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Barrikaden aus Buchstaben

In seinem neuen Roman "Die Stille" konzipiert Autor Reinhard Jirgl eine deutsche Familiengeschichte, die von deutschen Kriegen, deutschen Diktaturen und deutschen Zerrüttungen geprägt ist. Von romantischen Verheißungen oder heimatlichen Gefühlen lässt die düstere Szenerie wenig übrig.

Eine Besprechung von Helmut Böttiger | 14.06.2009
    Reinhard Jirgl ist in den letzten Jahren zu so etwas wie einem Markenzeichen geworden: er gilt als Musterbeispiel für Lesehürden und scheint geradezu Barrikaden zwischen sich und dem Leser aufgebaut zu haben, Barrikaden aus Buchstaben und Satzzeichen und Interjektionen. Jirgl ist das, wovor uns die Germanistikprofessoren immer gewarnt haben. Sein neuer Roman holt ganz weit aus, es ist ein Generationenroman über ein Jahrhundert hinweg, mit dem scheinbar leisen, doch im Lauf der Zeit immer dröhnender werdenden Titel "Die Stille". Und die bekannte Jirglsche Ästhetik wird auch hier wieder kompromisslos beschworen, der schonungslose Blick auf die Schlacken der Zivilisation und die Massen-Wohnblöcke in den Vorstädten:

    "Zellen der mittel-Losen, gestopft voll Fleisch im Gedummpfe von Ungewaschenheit & Geschlechtsteilen, mit untergründig wucherndem Schimmel & dem Gefauche haßzähniger Bevölkerung, ausgezerrte Sensorien, 1zig noch köteriges Plieren auf den-Nachbarn: die Wohn=Haft in Lebensaussatz-Vollstreckungs-Anstalten. !Wie sie=alle wuchern, Aus-Geburten in den betonierten Koben, & in wenig Augenblicken verhundertfachte Welt..... Hinter recht-winkligen Fensterscheiben erkennt jeder in jedem des Niemand's Nichts..... "

    Der 68-jährige Georg Adam besucht seine Schwester Felicitas im brachial heißen Sommer des Jahres 2003 in Berlin. Alles ist in das spezifische Licht der Satz- und Wortwelten Reinhard Jirgls getaucht, etwas Düsteres, schwarz Verschwommenes, in dem die Fatalität der deutschen Geschichte und ihre Auswirkungen auf das private Leben der einzelnen untrennbar verbunden sind. Mit Georg und Felicitas Adam wird der Leser dieses Romans in eine Familiengeschichte hineingezogen, die von deutschen Kriegen, deutschen Diktaturen und deutschen Zerrüttungen geprägt ist und nichts übriglässt von romantischen Verheißungen oder heimatlichen Gefühlen. Auf die unmittelbare Gegenwart bezogen heißt das:

    "Heimat ist wo der-Fernseher steht."

    Und für die Vergangenheit spielt ein Fotoalbum die entscheidende Rolle, das Felicitas ihrem Bruder gibt, um es dessen Sohn Henry in Frankfurt am Main mitzubringen. Dieses Fotoalbum sieht reichlich mitgenommen aus, manche Fotos sind herausgerissen, andere wiederum fast verblichen. Die ersten erhaltenen Bilder stammen noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie führen die Generation der Großeltern vor, die Familie Baeske in der Niederlausitz und die Familie Schneidereit in Ostpreußen, und die letzten Fotos zeigen Szenen aus der späten DDR. Der Roman Jirgls ist formal nach diesen Fotos gegliedert, von Foto eins bis Foto 100, doch die einzelnen Kapitel sind beileibe keine Beschreibungen dieser Fotos.

    Die Bilder wirken eher hineingestreut in eine turbulente und chaotische Handlung. Verschiedene Sprecherstimmen übernehmen dabei die Führung, oft unvermittelt geht die Rede von einer Person zu einer anderen über, und die Fotos haben auf den ersten Blick wenig damit zu tun, sie liefern vor allem einen atmosphärischen Hintergrund. Die kleinbürgerliche deutsche Familie war in Jirgls Romanen schon immer der Schauplatz für das existenzielle Desaster des einzelnen, und wenn Georg bei der Entgegennahme des Fotoalbums darüber nachdenkt, bekommt das sofort etwas Bedrohliches:
    "Also, Lizi, könnten wir uns jetzt noch 1 Mal Unsere=Geschichte auftischen – zum Letzten Mal, denn die im bräunlichen Licht langsam in den Abend sich neigende Stunde hat schon die Färbung jener Albumseiten angenommen – das von Gespenstern bevorzugte Schummerdüster, so verschwommen & dreckig wie das von-jeher auch alle Schuld & alle Wünsche sind."

