Freitag, 19. April 2024

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Beate und Serge Klarsfeld
Bereit sein, Widerstand zu leisten

Sie waren jahrzehntelang und weltweit auf der Jagd nach Nazi-Verbrechern - Beate und Serge Klarsfeld. Im Gespräch mit dem DLF formulieren sie eine Botschaft an die Jugend Europas: Bewahrt den Frieden, geht wählen, unterstützt Parteien der Mitte und nicht Extreme, leistet Widerstand gegen Antisemitismus und autoritäre Regierungen.

Beate und Serge Klarsfeld im Gespräch mit Jürgen König | 26.03.2020
Beate und Serge Klarsfeld
Beate und Serge Klarsfeld (dpa/ picture alliance/ abaca)
"Wir sind ein Familienbetrieb", so hat es Serge Klarsfeld vor wenigen Jahren formuliert: "Wir sind immer bei der Arbeit und immer zusammen."
Es ist ein etwas ungewöhnlicher Familienbetrieb: Beate und Serge Klarsfeld jagen Nazis. Beate, die nicht-jüdische Deutsche, die als Au Pair in Paris Serge, den in Bukarest geborenen Juden, kennenlernte: Sie ist in Deutschland berühmt für die öffentliche Ohrfeige, die sie 1968 dem Kanzler der großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, für seine nationalsozialistische Vergangenheit gab.
Doch war diese Ohrfeige nur der Höhepunkt einer Kampagne, die auf Forschungsarbeiten fußte: Kein Skandal ohne Recherche, das war die Idee. Serge, der Anwalt und Historiker, und Beate Klarsfeld haben in den Archiven Europas jedes Dokument umgedreht, das ihnen Hinweise auf Verstrickung und Mittäterschaft im Nationalsozialismus lieferte. Sie haben dafür gesorgt, dass Deutschland NS-Verbrecher an Frankreich auslieferte. Die Liste der Männer, die von den Klarsfelds aufgespürt und vor Gericht gebracht wurden, ist beträchtlich, darunter etwa Klaus Barbie, der "Schlächter von Lyon".
Die Klarsfelds wollten Frankreich darüber aufklären, welchen Anteil es durch Kollaboration am Holocaust hatte. Und doch haben sie stets betont, dass viel mehr Franzosen Juden geschützt und versteckt haben, statt sie zu denunzieren und auszuliefern. Heute sind die Klarsfelds 81 und 84 Jahre alt. Jürgen König hat in Paris mit ihnen gesprochen.
Serge Klarsfeld (r) und seine Frau Beate Klarsfeld in der Shoah-Gedenkstätte in Paris (Frankreich): Die Ausstellung über die beiden "Nazi-Jäger" wurde am 7.12.2017 eröffnet.
Serge Klarsfeld (r) und seine Frau Beate Klarsfeld 2017 in der Shoah-Gedenkstätte in Paris, wo eine Ausstellung über die beiden "Nazi-Jäger" eröffnet wurde. (dpa / picture alliance / Michel Euler)
Auf den ersten Blick – Das berühmte Liebespaar
Jürgen König: Beate und Serge Klarsfeld, diese Namen werden sehr, sehr oft in einem Atemzug genannt. Sie sind, wenn ich so sagen darf, ein berühmtes Paar. Beginnen wir also mit diesem Paar, Beate und Serge Klarsfeld. Monsieur Klarsfeld, wo haben Sie Ihre dann spätere Frau zum ersten Mal getroffen?
Serge Klarsfeld: Das war am 11. Mai 1960, dem Tag, an dem Eichmann von den Israelis entführt wurde. Und ich wurde von Beate entführt - in der Metro, an der Porte de Saint-Cloud. Ich war auf dem Weg zur Sciences Po, sie war auf dem Weg zur Alliance Francaise, wir waren also unterwegs in dieselbe Richtung. Als wir an der Metrostation Michel-Ange – Molitor umgestiegen sind, haben wir die gleiche Treppe genommen. Und noch bevor der Metrowagen die Station erreicht hat, habe ich Beate angesprochen. Das ist der Moment, habe ich mir gesagt. Ich habe sie gefragt, ob sie Engländerin sei, obwohl sie mir eher deutsch schien. Sie hat geantwortet: Nein, ich bin Deutsche. So hat unsere Unterhaltung begonnen. Und nach ein paar Stationen hatte ich ihre Telefonnummer und habe sie einige Tage später angerufen. Wir sind ausgegangen, waren im Kino, im Bois de Boulogne spazieren. Und nach einer Weile haben wir geheiratet. Voilà, ganz einfach. So war das.
Jürgen König: Das klingt sehr schön, Monsieur, das klingt wie eine Liebe auf den ersten Blick. War es das?
Beate Klarsfeld: Das war es, sicher, auf den ersten Blick. An der Alliance Francaise traf man im Allgemeinen vor allem ausländische Studenten, und für mich war es auch ein Anliegen, wenn ich schon in Paris bin als Au Pair-Mädchen, mich auch mit einem Franzosen zu unterhalten. Und die Gelegenheit war: Ein Franzose quatschte mich in der U-Bahn an. Ein sehr schöner Mann, sehr gut angezogen, er hatte danach eine Veranstaltung und sah wirklich sehr, sehr gut aus.
Jürgen König: Beate, Sie sind Jahrgang 1939, Tochter eines Wehrmachtsangehörigen, in Berlin geboren. Wie würden Sie Ihre Kindheit und Jugend beschreiben?
Beate Klarsfeld: Wie bei all meinen Freunden. Geboren 1939. Die Wohnung wurde ausgebombt. Wir mussten aus Berlin fliehen. Mein Vater war, wie ich sagte, als Soldat eingezogen worden. Er hatte das Glück gehabt, dass er krank wurde, eine doppelte Lungenentzündung, und nicht an die Ostfront geschickt werden musste. Er verbrachte seine Zeit in einem Büro. Die Wohnung wurde ausgebombt. Wir wurden von einer Familie zur anderen gebracht, wo wir unterkommen konnten. Nach dem Kriege, würde ich sagen, wohnten wir Gott sei Dank in Westberlin, aber ich hatte auch viel Verwandtschaft in Ostberlin. Also ich hatte die Möglichkeit, von einem Teil zum anderen zu gehen. Die Ruinen waren ja überall, in West- und Ostberlin. Und für mich war das eben das, die Deutschen haben den Krieg ausgerichtet, und sie müssen heute sehen, was da rausgekommen ist.
