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Barenboim-Said-Akademie
Ratio und Emotion in der Musik

Wie ist Musik entstanden? Das Gefühl spielt dabei für den portugiesischen Neurowissenschaftler Antonio Damasio eine wichtige Rolle. An der Berliner Barenboim-Said-Akademie diskutierte er darüber mit dem Dirigenten Daniel Barenboim - viele Rätsel über Musik und Emotionen bleiben ungelöst.

Von Julia Spinola | 06.11.2017
    Ein menschliches Körperteil mit Gänsehaut.
    Musik sei entstanden, glaubt Damasio, weil die Menschen entdeckten, dass man mit bestimmten Klängen bestimmte Effekte erzielen könne. (imago stock&people/Moritz Wolf )
    Wie ist all das entstanden, was wir unsere Kultur nennen? Warum hat der Mensch die Künste erfunden? Welchen evolutionären Zweck erfüllt so etwas Zweckfreies wie die Musik – eine vollständig immaterielle, nur aus Schallwellen und Zeit bestehende Kunstform, die uns doch zugleich im Innersten berühren kann?
    Der renommierte Neurowissenschaftler Antonio Damasio, bekannt durch den Bestseller "Descartes Irrtum", beschäftigt sich schon lange mit den menschlichen Emotionen. Ohne Emotionen, so lautet eine seiner Kernthesen, könne der Mensch gar nicht rational sein. Denn beides, Intellekt und Gefühl, gehörten unmittelbar zusammen. In seinem neuesten Buch geht Damasio nun noch einen Schritt weiter, indem er die Gefühle zum wichtigsten Movens unserer gesamten kulturellen Errungenschaften erklärt. "Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur" - lautet der Titel des Buches in der deutschen Übersetzung. Seine wichtigsten Thesen stellte Damasio gleich zu Beginn des Abends im Gespräch mit dem Dirigenten Daniel Barenboim vor.
    "Wir alle verfügen über die Fähigkeit zu empfinden und unsere Gefühle auszudrücken. Und es sind diese Gefühle, es ist diese Reihe von Gefühlen, die am Anfang stand und dieses große Kulturen-Gebäude motiviert hat. Das heißt nicht, dass der Intellekt nicht wichtig sei – natürlich ist er es. Alle großen kulturellen Erfindungen, die wir haben, sind das Ergebnis von Intelligenz und Wissen als Antwort auf bestimmte Bedürfnisse. Und auf diese Bedürfnisse sind wir durch die Gefühle gestoßen."
    Emotion ist nicht gleich Gefühl
    Wie soll man sich das vorstellen? Wie kann so etwas Diffuses wie ein Gefühl die Entstehung von Philosophie und Religion, von Kunst und Moralsystemen erklären? Um das zu verstehen, muss man zunächst Damasios Unterscheidung von Emotion und Gefühl nachvollziehen. Gefühle entstehen laut Damasio dadurch, dass der Körper seine eigenen biologischen Prozesse registriert. Ein Gefühl ist in Damasios Definition die bewusste Wahrnehmung eines emotionalen Körperzustands, der durch somatische Marker verursacht wird.
    So reagiert das Gefühl der Angst zum Beispiel auf einen Körperzustand, der anzeigt, dass eine Gefahr droht: Der Puls beschleunigt sich, die Haare stehen zu Berge, der Blutdruck steigt und die Muskeln spannen sich an. Das Gefühl der Angst liefert also ein Bild des erschütterten Organismus. Es zeigt an, dass etwas auf spezifische Weise aus der Balance geraten ist. Interessanterweise kann der emotionale Körperzustand, der diesem Gefühl zugrunde liegt, nicht nur durch eine reale Bedrohung, sondern auch durch den Gedanken an eine Bedrohung hervorgerufen werden. In diesem Sinn glaubt Damasio, dass unser Verhalten durch die biologischen Prozesse in unserem Körper geprägt wird. Die durch sie ausgelösten Gefühle, so argumentiert er, hätten unsere gesamte kulturelle Entwicklung provoziert, vorangetrieben und überprüft. Umso erstaunlicher sei es, dass heute allerorten die Unterdrückung der Gefühle gesellschaftlich gefordert würde. Antonio Damasio:
    "Es kam durch den Schmerz, das Leiden oder die Aussicht auf Wohlgefühl, dass menschliche Wesen, die dazu fähig waren, beschlossen, das Problem zu diagnostizieren und ein Bedürfnis in sich entdeckten, für das sie dann auf intelligente Weise eine Lösung fanden."