    Georgs Frau Henriette ist vor drei Jahren gestorben, für Georg hat dadurch eine Art Endzeit begonnen. Die Gespräche mit seiner Schwester Felicitas, einer altjüngferlich-strengen protestantischen Preußin, liefern dazu die historische Tiefendimension. In mehreren Schlaglichtern taucht die Geschichte ihrer Eltern auf, und das entwickelt in seiner Stoff-Fülle alle Züge eines schaurig-grotesken Historienfilms. Die Szene spielt im deutsch-polnischen Grenzgebiet an der Oder, und August Adam, ein Binnenschiffer, schafft es im Jahr 1935, die Tochter des Wirts in Altendorf zu schwängern und zu heiraten – obwohl dieser Wirt ihn hasst.

    August Adam ist ein Träumer, ein Geschichtenerzähler, ein Phantast und Spieler – aber als Spieler sehr gut. Den Höhepunkt seiner Spielerkarriere inszeniert Jirgl wie einen Hollywoodklassiker: Der unterschätzte Kindskopf August Adam, der von der großen weiten Welt träumt und von einem mondänen Tanzschiff, mit dem er bis nach Hamburg schippern kann, tritt in einer Pokerpartie gegen einen Fabrikanten an und zieht am Schluss die entscheidende Pique Dame. Zuhause wartet seine Frau auf ihn, und sie inszeniert es immer wie ein Fest, wenn ihr Mann von seinen langen Fahrten auf der Oder wieder einmal in den Heimatort zurückkommt:

    "Sehe Mutter in ihrem schönsten Kleid, dem hellblauen das zu ihrem braunen Haar so gut paßte, aber sie trug dieses Kleid so selten, weil es guter Stoff war u so feierlich aussah.
    Mutters Augen glänzten wie ihre Wangen vor Glut und sie huschte über-Stunden-hinweg durch alle Räume und hinterließ diesen Duft nach einer pflanzlichen Frische, herb u scharf, wie von eben gepflücktem Löwenzahn, u aus dem dünnen fleischfarbenen Stengel an der Bruchstelle das Tröpfchen Pflanzenmilch – und ihre bloßen Arme rochen nach grünen Äpfeln."

    August Adam investiert seinen Pokergewinn tatsächlich in ein neues Schiff und schwelgt in Champagner- und Havanna-Träumen. Doch es ist der falsche Zeitpunkt: als der Zweite Weltkrieg beginnt, ist mit einem beschwingten Ausflugs- und Tanzschiff auf der Oder kein Gewinn mehr zu machen, und die Gläubiger rücken ihm auf den Leib, im wörtlichen Sinne: am Heiligen Abend des Jahres 1939 sammelt sich eine Meute vor seinem Haus, angeführt von dem Schwiegervater, der ihn schon immer verabscheut hat, und es kommt zu einer Messerstecherei, bei der sich Schwiegersohn und Schwiegervater gegenseitig umbringen.

    "Mutter tritt aus dem Haus in den Garten, ihr blaues Kleid überm Arm. Draußen, ich rieche noch den lauchfrischen Wind, 1 aprilheller Tag, der Himmel flutend in Blau, so dass der Kleiderstoff aussah wie aus Himmel geschnitten. Ich rannte auf sie zu - , prallte gegen die steinesstumme Entschlossenheit Einerfrau wie gegen eine Wand, festgemauert, ohne Fenster, ohne Tür. Auch ich still jetzt, - Angst. Wollte fort, aber rührte mich nicht. Mutter legte schließlich das Kleid sorgsam auf ein unbestelltes Beet, dann goß sie Spiritus drüber hin, - die Flammen verbrannten das einzige Festtagskleid, das sie=besessen hatte. Anderntags fand man unsere Mutter im Fluß. An derselben Stelle, wo der-Mob letzte Weihnacht ihren Geliebten=Mann, unseren toten Vater, wien totes Vieh ins Wasser geworfen hatte."