Ich habe das jedenfalls sehr gut gespürt durch die Tatsache, dass man dort in den Ruinen lebte. Aber meine Eltern, auch die anderen Bekannten, waren eigentlich mehr auf sich selbst bezogen. Die hatten gesagt, wir haben einen Krieg verloren, dass wir ihn angefangen haben ist nicht wahr, wir müssen jetzt arbeiten. Der Marshall-Plan half damals sehr gut Deutschland, sich wieder aufzubauen. Und da war nie ein Wort des Bedauerns für die Opfer. Wir hatten wohl ein oder zwei Schüler, die kamen aus der Emigration in unserer Klasse. Aber da wurde auch nie vom Zweiten Weltkrieg gesprochen, nicht vom Holocaust. Die Geschichtslehrer wollten es auch nicht machen, denn die hatten wahrscheinlich Angst, dass die Schüler fragen: Welchen Beruf hatten Sie zu der Zeit?
Jürgen König: Serge, Sie sind Jahrgang 1935, geboren in Bukarest, ihre Eltern, Raissa und Arno waren rumänische Juden, die sich in Paris kennengelernt haben.
Serge Klarsfeld: Ja, sie haben sich nicht drei Jahre gekannt, wie Beate und ich, um sich sicher zu sein, dass sie heiraten wollten. Sie haben nach einigen Wochen geheiratet. Sie waren Nachbarn. Mein Vater kam aus Brăila an der Donau, einer Hafenstadt. Sein Vater war Reeder, und meine Mutter wohnte zunächst etwa 80 Kilometer von dort entfernt in einer kleinen Stadt in Bessarabien. Sie haben sich aber in Paris bei einem Ball kennengelernt. Sie haben geheiratet, 1931 eine Tochter bekommen und mich 1935 - und wir, die beiden Kinder, leben noch.
Jürgen König: Wie würden Sie Ihre Kindheit und Jugend beschreiben?
Serge Klarsfeld: Meine Kindheit hat mit dem Krieg begonnen, an die Zeit davor habe ich keine Erinnerung. Wir wohnten in Paris, und als der Krieg 1939 begann, hat sich mein Vater freiwillig gemeldet. Er hat seinen Neffen mitgenommen, der an seiner Seite gefallen ist. Die ausländischen Freiwilligen haben sehr gut gekämpft, sie haben Rommels Panzer 48 Stunden lang aufgehalten, das war wirklich bemerkenswert. Mein Vater wurde gefangen genommen, konnte aber fliehen. Währenddessen haben meine Mutter, meine Schwester und ich die Stadt verlassen. Wir haben den letzten Zug genommen, nachdem wir 24 Stunden vor dem Bahnhof gewartet hatten. Mein Vater hat uns dann nach Nizza gebracht. Dorthin hatten meine Eltern ihre Hochzeitsreise gemacht, sie liebten Nizza. Also haben wir uns im Oktober 1941 in Nizza niedergelassen. Dort konnten wir der Razzia entgehen, bei der die Polizei von Vichy gegen ausländische Juden vorging. Vichy hat geholfen, den deutschen Befehlshabern 10.000 ausländische Juden auszuliefern. Aber die Rumänen waren damals noch nicht im Fokus. Im September ja, aber im August, als die große Razzia stattfand, noch nicht. Also wurden wir nicht verhaftet.
Im November, als die Deutschen die freie Zone überfallen haben, haben sich die Italiener in acht Départements im Südwesten niedergelassen, unter anderem an der Côte d’Azur. Sie haben die Juden gegen Vichy, die Deutschen und Mussolini beschützt. Das waren keine rassistischen Faschisten, sondern Militärs und Diplomaten. Kein Jude wurde festgenommen und deportiert, an die Deutschen oder die Polizei von Vichy ausgeliefert. Manchmal wurde sogar die französische Polizei von der italienischen gehindert, Juden festzunehmen. Der einzige Jude, der ausgeliefert wurde, wurde aus politischen Gründen ausgeliefert. Es handelte sich um den bekannten Journalisten Theodor Wolff, der nach Sachsenhausen deportiert wurde.
Eine jüdische Familie flüchtet unter dem Gelächter von Wehrmachtssoldaten
Eine jüdische Familie flüchtet unter dem Gelächter von Wehrmachtssoldaten (picture alliance / dpa / UPI)
Im September 1943 haben die Italiener zu unserem Bedauern einen Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet, und die Gestapo hat an der Côte d'Azur mit ihren furchtbaren Razzien begonnen. Viele Juden waren an die Côte d'Azur geflohen. Und am 20. September 1943 ist die Gestapo mit der Armee gekommen, mit Lastwagen, Suchscheinwerfern, die sie auf die Fassaden der Gebäude richteten. Unser Wohnblock war umstellt, die Gestapo hat Etage für Etage die Personalien geprüft. Ohne Zweifel hatten sie Denunziationslisten.
Mein Vater wusste, wie schwierig es war, aus Nizza zu fliehen. Mit zwei Freunden hatte er eine doppelte Wand in einen tiefen Schrank eingebaut, in den man von hinten gelangen konnte - vorn hingen die Kleider. Wir haben das mehrere Male mit ihm geübt, für den Fall, dass die Deutschen kämen. Ein paar Tage zuvor hatte uns unser Vater beiseite genommen und gesagt: Wenn sie uns festnehmen, überlebe ich, weil ich stark bin. Aber ihr überlebt nicht. Wir wussten also, dass es sehr ernst war.
Als die Deutschen auf unserer Etage angekommen sind – in der Nachbarwohnung wohnten polnische Juden, die sich für Franzosen aus dem Elsass ausgaben, Freunde von uns. Ihre Tochter war mit meiner Schwester befreundet. Die Gestapo hat begonnen, die Kinder zu schlagen, um den Vater dazu zu bewegen, zuzugeben, wo der ältere Bruder, der in seinen 20ern war, sich versteckt hielt. Der Vater hat geschrien, die Kinder haben geschrien. Wir haben alles gehört, da der Schrank an der Wand zur Nachbarwohnung stand. Er hat am Ende zugegeben, wo der Sohn war.
