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Barmer-Chef Fiedler sieht erste Erfolge der Gesundheitsreform

Zurheide: Die Gesundheitsreform, die hat einen hohen Wutfaktor. Wenn man ins Volk hineinhorcht, spürt man das. Wenn man die Umfragen sich anschaut, dann wird das bestätigt. So ist gestern noch mal bekannt geworden, dass 64 Prozent der Deutschen – das zumindest hat EMNID herausgefunden – wollen, dass die gesamte Gesundheitsreform rückgängig gemacht wird. Die zuständige Ministerin Ulla Schmidt verkündet zwar immer wieder, das alles sei auf einem guten Wege, wir hätten es nur noch nicht verstanden, aber dieser Wutfaktor ist eben sehr hoch. Über dieses Thema wollen wir reden mit einem, der sich ganz besonders gut auskennt und der mitmacht, einer der Akteure im Bereich des Gesundheitssystems. Ich begrüße Eckart Fiedler, den Vorstandsvorsitzenden der BARMER Ersatzkasse. Guten Morgen, Herr Fiedler.

Das Gespräch führte Jürgen Zurheide | 21.02.2004
    Fiedler: Guten Morgen, Herr Zurheide.

    Zurheide: Fangen wir zunächst mal an mit der Praxisgebühr. Da hat es ja sehr viel Ärger gegeben. Da gibt es immer noch Ärger. Auf der anderen Seite hören wir jetzt, dass die Zahl der Arztbesuche im Januar möglicherweise recht stark zurückgegangen ist. Eigentlich ja kein überraschendes Ergebnis, oder?

    Fiedler: Nein, das hat mich gar nicht überrascht, weil wir ja auch feststellen mussten, dass es im Dezember einen deutlichen Vorzieheffekt gegeben hat, insbesondere bei der Verordnung von Großpackungen, also schätzungsweise bei chronischen Erkrankungen. Das heißt, viele der Chroniker sind im Dezember zum Arzt, haben sich dort versorgt und gehen im Januar nicht mehr zum Arzt. Von daher gesehen, war es zu erwarten. Also die steuernde Wirkung der Praxisgebühr, das muss man noch ein bisschen abwarten. Ich gehe aber davon aus, dass sie durchaus schon eine steuernde Wirkung hat.

    Zurheide: Sehen Sie denn nicht die Gefahr – das wird ja hin und wieder beschworen -, dass die Menschen jetzt nicht mehr zum Arzt gehen, obwohl sie dahingehen müssten?

    Fiedler: Ja. Es kommt natürlich ein Problem dazu, dass die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel ja auch nicht mehr erstattungsfähig sind, jedenfalls nur noch mit Ausnahmen, die der Bundesausschuss noch festzulegen hat, und das kann natürlich schon dazu führen, dass die Selbstmedikation deutlich zunimmt. Das ist in gewissen Fällen bei geringfügigen Gesundheitsstörungen durchaus vertretbar und richtig, aber man muss eben sehr genau darauf achten, wo die Grenze liegt, dass sich nicht daraus eine schwerwiegende oder chronische Erkrankung entwickelt. Also da muss man schon, sage ich mal, appellieren, nicht zu spät zum Arzt zu gehen.

    Zurheide: Jetzt haben Sie gerade auch die Medikamente angesprochen. Da wird ja noch einiges geregelt werden müssen. Das versteht ja auch kein Mensch. Warum ist das nicht längst geregelt? Wer hat das nicht getan? Wer hätte es tun müssen?

    Fiedler: Also der Gesetzesauftrag lautet ja ganz klar so, dass dieser gemeinsame Bundesausschuss – das ist ein Ausschuss aus Ärzten, Krankenkassen, Zahnärzten und Krankenkassenvertretern unter Hinzunahme natürlich von Sachverständigen – sozusagen eine Liste festzulegen hat von sogenannten frei verkäuflichen Arzneimitteln, die eigentlich nicht mehr erstattungsfähig sind, aber bei schwerwiegenden Erkrankungen und wenn sie damit zum Therapiestandard gehören ausnahmsweise doch erstattet werden können. Diese Liste soll nach Gesetz zum 1. April vorgelegt werden, und daran arbeitet der Bundesausschuss.

    Das heißt, es gibt überhaupt derzeit keinen Zeitverzug, sondern von Anfang an war vorgesehen, dass im ersten Vierteljahr dieses Jahres die Ärzte weiterhin entscheiden können, ob sie in Einzelfällen, wo sie davon ausgehen können, dass es sich um schwerwiegende Erkrankungen handelt, weiterhin diese Arzneimittel zu Lasten der Krankenkassen verordnen.

    Zurheide: Bei den Arzneimitteln gibt es noch anderen Ärger. Dadurch, dass die Apotheken jetzt nur noch eine Pauschale beim Verkauf der Arzneimittel bekommen, ist manches drastisch teurer geworden. Auch das sorgt für Ärger. Oder sagen Sie, das wird dadurch aufgehoben, dass andere Dinge deutlich preiswerter werden?

    Fiedler: Ja, davon merkt der Patient nicht so viel, das ist schon richtig. Die billigen Arzneimittel sind verteuert worden, und dadurch steigt natürlich der Zuzahlungsanteil, der ja heißt, 10 Prozent, mindestens fünf Euro. Also ein Arzneimittel, das vorher nur vier Euro kostete, da hat er nur vier Euro bezahlt, jetzt zahlt er mindestens fünf Euro, weil der Apotheker insgesamt einen Zuschlag kriegt von 8,10 Euro, einen Rabatt kriegen wir noch darauf, und von daher dieses Arzneimittel, das vorher noch vier Euro kostete, jetzt wenigstens neun Euro kostet und damit werden die fünf Euro fällig.