    Der Autor unterfüttert melodramatische Momente mit historischer und sozialer Präzision: Alles ist aus der Perspektive der Figuren heraus erzählt, in monologischen Schüben, und hat dadurch eine mündliche Unmittelbarkeit. Entsetzen und Ekel erscheinen in genauso grellen Farben wie die wenigen Momente der Sinnlichkeit und der Lust. In Jirgls Text tritt keine vermittelnde Erzählerstimme zwischen die Figuren, hier gibt es keine Instanz, die die handelnden Personen einführt und beobachtet. Alles prallt direkt aufeinander. Der stilisierten Mündlichkeit entspricht auch in diesem Roman wieder Jirgls eigenwillige Rechtschreibung und Zeichensetzung.

    Die formale Konstruktion gehorcht auf hypergenaue Weise eigenen Gesetzen und macht sich dadurch als eine extreme, in sich geschlossene Kunstwelt kenntlich – sie schottet sich von der geläufigen Sprache genauso ab wie von den gewohnten literarischen Formen. Jirgl lässt darüber hinaus auch seine Figuren über den Zusammenhang von Sprache und Form reflektieren, er führt seine Linien konsequent zu Ende. So sagt einmal Georg über seinen Sohn Henry, der Germanistik studiert hat:

    "Kein Hilf's Verb ließ er in seinem Erzählen aus, mein stud. Pri-muss "Sohn", auch mit dem Dativ-e sparte er nicht, beinah meinte ich die Kommata zu hören, die zu vergessen od zu übersprechen ihm unverzeihlich erscheinen dürfte. Er verwandelte die deutsche Sprache zu klapperigen Gefügen, kleinlich pedantisch & Recht=haberisch, das tönte wie 1 Zwergenschmiede für Vorgartenschmuck & roch nach Klebstoff & schwachem Strom wie elektrische Eisenbahn."

    Soweit darf man hier der Figurenrede Reinhard Jirgls durchaus trauen: Mit den "Zwergenschmieden" und dem "Vorgartenschmuck" eines weit verbreiteten Literaturverständnisses will er auf radikale Weise nichts zu tun haben. Dazu gehört auch, dass er alle möglichen Trivial-, Science-Fiction- und Unterwelten genauso in sein Textsystem einbaut wie politische und erkenntnistheoretische Suaden. Er huldigt auch ausgiebig dem Kalauer: Eine Akademikerin taucht als eine Halbnärrin auf, als eine "Semi-Narristin", und die Machenschaften der Banken in Frankfurt am Main werden, mit dem englischen Wort "Money" für "Geld", als "Moneypulationen" bezeichnet.

    Jirgl tut oft weh. Aber das entspricht genau seinen Intentionen: Er vermittelt Geschichte von unten, er seziert die Wahrnehmungsweise der Kleinbürger und der zersprengten Kleinfamilien. Es gibt bei ihm keine Esoterik, keine Sentimentalität, nichts Höheres. Und die gemeinhin hochgeschätzten Dienstleistungsqualitäten einer Unterhaltungsliteratur unterläuft er geradezu hohnlachend. In einigen Dialogen und Dramoletten, die in den Monolog-Kaskaden dieser Prosa mitschwimmen, wird eine Nähe zu Heiner Müller deutlich, dem einzigen Lehrer, den dieser Autodidakt einmal hatte. Jirgls Geschichtsbild ist eng mit demjenigen Müllers verwandt:

    "Du wirst !niemals bekommen, was du haben willst – du wirst nur bekommen, was du !brauchst."

    Das Geschichtsbild dieses Romans wird am deutlichsten in der mütterlichen Linie von Georgs Familie: Sie ist im brandenburgischen Thalow ansässig, und in jeder Generation muss die Familie auf neue Weise um ihr Haus kämpfen – sei es, dass es während des Nationalsozialismus militärisch genutzt werden, während der DDR enteignet oder im Nachwendedeutschland dem Braunkohletagebau weichen soll. Im Roman werden die Beschwerdebriefe der Familie an die jeweiligen Behörden parallel gesetzt, und nur die spezifischen Begriffe und die Grußformeln unterscheiden sich: Heil Hitler, Mit sozialistischem Gruß, Mit freundlichen Grüßen. Und die deutsche Geschichte wird sehr beredt in der Entwicklung des Ladengeschäfts, das Werner Baeske, der Vater von Georgs Frau Henriette, Anfang der 20er-Jahre in Mathildenburg bei Berlin eröffnet.