Sie haben bei uns geklingelt. Mein Vater hat aufgemacht, und sie haben gleich gefragt: Wo ist Ihre Frau, wo sind Ihre Kinder? Er hat gesagt, wir seien aufs Land gefahren, weil wir die Wohnung desinfiziert hätten, es roch noch danach. Die Deutschen haben nicht insistiert, mein Vater war groß und kräftig. Sie haben die Wohnung durchsucht, einer hat die Schranktür geöffnet, wir haben gehört, wie die Kleider an der Stange bewegt wurden, um zu schauen, was dahinter ist. Aber es war dunkel, und er hat die falsche Schrankwand nicht berührt, sie haben es also nicht bemerkt. Sie haben meinem Vater gesagt, er solle sich anziehen, und sind gegangen. Mein Vater hatte seine Schlüssel bei meiner Mutter vergessen, er hat also den Schrank geöffnet und gesagt: "Die Schlüssel, gib mir die Schlüssel." Er hat die Schlüssel genommen, die Hand meiner Mutter geküsst und ist rüber zu den Nachbarn gegangen, um sie zu beruhigen. Er ist gegangen und nie wiedergekehrt.
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Beate Klarsfeld zum Erfolg des Front National Die Publizistin und Nazi-Enthüllerin Beate Klarsfeld sah den Erfolg des rechtsextremen Front National bei der ersten Runde der Regionalwahlen in Frankreich als Warnung für die Politik. Die Menschen seien unzufrieden sowohl mit den Sozialisten als auch mit den Konservativen und ließen sich von Demagogen einfangen, sagte Klarsfeld im Deutschlandfunk.
Jürgen König: Die Nazis haben ihren Vater in Auschwitz ermordet. Sich dann in eine Deutsche zu verlieben, das war ja nun alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Serge Klarsfeld: Meine Eltern haben früher in Deutschland gelebt, mein Vater sprach fließend Deutsch, meine Mutter auch. Sie hat in Gießen studiert, hat zwei Jahre in Berlin gelebt, wo sie auch oft mit ihrer Mutter und ihrer Schwester war. Sie kam aus einer sehr wohlhabenden Familie. Sie hatten keine Vorurteile gegenüber Deutschen, sie haben sie als achtbar angesehen. Sie haben meiner Schwester und mir immer gesagt, wir sollen die Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeit beurteilen und nicht anhand des Etiketts, das Ihnen an der Stirn haftete.
Meine Mutter war 1944 zum Beispiel, als wir im englischen Radio hörten, dass die deutschen Städte zerstört worden waren, nicht froh. Sie wusste ja, dass auch viele Zivilisten, viele Kinder umgekommen sind. Es war auch ein Stück Zivilisation, die da zerstört worden war. Es überwog eher die Trauer. Wenn eine deutsche, französische oder italienische Stadt zerstört wurde, waren wir nicht froh darüber, das zu hören.
Ich hatte schon Vorurteile. Ich habe zum Beispiel nicht Deutsch gelernt. Das hat man damals nicht gemacht. Aber ich habe das Buch von Inge Scholl gelesen "Die weiße Rose". Und ich habe gelernt, dass es auch junge Studenten gab, die sogar in der Hitlerjugend waren, die sich der deutschen Verbrechen bewusst geworden sind und dafür ihr Leben gelassen haben - Professoren auch. Bei diesen Opfern, die sie bereit waren, zu machen, kann man keine Vorurteile haben gegen jene Kinder, die nach Kriegsausbruch geboren wurden, wie Beate.
Ich hätte vermutlich Vorurteile gehabt, wäre ich religiös gewesen. Aber das war ich nicht, weil mein Vater nicht wieder heimgekehrt ist. Ich war laizistisch. Ich habe nur ein bisschen gewartet, bis ich Beate meiner Mutter vorgestellt habe, aber das war überhaupt kein Problem. Danach wollte sie das Einverständnis ihrer Schwester, die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lebte, in Rumänien. Also ist Beate nach Rumänien gereist, um sich von meiner Tante ihr Einverständnis für die Hochzeit zu holen.
Energie, Engagement und Findigkeit - Das politische Paar
Jürgen König: Ihr Sohn Arno hat im Vorwort zu Ihren Memoiren gleich zu Beginn eine Liebeserklärung an seine Eltern formuliert, die ich hier zitieren möchte auf Deutsch, wenn Sie erlauben: "Diese Memoiren handeln davon, wie es zwei jungen Menschen mit nichts oder fast nichts als Intelligenz, Energie, einer robusten Gesundheit, Gerechtigkeitsgefühl, Engagement und Findigkeit gelang, die deutsche Geschichte und Frankreichs Geschichtsbild zu verändern."
Zwei Menschen, denen es gelang, die deutsche Geschichte und Frankreichs Geschichtsbild zu verändern. Reden wir über das politische Paar Beate und Serge Klarsfeld. Beate, wie würden Sie das beschreiben, dieses politische Paar?
Beate Klarsfeld: Das war schon vorauszusehen, als wir heirateten, im 16. Arrondissement. Da sagte uns der Bürgermeister: Serge und Beate Klarsfeld, Sie sind ein deutsch-französisches Ehepaar, aber sie müssen aus ihrer Ehe etwas ganz Besonderes machen. Damals, wusste ich nicht, welche Verpflichtungen ich habe werde. Die Verpflichtung begann natürlich, als ich 1963 ins Deutsch-Französische Jugendwerk kam als Sekretärin. Und die Verpflichtung, die ich als Deutsche erfüllen musste, kam 1966, als Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler geworden war. Also, da mussten wir uns engagieren.
Jürgen König: Sie haben von diesen Verpflichtungen, wie sie sie beschrieben haben, letztendlich in Zusammenarbeit mit Serge überhaupt zunächst einmal von den ganzen Gräueltaten der Nazis erfahren - könnte ich mir vorstellen - und dann aber auch diesen politischen Impuls verspürt: Hier muss ich, hier müssen wir als Paar etwas tun.