    Umgekehrt werden die sehr teuren Arzneimittel billiger, und zwar deutlich billiger, so dass es sich unter dem Strich ausgleicht, denn man wollte den Effekt erreichen, dass auch der Apotheker ein Interesse daran hat, die billigen Arzneimittel abzugeben und dabei auch eine Beratungsleistung zu geben, und, na ja, das geht natürlich jetzt zu Lasten der Patienten. Andrerseits werden die teuren Medikamente billiger, und das entlastet dann die Gemeinschaft der Beitragszahler.

    Zurheide: Lassen Sie uns noch mal zurückkommen zu den Praxisgebühren. Es gibt ja hier und da Modelle von integrierter Versorgung. Die Kassen denken darüber nach oder bieten so etwas wie Hausarztmodelle und –Tarife an. Kann man da zum Beispiel auf die Praxisgebühr ganz verzichten? Es gibt ja vereinzelt solche Modelle.

    Fiedler: Also wir bieten an ein Modell für integrierte Versorgung bei speziellen Erkrankungen, wie zum Beispiel Hüftgelenkersatz, Herzoperationen, Kniegelenkersatz. Dort ist nicht nur eine besondere Qualität, die geleistet werden muss. Es ist auch noch eine Gewährleistung, die die Leistungserbringer uns und den Patienten. Der Patient hat auch noch den Vorteil, dass er dort die Zuzahlung zu 50 Prozent erstattet bekommt. Zum Beispiel kann man bei einer Herzoperation rechnen, dass man etwa 300 Euro Zuzahlung über alles zu leisten hat. Da kriegt er dann 150 Euro zurück. Das andere sind jetzt die Hausarztzentrierten Modelle, wo im Grunde genommen das Gesetz vorschreibt, dass wir dies anbieten müssen. Dort können wir dann die Praxisgebühr insgesamt entfallen lassen.

    Aber diese Modelle müssen noch im Kern von den Spitzenverbänden, also den Spitzenverbänden der Krankenkasse, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Kassenärztlichen Vereinigungen, vorbereitet werden, indem nämlich die besonderen Qualifikationsanforderungen an den Hausarzt definiert werden und auch die Vergütung. Erst wenn das vorliegt, können wir solche Modelle ausschreiben.

    Zurheide: Aber nochmals: Das heißt, da gibt es dann Modelle, die bestimmte Dinge von mir als Patienten verlangen, aber dann zahle ich zum Beispiel keine Praxisgebühr und habe vielleicht keine Zuzahlungen im Krankenhaus?

    Fiedler: Richtig. Also ich muss verzichten auf den freien Zugang zum Facharzt und muss mich stets über meinen gewählten Hausarzt überweisen lassen. Also mein Hausarzt kriegt damit die Lotsenfunktion, in der komplexen Medizin durchaus sinnvoll. Dafür kriege ich dann die Praxisgebühr erstattet. Es kann noch andere Modelle in der Frage der Reduzierung von Zuzahlungen geben. Das obliegt der einzelnen Kasse, da etwas anzubieten.

    Zurheide: Reicht denn das, was das Gesetz Ihnen bietet, um in der Tat zu neuen Formen der Versorgung zu kommen, die Qualität zu erhöhen, oder sagen Sie, an der einen oder anderen Stelle muss das Reformgesetz verändert werden, nachjustiert werden, egal welchen Begriff man nun dafür verwendet?

    Fiedler: Gut, ich sage mal, das Gesetz wird auf den Prüfstand Mitte des Jahres kommen, da wird man alles noch mal prüfen, aber man kann heute sehen, dass natürlich neben den Belastungen auch deutliche Verbesserungen kommen, gerade in Richtung Qualität. Was hier die integrierte Versorgung betrifft, da ist schon eine deutliche Bewegung zwischen den Kassen im Sinne eines positiven Wettbewerbs zu spüren. Integrierte Versorgung heißt, dass im Grunde genommen diese tiefe Graben zwischen ambulant und stationär überwunden wird, dass es zu einer sehr koordinierten, vernetzten Versorgung kommt, und dies auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Also das geht ganz klar in Richtung Vorteil des Patienten, das heißt, er kriegt eine optimierte medizinische Versorgung geboten, und das halte ich deshalb für sehr wichtig, weil wir ja wissen, dass wir international eigentlich sehr viel ausgeben, aber die Ergebnisse doch, sage ich mal, international unter dem Durchschnitt liegen.

    Zurheide: Also wenn ich Ihnen jetzt zuhöre, habe ich den Eindruck, Sie sehen das deutlich positiver als viele Menschen, die tagtäglich damit umgehen oder die als Patienten hier und da etwas bezahlen müssen.

    Fiedler: Das ist klar, weil die Patienten jetzt im Einzelfall durch Leistungskürzungen und höhere Zuzahlungen betroffen sind, und diese Modelle, die sich jetzt entwickeln und die ich natürlich im Überblick sehe, wo wir überall arbeiten – wir haben Hunderte von Modellen in den Vorbereitungen schon im Laufen -, das sieht der einzelne Patient nicht so sehr. Er merkt das erst im Laufe des Jahres, so dass ich auch mal abwartend sagen möchte, abwarten und Ende des Jahres sieht die Situation vielleicht schon besser aus, zumal dann auch noch mal – da bin ich fest von überzeugt – die Beiträge sinken werden.

    Zurheide: Das ist versprochen?

    Fiedler: Das kann ich nicht versprechen, aber das ist ganz klar meine Prognose.

    Zurheide: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.