    Er stößt zunächst auf die erbitterte Feindschaft der alteingesessenen Bürger. Als er die Inflation richtig einschätzt, die Waren in seinem Vorratskeller hortet und sie später mit großem Gewinn verkaufen kann, wird er von den verarmten Bürgern, die sich verkalkuliert hatten, umworben. Dann wendet sich das Blatt jedoch noch einmal, und dieselben Bürger sind als Nazis plötzlich wieder obenauf.

    "Nur war in den Letztenmonaten vor dem Dreißigsten Ersten Neunzehn Dreiunddreißig von den-Behörden den-S.A.-Leuten das Tragen ihrer Uniform in der Öffentlichkeit verboten. So schlichen sie einzeln allabendlich=in-Zivil die Stufen ins Kellerlokal hinab, dort aufs Klo & legten erst hier=Unten, wie Transvestiten zum Tunten-Carne-val ihre Strapse Glitzer-fummel Perücken & Stöckelschuhchen, die heimlich=mitgebrachten S.A.-Uniformen Schildmützen & die Hakenkreuz-Binde an zum Abschied-vom-Fleisch. Razzien brauchten SIE während Dieserstunden=im-Keller längst nicht mehr zu fürchten – der-Altestaat lag todkrank in den Letztenzügen..... –Doch Werner hatte sehrwohl zu fürchten diese Dekade Todfeinde=von-einst aus Schlechtentagen; nun sind SIE wieder !da, schwimmen auf der neuesten Staatsbrühe wie Fettaugen oben=auf & haben Nichts vergessen. SIE sind zu Neuem Reichtum gekommen nicht zuletzt durch Enteignung anderer unliebsamer Kaufleute – zumeist Juden -, auch Bankhäuser haben SIE "übernommen", deren Vermögen konfisziert & damit auch so mancher Schulden kurzerhand gestrichen. Judenfrei = Schuldenfrei. : Politik kann sehr spaßig..... sein. "

    Der monströsen gesellschaftspolitischen Situation in diesem Deutschland des 20. Jahrhunderts entspricht das Monströse in den familiären Strukturen. Werner Baeske, der Ladenbesitzer, hat die ganze Zeit über ein Verhältnis mit Isolde, der Frau des Bankpräsidenten und früheren Freundin seiner Ehefrau Johanna. Beide agierten vorher als Gesellschaftsdamen in einem hochherrschaftlichen Hause. Werner musste die weitaus weniger ansehnliche Johanna heiraten, nachdem er eine Liebesnacht zu dritt mit ihnen verbracht hatte. Die hübschere Isolde ist allerdings Jüdin, und das führt in den späten 30er-Jahren zur Katastrophe: Der Bankpräsident lässt sich von ihr scheiden – damit endet auch die Liaison mit Werner, und Isolde wird im KZ Theresienstadt umgebracht.

    Jirgl erzählt in diesem Roman viele einzelne Geschichten, die anderswo alle das Zeug zu einem eigenen Buch hätten. Das geheime Zentrum, und das Zentrum der Tabus, bildet dabei die Geschichte eines Inzests. Henry, der Sohn Georg und Henriette Adams, ist nämlich nicht die Frucht dieser offiziellen Ehe, sondern das Produkt eines schwülstigen, im rauschhaften Duft eines Jasminstrauchs vollzogenen Beischlafs zwischen Georg und seiner spröden und kalten Schwester Felicitas. Beschrieben wird dies naturgemäß in einer Mischung aus Pornographie und Schauerromantik, aus schwarzem Kitsch und Gothic Novel. Und die Handlungsstränge verknäueln sich bei Jirgl so wie in den handlungsstarken Vorbildern aus bürgerlicher Frühzeit: Der Dorfpfarrer, der die Vollwaisen Georg und Felicitas als Kinder bei sich aufgenommen hatte, vertuscht das Ganze und jubelt das Kind Henry Georgs rechtmäßiger Frau Henriette unter. Das gelingt umso besser, da Henriette fast gleichzeitig ein legitim gezeugtes Kind Georgs zur Welt bringt, mit Namen Corinna. Henry und Corinna gelten fortan als Zwillinge.