Beate Klarsfeld: Die Gelegenheit muss man natürlich immer abwarten, und die Gelegenheit hatten wir gehabt. Und die Wahl von einem ehemaligen Nazi-Propagandisten zum Chef der deutschen Politik war für mich der Anlass gewesen. Natürlich vorher auch noch die Entlassung aus dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, weil ich in meiner freien Tribüne, in der französischen Zeitschrift Combat, diese Wahl kritisierte und sagte, ich als Deutsche würde es vorziehen, einen Mann wie Willy Brandt als Bundeskanzler zu haben. Daraufhin wurde ich aus dem Deutsch-Französischen Jugendwerk entlassen, das die Jugendlichen aus beiden Ländern zusammenbringen sollte. Und das war eigentlich der Auslöser. Aber natürlich, wäre ich nicht mit Serge verheiratet gewesen, hätten wir diesen Kampf nicht gemeinsam führen können.
Beate Klarsfeld
Beate Klarsfeld wurde 1966 wegen ihrer offenen Kritik am damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger vom Deutsch-Französischen Jugendwerk gefeuert. (dpa/picture alliance/Katerina Sulova)
Jürgen König: Serge, gleich die anschließende Frage, diese Kündigung beim Deutsch-Französischen Jugendwerk, bei der OFAG, war das auch sozusagen für Sie eine Art, ja ein Wendepunkt, ein auslösendes Moment für diesen gemeinsamen Kampf gegen das Vergessen und die Straflosigkeit von Tätern und mit Tätern?
Serge Klarsfeld: Das war sicherlich der zündende Funke. Ich bin 1965 das erste Mal nach Auschwitz gereist. Zu dieser Zeit fuhr niemand dorthin. Es war sehr kalt. Zudem waren wir im Kalten Krieg. Und ich habe auch das Wiederentstehen Israels miterlebt. 1953 war ich dort.
Also habe ich mir gesagt, dass ein Jude wie ich sich zugleich für das Gedenken an den Genozid und für Israel einsetzen muss. Also bin ich 1967 für einige Monate als Freiwilliger nach Israel gegangen. Ich hatte mir sehr schnell ein Flugticket gekauft und bin los. Das Flugzeug musste umgeleitet werden, wegen des Sechstagekriegs, und am nächsten Tag hat man uns abgeholt. Ich habe am Feldzug in Syrien, auf den Golanhöhen teilgenommen, dann bin ich aber wieder schnell zurück nach Paris. Eine Woche später war ich schon wieder in Paris, aber der Impuls war da.
Und Beate hatte zur gleichen Zeit den Impuls, was Deutschland betrifft. Der zündende Funke war, als meine Frau ihre Stelle verloren hat, weil sie geschrieben hatte, es sei schlecht für Deutschland, einen Kanzler zu haben, der Nazi ist. Sie hat ihre Stelle in Paris verloren, wohlbemerkt. Dabei war sie durch die Heirat Französin. Und es war ein aus politischen Gründen Deportierter, ein deportierter Franzose, ein Widerstandskämpfer, der sie vor die Tür gesetzt hat: Monsieur Altmeier, erster Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Mir ist der Himmel auf den Kopf gefallen, meine französische Frau in Paris, die das Normalste auf der Welt gesagt hat! Jeder hätte es sagen können, aber Beate war damals die einzige, die es gesagt und geschrieben hat. Ich habe mich sofort mit Beate getroffen, und wir haben beschlossen, gemeinsam beschlossen, dass wir nicht für die Ehre, aber dafür kämpfen würden, diesen Kanzler zu stürzen.
Serge und Beate Klarsfeld sprechen am 20.07.2015 während der Übergabe der Auszeichnungen mit dem Bundesverdienstkreuz im Hôtel Beauharnais, der Residenz der deutschen Botschafterin in Paris, Frankreich. Foto: Sebastian Kunigkeit/dpa
Serge und Beate Klarsfeld haben ihre Leben der Suche nach Wahrheit und ins Ausland geflüchteten Nazis gewidmet (dpa picture alliance / Sebastian Kunigkeit)
Jürgen König: Beate Klarsfeld, Sie haben Kiesinger geohrfeigt. Sie sind damit, ich glaube das kann man so sagen, weltberühmt geworden. Im November 1968 war das, auf dem CDU-Parteitag. Sie waren damals 29 Jahre alt. Was war das damals für Sie, so eine Art letztes Mittel im Kampf gegen das Schweigen über die Nazi-Vergangenheit?
Beate Klarsfeld: Es hat ja schon früher begonnen, wie Serge gesagt hat. Nach der Wahl von Kiesinger sprach niemand davon. In Deutschland gab es keine Proteste von der politischen Gesellschaft, auch das Ausland brachte wenig, einige Zeitungen, Figaro, vielleicht in Israel. Wir mussten jetzt die Vergangenheit von Kiesinger öffentlich machen. Serge als Historiker hat sehr viele Dokumente zusammengetragen, damals sogar aus Ostberlin. Das Material des Propagandaministeriums lag in Potsdam. Dann auch aus Washington. Wir haben die Broschüren zusammengetragen, denn wir haben nie jemanden angeklagt, ohne die Dokumente zu haben und zu beweisen, wer er war.
Die aus Berlin stammende Französin Beate Klarsfeld beschimpft während einer Bundestagssitzung am 02.04.1968 von der Zuschauertribüne im Bundestag in Bonn Bundeskanzler Kiesinger als "Nazi" und "Verbrecher". Neben ihr ein Saaldiener. | Verwendung weltweit
Beate Klarsfeld beschimpft während einer Bundestagssitzung am 02.04.1968 von der Zuschauertribüne im Bundestag in Bonn Bundeskanzler Kiesinger als "Nazi" (dpa)
Und ich bin dann durch die Universitäten in Deutschland gereist. Ich habe die Parlamentarier besucht in Bonn und habe ihnen die Broschüren übergeben. Und dann hörte ich immer: Ach, Frau Klarsfeld, er ist demokratisch gewählt worden. Es interessierte niemanden. Ich habe natürlich auch erreicht, dass ich die 68er um mich herum brachte. Aber die Jugendlichen hatten auch andere Probleme, im Allgemeinen. Für sie saßen die Nazis überall, im Auswärtigen Amt, wo man auch immer hinguckte. Für sie war Kiesinger kein Hauptgegner. Aber, ich meine, das Wichtigste war, dass ein Bundeskanzler ein Nazi war. Und da mussten wir eben sehen, dass wir jetzt mal die Presse manipulieren, aber auch die deutsche Gesellschaft zwingen, etwas zu unternehmen.
