wird dies jedoch dadurch, dass die Familie im öffentlichen Berliner Leben nicht mehr präsent ist, ebenso wenig ihr ideelles Vermächtnis. Mit seinem Buch hat Julius Schoeps der Mendelssohn-Dynastie und dem deutschen Judentum ein Denkmal gesetzt. Und dabei wie nebenbei die These des Religionsphilosophen Gerschom Scholem widerlegt, wonach die deutsch-jüdische Symbiose nur eine Selbsttäuschung der Juden gewesen sei.

    Julius H. Schoeps: Das Erbe der Mendelssohns. Biographie einer Familie. Das Buch mit 491 Seiten ist im S. Fischer-Verlag erschienen und kostet 24,95 Euro. Unser Rezensent war Hans-Joachim Föller.