Freitag, 19. April 2024

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Barbara Hahn: "Endlose Nacht"
Träume von Gewalt, Verrat und Tod

Über viele Jahre hat die Germanistin Barbara Hahn Träume von Autoren gesammelt und sie nun in ihrem Werk "Endlose Nacht" zusammengetragen. Viele davon drehen sich um die Schrecken des 20. Jahrhunderts, um die Weltkriege oder den Holocaust. Das Buch ist allerdings zu kurz, um in die Tiefe zu gehen.

Von Tabea Soergel | 09.03.2017
    Wolken am Nachthimmel
    Viele Schriftsteller des 20. Jahrhunderts träumten nachts von Kriegen oder anderen traumatischen Geschehnissen. (Karl-Josef Hildenbrand)
    "Das 20. Jahrhundert hat die Menschen in Situationen gezwungen, also, man wusste nicht, wie man mit diesen Situationen überhaupt umgehen sollte, wie man die verstehen soll, wie man begreifen soll, was einem da eigentlich passiert. Und wenn man keinen Begriff hat für etwas, dann muss man was erzählen. Und Träume kann man gut erzählen."
    Die Eindrücke von Erstem und Zweitem Weltkrieg, Konzentrationslagern und Gulags verfolgten und erschütterten die Menschen im 20. Jahrhundert bis in den Schlaf. Also begannen sie aufzuschreiben, was sie nicht vergessen wollten oder vergessen konnten. "Endlose Nacht" versammelt einiger dieser Aufzeichnungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus ganz Europa und Russland. Ergänzt werden sie um Auszüge aus Essays über das Träumen, Gedichte und Traumsequenzen aus Prosatexten.
    Traumarchiv als "historisches Material"
    An einer Stelle, früh im Buch, erklärt Barbara Hahn: "Im Traum öffnen sich Zugänge zu einem Wissen, das im Wachen verstellt bleibt." Und weiter: "Aufgeschriebene Träume bewahren dieses Wissen; ein Archiv dieser Träume birgt deshalb 'historisches Material'." Die Autorin erzählt die unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand von Traumtexten.
    Die erste entscheidende Frage, die sich ihr bei der Arbeit an diesem Buch stellte, war die nach seiner Form. Hahn entschied sich gegen eine wissenschaftliche Abhandlung und für einen Essay: Sie wollte nicht über, sondern, wie sie sagt, mit den Träumen schreiben, sie in einen größeren Kontext einbetten.
    "Und dann war natürlich das zweite riesige Problem: Wie strukturiert man das? Was für eine Art von Buch soll das geben? Und da spielt die Zeit noch mal eine ganz andere Rolle. Ich habe manchmal jahrelang gewartet, bis ich gemerkt habe, welche Träume miteinander irgendwie in Korrespondenz treten. Dieses Buch hat sehr viel mit Geduld zu tun. Und ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch, das hat mich in was reingezwungen, was manchmal wirklich auch ein bisschen unangenehm war."
    "Endlose Nacht" ist inspiriert durch die Annahme eines kollektiven Unbewussten, das sich in kollektiven Träumen niederschlägt. Angesichts der auffallenden Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Träumen ist dieser Ansatz evident. Besonders deutlich wird das in einem Kapitel, das sich mit dem Genre des Traumbuchs befasst. Autorinnen und Autoren wie Marguerite Yourcenar, Hélène Cixous, Paula Ludwig, Elsa Morante oder Graham Greene schrieben über Jahre ihre Träume nieder und veröffentlichten sie in Sammlungen.
    Gräuel der Weltkriege hinterließen Spuren
    Deutlich haben die Gräuel der Weltkriege ihre Spuren in diesen Aufzeichnungen hinterlassen; individuelle Momente von Zerstörung, Angst und Vernichtung verbinden sich bei der Lektüre zu einer universellen Erfahrung. Auch der französische Schriftsteller Georges Perec publizierte seine gesammelten Träume der Jahre 1968 bis 1971, die ihn immer wieder ins besetzte Frankreich zurückversetzten:
    "1941. Der Textilhändler hat Schulden bei meinem Vater und beschließt, ihn bei der SS zu denunzieren und gleichzeitig auch seinen Sohn (oder einen einfachen Angestellten), den man mit verbotenen Zeitschriften erwischt hatte."
    Im Traum wird Perec, dessen Mutter deportiert und ermordet wurde, schließlich in ein Vernichtungslager verschleppt – was ihm in Wirklichkeit nicht widerfahren ist. Und doch, schreibt Barbara Hahn, sei dies eine "wahre Erinnerung" an eine kollektive Gewalterfahrung. Beim israelischen Historiker Otto Dov Kulka hingegen wurden durch die Lektüre von Kafkas Geschichte "In der Strafkolonie" verschüttete Kindheitserinnerungen aus dem KZ Auschwitz-Birkenau in Form eines Traums freigelegt.