Und die erste Gelegenheit hatte ich dann im Bundestag, als Kiesinger im Parlament redete. Ich hatte mir dann eine Eintrittskarte für die Besuchertribüne verschafft, und als Kiesinger seine Rede begann, stand ich auf und rief ganz laut: "Nazi Kiesinger!" Natürlich wurde das untersagt. Kiesinger guckt hoch auf die Tribüne, und ich wurde festgenommen - allerdings am Abend selbst dann wieder nach Paris entlassen. Aber ich hatte dann gemerkt, am nächsten Tag, nicht nur dieses Bild, wo ich dann von den Wärtern festgenommen werde, aber auch die Zeitungen begannen, von der Vergangenheit von Kiesinger zu sprechen. Das war mein Anliegen gewesen.
Bon, dann ging die Kampagne weiter, und dann eben zu diesem bedrückenden Parteitag der CDU, der auch in Westberlin stattfand, schon von den Alliierten nicht sehr gut begrüßt, auch von der außerparlamentarischen Opposition. Es waren viele Polizisten nach Berlin gekommen, um diesen Parteitag zu schützen. Und da hatte ich eben mit Serge, wir haben das zusammen gemacht, überlegt: Wir müssen etwas Symbolisches machen, und zwar, das war die Ohrfeige. Das hatten wir gesagt, das ist die Ohrfeige einer jungen Deutschen gegen den Nazivater.
Ein Mann untersucht das Auge von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (l.) beim Bundesparteitag der CDU am 7.11.1968 in der Berliner Kongresshalle, nachdem er von der 29-jährigen Beate Klarsfeld geohrfeigt wurde.
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (l.) lässt sein Auge untersuchen, nachdem er von Beate Klarsfeld geohrfeigt wurde. (picture-alliance / dpa)
Das musste organisiert werden. In einer Woche war der Parteitag vorgesehen. Ich hatte dann auch einen Fotografen vom Stern, Michael Ruetz, eingeweiht, ich wollte ja auch, dass ein Foto davon genommen wird. Ich habe dann nach vielen Schwierigkeiten am letzten Tag erreicht, dass ich in die Kongresshalle kam. Kiesinger hatte gerade seine Rede vorbereitet. Er sprach noch nicht. Ich konnte dann von der Tribüne oben runtergehen. Da der Vorstandstisch sehr breit war, musste ich dahinter durchgehen. Jedenfalls, als ich hinter Kiesinger stand, war der Augenblick gekommen, wo ich "Kiesinger!" schrie, "Kiesinger, Nazi, abtreten!". Er drehte sich um. Die Ohrfeige ging nicht genau auf seine Wange, sondern auf das Auge, das braun geworden war wie auch die braune Vergangenheit der Nazis. Er musste vom Arzt dann untersucht werden. Ich wurde dann am Tag selbst, am Abend selbst von einem Gericht zum Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.
Lischka, Barbie, Papon – Die Jagd auf Nazi-Verbrecher
Jürgen König: Deutschlandfunk "Zeitzeugen im Gespräch", heute sind wir zu Gast in Paris bei Beate und Serge Klarsfeld. Frau Klarsfeld, noch eine Frage an Sie. Sie sind beide auf Jagd gegangen. Man muss das so nennen, weltweit auf Jagd nach Nazi-Verbrechern, die untergetaucht waren. Was hat das für Ihr Leben damals bedeutet, für ihr ganz praktisches Leben im Verlauf der Jahrzehnte, dann ja so viel Kraft, auch Geld zu investieren. Was hieß das für Sie? Für Ihr Familienleben?
Beate Klarsfeld: Mein Familienleben, ich sagte ja, meine Schwiegermutter hatte mich sofort akzeptiert, und sie war zu späterer Zeit, als Arno schon geboren war, eine wunderbare Schwiegermutter, die auf Arno aufpasste, wenn ich reisen musste. Wir haben ein gutes Familienleben gehabt, das wahrscheinlich im Allgemeinen sehr, sehr wichtig ist, wenn man sich engagiert. Denn ich meine, ich habe viele Reisen gemacht, ich habe mich oft einer Gefahr ausgeliefert, festgenommen zu werden. Sogar beim Parteitag in der CDU hätten mich die Leibwächter, die in der ersten Reihe sitzen, abschießen können. Aber da ich hinter Kiesinger stand, war es nicht möglich gewesen.
Unser Erfolg war immer skandalös zu sein, niemals illegal zu handeln, aber zumindest diese Skandale. Wir selbst und unsere Freunde sind ins Gefängnis gegangen in Köln und so weiter. Aber wir haben damit etwas erreichen können. Es war eine Aktion, die wir, Serge und ich, erreicht haben. Und dadurch haben sich auch viele, viele junge Leute und dann viele Juden um uns gescharrt, um zu sehen: So kann man erfolgreich sein. Unsere Arbeit war immer erfolgreich. Wir haben manchmal Grenzen überschritten. Manchmal konnten wir nicht erfolgreich sein, aber zumindest bin ich bis zum Letzten gegangen.
Jürgen König: Sie haben mit Prozessen gegen viele NS-Kriegsverbrecher und die Kollaborateure in Frankreich Grundsätzliches in Gang gesetzt. Kurt Lischka, der Befehlshaber der Pariser Sicherheitspolizei, Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, Maurice Papon, ein hohes Tier des Vichy-Regimes, die Liste ließe sich fortsetzen. Wie, Serge Klarsfeld, wie kann man heutigen Generationen schildern, wie kann man es erklären, dass es eben nicht selbstverständlich ist, dass heute deutsche Gerichte betagte Mittäter der Nazis aufspüren und versuchen, sie zu verurteilen, dass heute in Frankreich an höchster Stelle offen über die Vichy-Verantwortung gesprochen werden kann?
Der Nazi-Verbrecher Klaus Barbie - hier im Jahr 1982 - wurde am 4. Februar 1983 von Bolivien an Frankreich ausgeliefert.