    Langsam erfährt man also in diesem Roman, was es bedeutet, wenn Felicitas Georg dazu nötigt, das ominöse Fotoalbum der Familie ihrem Sohn Henry nach Frankfurt am Main mitzubringen: Henry will in die USA verschwinden und nie mehr zurückkehren. Doch er entkommt seiner ursprünglichen Bestimmung nicht, dem Schicksal seiner Familie. Der Autor Jirgl schichtet auch hier, auf der Gegenwartsebene, Handlungselemente aufeinander, die man gleichzeitig als finsteres Rührstück, als Kolportage und als existenziell aufgeladene Sprachartistik lesen kann. Georg hasst seinen Sohn Henry, da dieser ihn immer daran erinnert, wie er gezeugt wurde, und die beiden geraten am Mainufer aneinander und lassen sich in eine Auseinandersetzung mit jugendlichen Drogendealern mit "Migrationshintergrund" verwickeln, wie es im Polizeibericht heißt.

    Georg wird schwer verletzt. Er überlebt zwar, stellt aber das Sprechen ein und geistert durch das Ende des Romans als eine große Chiffre. Jirgl, der für seine apokalyptische Szenarien des Ostens und der DDR bekannt geworden ist, findet ebensolche glühenden Bilder auch für die unmittelbare Gegenwart und für den Westen, zum Beispiel für Frankfurt am Main:

    "Die Mainufer, künstlich begradigt & befestigt, kaum höher scheinend als 1 Bordsteinkante, - so bietet der korsettierte Fluß-selber den Anblick einer breiten, asfaltierten Chaussee – ohne Menschen, ohne Fahrzeuge, in Finsternis belassen u leer. – Vielleicht zweihundert Meter weiter über den Fluss sich streckend die "Friedensbrücke" – ihre Kanten leuchtend konturiert vom selben kaltglühenden Blau wie das Geschäftshochhaus mit dem zungebläkenden Firmenzeichen, als hätte 1 Schulkind dies gemalt & aus Bequemlichkeit für beides, Firmenhaus & Brücke, dasselbe Blau aus dem Tuschkasten verwendet. – Wir bleiben stehn auf dem kleinen gemauerten & umzäunten Plattformviereck am Rand des Mains, sehen die Stadt: Als stützten Metallröhren glitzernd mit winzigen Tröpfchen beschweißt im hitzigen Dunkel die tief herabgedrückte Decke Eineshimmels ohne Regen ohne Wind. Starr u verschlossen Dienacht, eine Kammer aus Blei. Frankfurt die Bleistadt."

    Georg, die stumme Erscheinung, Henry, der Sohn, der auf eine Katastrophe zusteuert, Dorothea, Henrys Frau, die am Schluss als eine unvorhergesehene Amazone in Erscheinung tritt: Der Roman mündet in einen regelrechten Showdown. In diesem Panorama des 20. Jahrhunderts hat Reinhard Jirgl seine Themen noch einmal breit aufgefächert, und er zeigt sich wieder als großer Einzelgänger, der gegen jeglichen Common Sense verstößt und all das entfaltet, was untergründig als gesellschaftlich Unbewusstes existiert. Er hält allen einen schwarzen Spiegel vor und scheut vor keinerlei Mythen zurück – den großen der Antike wie den kleinen unserer Talkshow- und Fantasykultur.

    "Und weil immer=zu-Allenzeiten Blut in Überfülle zum Vergießen bereit ist, gehen sie – die rückgekehrten Toten u Verschwundenen = die Immer=Menschen aus Fleisch Knochen mit neuem Blut & neuer Haut – fort=an wirklich auf dieser Erde, die sie eigentlich niemals verlassen haben, umher. Und sie kehren nicht 1fach nur ihre Vergangenheit wieder hervor: Dadurch, dass sie !wirklich !geblieben sind, bringen sie auch Geschichten mit, die noch gar nicht gewesen sind, weil sie erst Morgen beginnen werden – aber aussehen werden sie täuschend ähnlich den Altengeschichten, weil niemand bemerken soll, dass es das verheißene Morgen niemals geben wird."


    Reinhard Jirgl: Die Stille
    Hanser Verlag, München
    533 Seiten, 24,90 Euro