    "Ich wusste genau, was sich in dem Gebäude abspielte und zu welchem Zweck ich in diesen düsteren Bau gehen sollte. Mir war klar, dass innerhalb seiner Mauern dasselbe geschah wie in dem Gebäude, in dem sich in Birkenau die Gaskammern befanden, in die ich geschickt wurde und in die ich ging, aus denen ich entkam und in die ich wieder zurückgebracht wurde und immer so weiter."
    Kafka taucht immer wieder auf
    Kafka selbst tritt in Hahns Buch gleich mehrfach in Erscheinung: Einerseits als Urheber beeindruckender Traumaufzeichnungen, andererseits als Figur in den Träumen anderer Schriftsteller – möglicherweise weil Kafkas Texte selbst strukturiert sind wie Träume. Ein Kapitel der "Endlosen Nacht" widmet sich auch einzelnen wiederkehrenden Motiven: So gibt es immer wieder Träume von Menschenfleisch, von Betten, die zu Gräbern werden, oder von Verwandlungen in Tiere.
    In einer Vielzahl von Träumen aus der Zeit des Holocaust spielen auch Züge eine entscheidende Rolle – Züge, die vom Transportmittel zum Deportationswerkzeug wurden. Hahn teilt Hannah Arendts Ansicht, dass im Totalitarismus die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist. Im 20. Jahrhundert entstanden Hades, Fegefeuer und Hölle auf Erden in Form von Internierungs-, Arbeits- und Vernichtungslagern.
    "Das war natürlich auch eine ganz große Frage: Was passiert eigentlich im Traum, wenn man gezwungen ist, im Albtraum zu leben? Wo kann man denn dann überhaupt noch hingehen? Und deswegen habe ich mich ja auch intensiv mit Lagerträumen beschäftigt. Man ist gezwungen, im Albtraum zu existieren, vielleicht sollte man es überhaupt nicht 'leben' nennen. Und was geschieht dann eigentlich im Traum?"
    In ihren Träumen erschienen den Lagerinsassen Landschaften und Farben, in ihnen erfuhren sie noch Schönheit. Barbara Hahn widmet diesen, wie sie sie nennt, "lazarenischen" Träumen ein eigenes Kapitel. Wie Lazarus kehrten die Häftlinge im Schlaf von den Toten zurück. Ihre Träume hielten sie am Leben. In einer paradoxen Verkehrung fühlten sie sich im Wachen dagegen wie in einem schrecklichen Traum gefangen.
    Träume von Lagerinsassen
    Einem Essay von Jean Cayrol, der in Mauthausen interniert war, sowie Erfahrungsberichten aus sowjetischen Lagern von Julius Margolin und Eduard Kusnezow stellt Barbara Hahn ein Gedicht von Sylvia Plath zur Seite, in dem in einer ewigen Wiederkehr Lazarus als Jüdin im Vernichtungslager stirbt. Einer der beeindruckendsten Texte, die Hahn zitiert, stammt aus dem Buch "Was für ein schöner Sonntag!", in dem Jorge Semprún seine Erfahrungen im KZ Buchenwald verarbeitete:
    "Das Leben ist kein Traum, oh nein, ich war einer. Und zudem: der Traum von irgendjemandem, der seit langem tot sein sollte. Ich habe bereits, trotz seiner unbeschreiblichen Anstößigkeit, jenes Gefühl erwähnt, das mich im Laufe der Jahre mitunter befällt. Die ruhige und völlig verzweifelte Gewißheit, nur das Traumgespinst eines jungen Toten von einst zu sein."
    Diese Gewissheit begleitete ehemalige KZ-Häftlinge oft ihr ganzes Leben lang. Die in Nashville, Tennessee lehrende Germanistin Barbara Hahn interpretiert keines der Traumnotate psychologisch. Stattdessen nähert sie sich diesen Prosaminiaturen mit den Instrumenten der Literaturwissenschaft, arbeitet kenntnisreich Bedeutungsebenen heraus und zieht Verbindungslinien zu anderen Texten.
    Wechselwirkung von Träumen und Literatur
    Einer der spannendsten Aspekte ihres Essays ist die Wechselwirkung von Träumen und Literatur im 20. Jahrhundert. Denn nicht nur gehen Träume in fiktive Texte ein, sondern beeinflussen auch umgekehrt Texte die Träume – und auch Träume stehen in einer Tradition. Fast jedes Kapitel böte genug Substanz für ein eigenes Buch. Man wünschte sich, Barbara Hahn hätte sich auf einen einzelnen der vielen hochinteressanten Teilbereiche ihres Themas konzentriert und diesen eingehender behandelt.
    Der Versuch, in die Breite und zugleich in die Tiefe zu gehen, kann auf knapp 200 Seiten unmöglich glücken. So bleibt vieles angerissen. Und doch muss man das Verdienst der Autorin würdigen, die auf Dutzende Werke verstreuten Traumtexte aufgespürt und einem größeren Publikum zugänglich gemacht zu haben.
    Barbara Hahn: "Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt"
    Berlin 2016, Suhrkamp Verlag. 201 Seiten, 22 Euro.