Der Nazi-Verbrecher Klaus Barbie - hier im Jahr 1982 - wurde am 4. Februar 1983 von Bolivien an Frankreich ausgeliefert (picture-alliance / dpa / UPI)
Serge Klarsfeld: Wir beide haben uns mit dem Problem der verbrecherischen deutschen Nazis auseinandergesetzt, als wir festgestellt haben, dass jene, die die Deportation der Juden in Frankreich organisiert haben, nicht bestraft wurden. Es waren die einzigen verbrecherischen Nazis auf der Welt, die nicht vor Gericht standen, weder in Deutschland noch in Frankreich, weil Deutschland sie nicht an Frankreich ausliefern, sie aber auch nicht in Deutschland vor Gericht bringen wollte. Also haben wir dieses Problem in Angriff genommen.
Es hat vier Jahre gedauert, bis die juristische Vereinbarung ratifiziert wurde, die Willy Brandt mit Frankreich vereinbart hatte. Vier Jahre, bis sie von der deutschen Justiz umgesetzt wurde und die Verbrecher Lischka, Hagen, Heinrichsohn in Köln vor Gericht kamen. Ich habe festgestellt, dass die Geschichte von Vichy in den französischen Geschichtsbüchern nicht gerade präzise erzählt wird. Pétain, Laval, die französische Polizei, die auf Befehl der französischen Regierung Juden festgenommen hat, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren. Also haben wir beschlossen, ganz Frankreich zu zeigen, welche Rolle die Vichy-Regierung als Komplize der Deutschen bei der 'Endlösung' gespielt hat, wissend, dass der Bestimmungsort der deportierten Juden sehr gefährlich war.
Wir haben das historisch aufgearbeitet, sind aber auch aktiv geworden, um Frankreich mit dieser Wahrheit zu konfrontieren. Zum Glück war unser bester Schüler Jacques Chirac, der sich sehr für die Geschichte der Juden interessiert hat, der während des Krieges auch ein Kind wie ich war, für den Pétain Frankreich war, genauso wie de Gaulle. Es war an der Zeit, dass Frankreich seine Verantwortung gegenüber den Opfern anerkannte. Und so kam es, dass nach der historischen Rede, die Chirac 1995 gehalten hat, im Jahr 2000 eine Rente für die Waisen der Deportierten beschlossen wurde, eine Stiftung mit einem Kapital von 400 Millionen Euro ins Leben gerufen wurde, die Fondation pour la Mémoire de la Shoah, die Stiftung zur Erinnerung an die Shoah, ebenso wie eine Kommission zur Entschädigung der Juden. Nun wissen viele Franzosen, welche Rolle Vichy während des Krieges mit Blick auf die Juden gespielt hat.
Die bleibende Bedrohung - Antisemitismus in Deutschland und Frankreich
Jürgen König: Serge Klarsfeld, Sie haben Jacques Chirac erwähnt, auf ihn wollte ich kommen. 1994, man erinnere sich, war es noch der sozialistische Staatspräsident François Mitterand, der da sagte, dieser ewige Bürgerkrieg innerhalb Frankreichs unter den Franzosen, das müsse nun endlich aufhören, man müsse die Franzosen miteinander versöhnen. Also auch er wollte die Wunden eher schließen oder zudecken, muss man sagen. Und dann war es Jacques Chirac, der zum ersten Mal überhaupt 1995 eine Schuld Frankreichs in Gestalt des Vichy-Regimes anerkannt hat, wie Sie es ja gerade, Serge, dargelegt haben. Beate, wie haben Sie diesen Paradigmenwechsel erlebt? Das war ja doch schon ein großer Umschwung in der Selbstwahrnehmung Frankreichs.
Nachdem Beate Klarsfeld am 7.11. 1968 Bundeskanzler Kiesinger geohrfeigt hatte, wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, musste die Strafe jedoch nicht antreten.
Ausstellung über Beate und Serge Klarsfeld Sie kämpften gegen das Vergessen der Nazi-Verbrechen in der jungen Bundesrepublik: Beate und Serge Klarsfeld. Sie jagten Nazi-Verbrecher und Kollaborateure wie Maurice Papon.
Beate Klarsfeld: Naja, ich wollte gerade sagen, das erste Mal, dass ich eine Auszeichnung aus Frankreich bekam, war von Herrn Mitterand - überreicht von einem Außenminister, aber Serge wird mehr über seine Beziehung zu Mitterrand sagen können. Aber jedenfalls, als Chirac seine Rede gehalten hat - unsere Freunde, Kinder, der deportierten Juden aus Frankreich - als sie diese Worte hörten, es war unwahrscheinlich. Das hat wirklich sehr viel gebracht und auch gezeigt. Denn ich weiß noch, als ich, denn ich wohnte nebenbei mit meiner Schwiegermutter zusammen - zuerst hatten wir bei ihr gewohnt, und unten war ein Fleischergeschäft. Und wenn ich runterkam und sie sagte, ja, Frau Klarsfeld, sie wissen ja, also die Juden, die wurden ja nur von den Deutschen festgenommen. Das war damals noch gang und gäbe, dass man sagte, also, die Juden aus Frankreich wurden von den Deutschen deportiert. Die hatten gar nicht genug Soldaten, um das durchzuführen. Und das hatte Serge mit seinem Buch 'Vichy – Auschwitz' doch gewechselt. Und es war sehr, sehr wichtig auch für die Jugend dort, für die Franzosen.
Jürgen König: Kommen wir zum Schluss zur Gegenwart. Der Antisemitismus tötet wieder, sagte Präsident Macron zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz jetzt im Januar. Serge, der Antisemitismus dieser Tage, wie lässt sich dem begegnen außer mit Worten?
Serge Klarsfeld: Wir sind in einem Gebiet der Europäischen Union, wo Juden Zugang zu allen Stellen haben, die sie verdienen. Nie war die Lage der Juden so gut wie heute, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Außerdem gibt es einen Staat, einen jüdischen Staat, der mächtig ist. In den zwanzig Jahrhunderten, die vorausgegangen sind, war die Lage nie so gut.
Ein Berg von Schuhen erinnert in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an die Opfer des Konzentrationslagers der Nationalsozialisten
Ein Berg von Schuhen erinnert in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau an die Opfer des Konzentrationslagers der Nationalsozialisten (picture alliance / voix du nord / Max Rosereau)
Unglücklicherweise haben die Juden Feinde, vielleicht wegen ihrer Stellung. Und diese Feinde sind die extreme Rechte in der Tradition der Nationalsozialisten, die extreme Linke mit ihrem Anti-Zionismus, und die Muslime - die Islamisten im Speziellen - aber auch die Muslime, die auf der Seite der Palästinenser sind. Es liegt auf der Hand, dass wenn der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern gelöst würde, es keine Aversion gegenüber Juden auf Seiten der Muslime geben würde.
