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Lesbos
Psychologischer Notstand im Flüchtlingscamp

Viele der Menschen im überfüllten Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos haben Grauenhaftes erlebt, bräuchten verstärkte Zuwendung. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" leistet hier psychologische Hilfe. Doch der EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei produziere ständig weiteres Leid, kritisiert eine Psychologin.

Von Michael Lehmann | 27.03.2018
    Lager von Moria auf Lesbos
    Im Flüchtlingslager von Moria auf der griechischen Insel Lesbos warten die Menschen zusammengepfercht seit Monaten in Wohncontainern und Zelten auf ihr Asylverfahren (LOUISA GOULIAMAKI/AFP)
    Viereinhalbtausend Menschen hinter Stacheldraht. Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ist weiter heillos überfüllt. Drumrum frühlingsgrünes Gras, Blumenwiesen und Olivenbäume. Im Lager warten die Menschen zusammengepfercht seit langen Monaten in Wohncontainern und Zelten auf ihr Asylverfahren. Es gibt nur wenige Duschen, zu wenige Toiletten. Die Versorgung ist miserabel für die Geflüchteten. Gewalt und enormer psychischer Druck sind Alltag.
    Frust entlädt sich vor allem unter jungen Männern regelmäßig mit Gewalt. Monika Gattinger Holboeck arbeitet als Psychologin und Psychotherapeutin im Team von "Ärzte ohne Grenzen". Sie trifft auf Geflüchtete, die versucht haben, sich selbst umzubringen. Manchmal 10 oder gar 15 Fälle täglich, sagt die Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Psychologin Gattinger-Holboeck diagnostiziert vor allem posttraumatische Belastungsstörungen – zum Beispiel bei einem 19-jährigen Syrer, der zwei Jahre in seiner Heimatstadt Rakka IS-Terror am eigenen Leib erfahren hat:
    "Er hat mit ansehen müssen, dass sein kleiner Bruder vor seinen Augen geköpft wurde. Unter anderem hat er diese Scheinhinrichtungen erlebt: Er musste vor einer Gruppe knien mit verbundenen Augen. Es ist geschossen worden und er wusste nicht, ob er tot oder lebendig ist. Er musste fliehen."
    Psychologin Monika Gattinger-Holboeck (rechts) mit einer Kollegin in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos
    Psychologin Monika Gattinger-Holboeck (rechts) mit einer Kollegin in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos (Deutschlandradio/ Michael Lehmann)
    Hilfe mit Gesprächen und Medikamenten
    Die klinische Psychologin aus Salzburg ärgert sich, dass in ihrer Heimat und in anderen reicheren europäischen Ländern weiter vor allem über angebliche Wirtschaftsflüchtlinge gesprochen wird. Ihr syrischer Patient, so erzählt sie, sei in Lebensgefahr gewesen, als er die Heimat verlassen musste:
    "Er ist dann in die Türkei geflohen, dort wurde er wieder eingesperrt, was für ihn ein Horror war, denn er wurde dort auch wieder geschlagen. Und er ist schließlich dann hier gelandet."
    Als sich der junge Syrer in seinem Container in Moria mit einem Messer versucht hat umzubringen, half ihm ein Mitbewohner in letzter Minute. Und die Salzburger Psychologin schaffte es, ihn mit Gesprächen und Medikamenten wieder halbwegs ins Lot zu bringen.
    Das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei produziere ständig ähnliche Schicksale, sagt die österreichische Psychologin auf Lesbos. Immer wieder erzählen ihr geflüchtete Frauen, dass sie große Angst hätten, nach erfolglosem Asylverfahren wieder in die Türkei zurück zu müssen:
    "Für Frauen ist die Türkei oft sehr gefährlich aufgrund dieser Zwangsprostitution. Viele haben das erlebt. Sie werden eingesperrt und wirklich als Prostituierte verwendet. Für die Geflüchteten hier ist es eine Horrorvorstellung, in die Türkei abgeschoben zu werden. Die sind wirklich in Panik."
    Nur in seltenen Fällen werden selbstmordgefährdete Flüchtlinge aus Moria verlegt in Lager auf dem Festland oder in das gut ausgestattete Camp Karatepe auf Lesbos.
    Neue Klinik nimmt Betrieb auf
    Der Druck auf der Insel wird möglicherweise nochmal steigen in den nächsten Wochen, wenn wieder mehr Flüchtlingsboote über die Ägäis kommen. "Ärzte ohne Grenzen" fährt in diesen Wochen den Betrieb seiner neuen Klinik an: Ein Haus, in dem Menschen nach Selbstmordversuchen oder Panick-Attacken in einem nagelneuen Behandlungszentrum Hilfe bekommen. In einem ruhigen Wohnviertel im Hauptort von Lesbos, Mytilini, stehen jeden Tag Psychologen, Therapeuten und Helfer für dutzende Patienten bereit.
    Die Klinik und die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen hält auch Boris Cheshirkov , der Koordinator des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, für extrem wichtig:
    "Orte wie Moria sind geschaffen worden als Registrierzentren, wo Flüchtlinge möglichst schnell erfasst werden. Aber sie sind Flüchtlingsherbergen geworden. Zusätzlich haben wir Sommer viel mehr Neuankünfte auf den Inseln gehabt. Viele Familien aus Syrien und dem Irak sind gekommen – und davon viele besonders verletzliche Menschen, die verstärkte Zuwendung bräuchten."
    Er glaubt, dass die Lage von Flüchtlingen auf Lesbos und den anderen Inseln mit Registrierzentren noch lange angespannt bleiben wird.
    Monika Gattiner Holboeck, die Psychologin aus Salzburg, wird noch ein paar Wochen mithelfen auf Lesbos. Sie bildet auch das Team in der neuen Klinik von "Ärzte ohne Grenzen" mit aus und findet, dass es sich dafür gelohnt hat, in Österreich als Psychologin einer Uniklinik ein wenig früher in den Ruhestand zu gehen:
    "Ich bin nicht aufs Geld angewiesen. Ich mach das wirklich einfach, weil ich was Sinnvolles machen möchte für Menschen, die es gut brauchen können."