    Vom Einzeller zur Partitur
    Seine Forschungen zu den biologischen Wurzeln unserer Kultur haben Damasio auch dazu geführt, Vorstufen sozialen Verhaltens bei Einzellern zu entdecken. Manche Bakterienarten, so erklärt er, würden mit anderen Stämmen kooperieren, um eine Bedrohung gemeinsam abzuwehren, während andere einander bis in den Untergang hinein bekämpften. Sogar auf dieser Ebene eines ohne Bewusstsein ablaufenden biologischen Programms könne man also bereits komplexe Verhaltensstrukturen erkennen.
    Was aber hat das alles mit Musik zu tun, wollte Daniel Barenboim wissen, der – ein Musiker durch und durch – auch vier kurze Geigenstücke von Elliott Carter aufs Programm gesetzt hatte: dessen Lauds, zu Deutsch: Lobgesänge, für Violine solo entstanden zwischen 1984 und 2000. Von vier fabelhaften Studenten der Barenboim-Said Akademie wurden sie auf so suggestive und musikalisch höchst eindringliche Weise interpretiert, dass die beredte Kraft der Musik einmal mehr alle Theorie in den Schatten stellte.
    Die Einheit von Gefühl und Intellekt, die Damasio mit seinen Forschungen zu untermauern versucht, sie ist für den Musiker eine täglich und unmittelbar erlebte Realität. Barenboim erklärte das Wechselspiel von Gefühl und Ratio am Beispiel des Umgangs eines Interpreten mit einer neuen Partitur. Den ersten Gefühlsschock, den ein neues Stück im Musiker hervorrufe, gelte es zunächst durch die rationale Analyse des Notentextes zu begreifen. Doch im Moment des Auftritts müsse man das Gefühl zurückholen.
    "Wenn du auf die Bühne gehst, um das Stück zu spielen, musst du all das, was du über das Stück gelernt und studiert hast verinnerlicht haben, um in vielerlei Hinsicht das allererste Gefühl zu reproduzieren, das du bei dem Stück hattest. Sonst bist du kein Künstler. Das sage ich, um zu betonen, dass in der Musik Emotion und Gefühl nicht im Gegensatz stehen zur Rationalität. Ich erinnere mich an die Zeit als ich als kleiner Junge von zwölf Jahren bei Nadia Boulanger studierte. Sie fragte mich: Was glaubst Du, geht es in der Musik um Gefühle oder um Strukturen? Ich sagte: um beides. Ja, antwortete sie, da hast Du recht."
    Die zentrale Aufgabe des Künstlers sieht Barenboim also darin, eine Struktur mit Emotion zu füllen und umgekehrt, das eigene spontane Gefühl, das ein Musikstück hervorruft, vermittelt über die Analyse des Notentextes, rational zu durchdringen.
    Viele Rätsel nach wie vor ungelöst
    Insgesamt trug der Abend im Pierre-Boulez-Saal eher den Charakter eines anregenden Salon-Gesprächs, als den einer wissenschaftlichen Vorlesung. Man lauschte zwei langjährigen Freunden und ausgewiesenen Experten auf ihrem Gebiet, die in ihren glänzenden Karrieren bereits alles erreicht haben beim entspannten Gedankenaustausch über ihre Lieblingsthemen: Musik und Gefühl. Fragen nach der Subjektivität des musikalischen Empfindens, nach der spezifischen Gedächtnisleistung von Musikern oder nach der neurophysiologischen Erklärung für die Entstehung von Synästhesien wurden höchst anregend gestreift.
    Gerne hätte man etwas mehr erfahren über die ästhetische Relevanz des höchst komplexen und einzigartigen Zusammenspiels von Ratio und Emotion in der Musik, über die Beschaffenheit der Musik als einer ganz besonderen Erzeugungsinstanz von Emotionen, über ihre Sprachähnlichkeit. Doch von der Lösung solcher Rätsel scheint Damasio, wie die meisten seiner Kollegen auf dem Feld der Emotionsforschung, noch recht weit entfernt zu sein. Das zumindest entnahm man seiner Reduktion der Wirkung von Musik auf ein recht simples Reiz-Reaktions-Schema.
    Musik sei entstanden, glaubt Damasio, weil die Menschen entdeckten, dass man mit bestimmten Klängen bestimmte Effekte erzielen könne wie Trost, erotische Verführung oder die Mobilisierung von Massen. Dem gewaltigen Reichtum unseres musikalischen Erbes ist damit freilich nicht beizukommen.