Die Juden stehen also mächtigen Feinden gegenüber, die nicht nur Feinde der Juden, sondern auch der Demokratie, der Freiheit und der Gerechtigkeit sind. Es ist daher eine alarmierende Situation für die Juden, aber auch für all jene, die die Demokratie, die republikanischen Werte und die Europäische Union unterstützen.
Jürgen König: Aber noch einmal gefragt: Es kursieren immer mehr Verschwörungstheorien in der Welt. Umfragen in Frankreich, auch in Deutschland, zeigen, dass immer mehr Leute für alles Böse in der Welt zunehmend Juden verantwortlich machen. Von den Vorurteilen über Reichtum und Macht in den Medien und so weiter ganz abgesehen. Wie kann man solche Verschwörungstheorien, die gerade im Internet so eine "gute" - gut in Anführungsstrichen - Verbreitungsform finden, wie kann man denen begegnen?
Serge Klarsfeld: Alle Feinde der Juden stützen sich auf die Theorie, es gebe einen Komplott. In der Zwischenkriegszeit, 1930, hat die extreme Rechte behauptet, die Juden seien an der Macht im Kreml, an der Wall Street in New York, also dort, wo in der Welt etwas entschieden wird. Die meisten Leute sind da irrational, und wenn es eine Krise gibt, wollen sie einen Verantwortlichen. Sie können die Situation nicht analysieren, sie können sich nicht selbst verantwortlich fühlen. Sie brauchen also einen Verantwortlichen, auf den sie alles schieben können, was ihnen an Schlechtem widerfährt. Vielleicht haben die Juden ja auch das Coronavirus verbreitet? Vielleicht wird das in einigen Foren im Netz so erzählt. Auch bei der Pest im 14. Jahrhundert hat man die Juden beschuldigt und viele von ihnen getötet.
Überlebende jüdische Kinder stehen 1945 in Auschwitz mit einer Krankenschwester hinter Stacheldrahtzaun. Das Foto wurde von einem sowjetischen Fotografen während der Herstellung eines Films über Befreiung des Lagers gemacht. Die Kinder wurden von den Russen mit Kleidung von erwachsenen Gefangenen verkleidet.
Jüdische Kinder 1945 in Auschwitz (imago images / Reinhard Schultz)
Die Geschichte wiederholt sich, die Natur des Menschen hat sich nicht verändert seit der Frühgeschichte. Zwischen dem Menschen in den Höhlen und dem Menschen heutzutage ist nur ein dünner Firnis. Die Natur des Menschen ändert sich nicht so leicht, der Mensch existiert seit Millionen von Jahren. Die Zivilisation, die Gesellschaft existiert seit 10.000, 15.000 Jahren. Das sind dieselben Menschen mit denselben Instinkten, denselben Trieben. Wenn es ein Problem gibt, eine allgemeine Krise, schaut er sich um und sucht den Verantwortlichen. Und der Verantwortliche ist oft ein Jude, weil die Juden eine Minderheit sind. Es gibt 15 Millionen Juden, es gibt 1,5 Milliarden Christen, vielleicht 1,5 Milliarden Muslime.
Die Juden sind also eine Minderheit. Vor zwei Jahrhunderten, vor der Revolution, waren die Juden der Paria, und innerhalb von 30, 40 Jahren sind sie an wichtige Posten gekommen. In dem Moment, in dem sich die republikanischen Werte in Europa verbreitet haben, sind die Juden an wichtige Stellen in der Wirtschaft, in der Finanzwelt, in der Kultur und Gesellschaft gerückt. Und das haben die Leute nicht verstanden: Wie kann jemand, der ganz unten war, plötzlich ganz oben sein? Durch ihre Arbeit, ihren Verdienst, weil sie sich weitergebildet haben.
Selbst ein Jude, der Schumacher war, hat studiert, sprach mehrere Sprachen, war im Geiste beweglich und hat die weltweiten Verbindungen zu anderen Juden gepflegt. Er war also vorbereitet, auf das, was passierte, auf die Freiheit für viele Juden. Auch heute gehören viele Juden zur geistigen Avantgarde in allen neuen Bereichen. Sie sind interessiert, bilden sich weiter, arbeiten, erschaffen etwas, und das ist für die Welt doch ein Reichtum und kein Verfall, keine Armut für die anderen.
Jürgen König: Frau Klarsfeld, wie denken Sie in dieser Sache, über diese Frage: Was tun mit diesen Stichwörtern Antisemitismus, diesen ganzen Verschwörungstheorien, die da im Netz kursieren?
Beate Klarsfeld: Ja, wir müssen uns natürlich gegen alle rechtsextremen Parteien auflehnen. Wir haben es getan, hier in Frankreich. Mehrere Male vor den Präsidentschaftswahlen haben wir gesagt, also weder extrem links noch extrem droit, wir haben Macron zum Präsidenten gewählt. Und in Deutschland auch. Für mich ist es verwunderlich, wie seit einigen Jahren. Ich habe mich damals gegen die NPD engagiert, und sie hat Gott sei Dank die fünf Prozent nicht erreicht, um in den Bundestag zu kommen. Aber heute ist die extreme Partei AfD eine der stärksten Oppositionsparteien. Wie konnte das geschehen? Es gibt ja keine Krise. Zuerst hat Hitler, zu Anfang hatte er auch nicht viele Mitglieder im Reichstag gehabt. Und dann nachher eine Krise, das entwickelt dann den Hass gegen jemanden. Ich vergesse nie diese Fotos, die ich gesehen habe, nach der 'Kristallnacht', wenn man sieht, wie die Synagogen angebrannt werden, und wie Frauen, Männer und sogar Kinder sich darüber freuen und in die Synagogen eindringen und Feuer reinwerfen.
Ein Foto vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kurz Holocaust-Mahnmal. Es errinnert mit seinen verschieden hohen 2711 quaderförmigen Beton-Stelen in der historischen Mitte Berlins an die rund 6 Millionen Juden, die unter der Herrschaft Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten ermordet wurden.
Das Denkmal für die ermordeten Juden in Europa erinnert in der Mitte Berlins an die rund 6 Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. (Getty Images / Sean Gallup)
Der Hass, der kann leicht geschürt werden. Es genügt, einen wie Höcke oder Herr Gauland, Höcke sagte, das Holocaust-Mahnmal ist eine Schande für Deutschland. Ich habe Strafantrag gestellt gegen Gauland für die Aussage "die Zeit von 33 bis 45 ist nur ein Vogelschiss in der Geschichte". Ich habe einen Strafantrag gestellt, die Ermittlungen wurden gar nicht mehr aufgenommen. Also die Justiz ist, wie man schon damals sagte, auf dem rechten Auge blind. Aber es ist sehr, sehr bedauerlich, auch in der Flüchtlingskrise. Zum Beispiel diese ganze Pegida-Bewegung. Wie ist das möglich gewesen, ja. Der Hass, der kann leicht geschürt werden. Und der Hass, das ist immer jemand. Das waren damals die Flüchtlinge, heute ist viel, der Antisemitismus kommt ja nicht nur von den Rechtsextremen, sondern auch von Linksextremen und natürlich von den Moslems. Und das ist natürlich eine Gefahr. Da müssen wir versuchen, dass all die Länder in Europa eine demokratische Regierung haben. Denn die schützt davor, dass der Antisemitismus ausgeweitet wird.
Beate Klarsfeld zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmal in Berlin
Beate Klarsfeld zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmal in Berlin (imago/IPON)
Jürgen König: Letzte Frage an Sie beide, Sie, Beate und Serge Klarsfeld, Sie und Ihre Generation haben viel erlitten, haben auch sehr viel erreicht. Was sagen Sie als Adresse an die nachfolgende Generation? Was geben Sie denen sozusagen mit auf den Weg?
Serge Klarsfeld: Den Extremen zu misstrauen. Manchmal sind sie an die Macht gekommen, die extreme Rechte, die extreme Linke - und jedes Mal war es eine Katastrophe. Also: Die Extreme ablehnen, einräumen, dass die Demokratie Schwachstellen hat, aber dass sie dennoch die beste Staatsform ist, die es gibt. Sich bewusst machen, dass wir damals von all dem, von dem die junge Generation heute profitiert, nicht profitieren konnten, dass all das durch die Demokratie erreicht wurde.
Die Europäische Union ist ein unglaublicher Erfolg, sie hat für Frieden gesorgt, für die deutsch-französische Versöhnung und die Versöhnung zwischen anderen Ländern und Völkern. Die Menschen ziehen nicht mehr in den Krieg und sterben wie bei dem Gemetzel zwischen 1914 und 1918, oder zwischen 1939 und 1945. Alle autoritären Regime in Europa wurden besiegt, auch wenn es heute Regierungen gibt, die wieder in diese Richtung streben. Die Europäische Union ist ein Ort der Freiheit, wo man frei reisen kann. Wir leben in einer Zeit des Friedens, die so vorher nicht existiert hat. Das müssen wir bewahren. Das ist nicht ohne weiteres sicher, es wird immer wieder in Frage gestellt und man muss diese Werte verteidigen. Wählen gehen, die Parteien der Mitte unterstützen und nicht die Extreme, und wenn sich autoritäre Regierungen abzeichnen, bereit sein, Widerstand zu leisten, so wie andere es auch getan haben und ihre Freiheit oder ihr Leben geopfert haben.
Pegida-Demonstranten schwenken vor der Frauenkirche auf dem Dresdner Neumarkt Flaggen, während im Vordergrund Gegendemonstranten stehen und ebenfalls Flaggen schwenken.
Protest gegen Pegida in Dresden (dpa / Robert Michael )
Jürgen König: Beate Klarsfeld, was würden Sie nachfolgenden Generationen mit auf den Weg geben?
Beate Klarsfeld: Die Jugendlichen müssen sich engagieren, sich sofort engagieren, nicht ehe es zu spät wird? Wir haben das große Engagement, wenn es Jugendliche sind, mit Problemen der Klimapolitik. Sie gingen dort jeden Freitag auf die Straße und haben bemerkt, sicher, für die spätere Generationen ist es wichtig. Aber auch heute, ich meine für die Generation ist es wichtig zu sehen, wenn Rechtspopulisten in Europa an die Macht kommen. Was wird daraus werden? Ja, es gibt dann den Antisemitismus, gibt fürchterliche Sachen. Und das müssen die Jugendlichen verstehen. Aber die wollen das noch nicht wissen. Ich meine, es genügt nicht, nach Auschwitz zu gehen und zu wissen, was der Holocaust ist. Es gibt ja auch andere Probleme heute. Und da muss sich die Jugend organisieren und darf nicht weggucken und sagen: Gut im Allgemeinen, wir warten ab, wie es kommt. Aber die Rechtspopulisten sind immer eine Gefahr, wie schon Serge sagte, von links oder rechts. Die sind eine große Gefahr für die Bevölkerung. Das muss verhindert werden. Da muss ein staatliches Engagement sofort kommen und auch ein kräftiges Engagement. Ich meine, was die Jugendlichen mit der Klimapolitik gemacht haben, war wunderbar. Da waren sie zahlreich auf die Straßen gegangen. Das müssen wir auch jetzt gegen die Rechtspopulisten in allen europäischen Ländern wieder hochbringen. Und da müssen diese Demonstrationen gegen die AfD in den Ländern, die müssen verstärkt werden. Denn es ist wichtig. Im Allgemeinen, diejenigen, die auf die Straße gehen, die demonstrieren, sind die Rechtsextremen, und diejenigen, die also im Allgemeinen abwarten, die gehen nicht auf die Straße, die glauben, warten wir ab, es wird nicht kommen.
Jürgen König: Vielen Dank. Lassen Sie mich anstelle eines Schlusswortes noch einmal ihren Sohn Arno Klarsfeld zitieren. Der letzte Satz in seinem Vorwort zu Ihren Erinnerungen lautet: Hätte die deutsch-französische Partnerschaft eine Seele, träge sie die Namen von Beate und Serge. Danke für Ihre Zeit. Danke für das Gespräch. Merci, Beate et Serge Klarsfeld.
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