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Bedeutendes Musiktheater

Gerade noch rechtzeitig zum Schiller-Gedenkjahr wurde am Freitag in Gelsenkirchen jene Oper aufgeführt, die den Reigen von Werken eröffnete, die aus Friedrich Schillers Dramen bedeutendes Musiktheater gemacht haben: Gioacchino Rossinis "Guillaume Tell" in der Inszenierung von Andreas Baesler und unter der musikalischen Leitung von Samuel Baechli.

Von Frieder Reininghaus | 24.09.2005
    Vorab dem Solistenensemble um Christopher Lincoln, Regine Hermann und Jee-Hyon Kim, dem Chor- und Extrachor des Musiktheaters im Revier und der Neuen Philharmonie Westfalen ein großes Kompliment: wie sie die musikalisch-technischen Herausforderungen des Werks angenommen und – abgesehen von ein paar Wacklern bei den Blechbläsern und einer gewissen Orientierungslosigkeit des Fischers Ruodi in den Höhen – bewältigt haben. Sosehr die Protagonisten in den ihnen solistisch zugeschriebenen Partien gefordert werden, sosehr ist gerade auch ihr Zusammenwirken anzuerkennen – wenn zum Beispiel die Männer, die zu Verschwörern, Aufrührern, Freiheitshelden werden, sich verabreden.
    Rossinis "Tell" war – gattungsgeschichtlich betrachtet – ein Werk des "Durchbruchs" auf dem Weg zur Grand Opéra. Zwar prunkt es – Rossini blieb sich treu – mit zündendem Rhythmus und melodischen Highlights, doch war der Komponist über das Verfertigen von Melodien mit quälendem Haftvermögen weit vorgedrungen zu einer neuen Dimension von ganzheitlich sich konstituierendem Musiktheater.

    Geschrieben wurde sein "Tell" für Paris am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1830, begünstigt also durch ein gesellschaftliches Klima, in dem Themen wie Freiheit und Unabhängigkeit Konjunktur hatten, ja auch tatsächlich Revolten, nationale Unabhängigkeitsbewegungen und militante Erhebungen quer durch Europa zeitigten – bis hin zum großen polnischen Aufstand und den Insurrektionen in verschiedenen deutschen Fürstentümern, vom Risorgimento in Italien bis zu den Kämpfen in Brüssel, aus denen der belgische Staats hervorging. Die "Tell"-Oper war Ausdruck dieser Bewegung und zugleich Agens in ihr, gerade auch durch die Leichtfüßigkeit, mit der die Kunst der Beschleunigung und der Dynamisierung des Wegs kam.

    Das Stück wurde von seinen Autoren weithin im Freien angesiedelt – am Seeufer, auf Bergeshöhen, auf dem Marktplatz und an der hohlen Gasse (Musik 2 wird ausgeblendet). Der Regisseur Andreas Baesler ließ es vom Ausstatter Kaspar Zwimpfer zunächst vor ein Postkartenfoto vom Vierwaldstätter See mit Ausblick Richtung Südosten rücken, dann aber bald und andauernd in einen modifikationsfähigen Innenraum, der an schweizerische Autobahnraststättenarchitektur erinnert. In ihr wird mit dem Symbol des Apfels gespielt, der ja nicht weit vom Baume fällt, durch Tells Geschoß genau in der Mitte getroffen wird, Evas Verführungssymbol bleibt und, ganz vordergründig, einer bodenständigen Genossenschaft die Ernährungsgrundlage verschafft – auch mit dem wiederkehrenden Bildmotiv des Apfelbäumchens, das mit trotzigem Optimismus gepflanzt wird, obwohl die Welt doch schon morgen untergehen kann.

    Die Kostüme von Gabriele Heimann deuten die totalitär gestimmten 1930er Jahre an, insbesondere durch die gepunkteten Kleider der Frauen, die Kniebundhosen der geschickt neutralisierten Uniformen und die Kopfbedeckungen der auch mit Fliegerbrillen ausgestatteten Schergen Geslers.

    Die Übertragung in den Innenraum, den die Handlanger der totalitären Macht theaterwirksam demolieren, bringt es mit sich, dass Tell den Hirten Leuthold nicht übern See in Sicherheit vor seinen Verfolgern bringen kann, sondern mit ihm durch den Gully ab in die Freiheit rauscht. Auch das Vergewaltigungs-Ballett deutet Andreas Baeslers Willen zu einer modifizierten Aktualisierung der sehr sehr alten Geschichte an.

    Insbesondere auch beim letzten Finale. Das wölbt sich auf und gebiert eine Apotheose der Freiheit, die auf weit mehr als auf die Ereignisse in den Schweizer Bergen am Ende des 13. Jahrhunderts zielt: auf alle bürgerlich-demokratische Freiheit zumindest. Gerade auf die aber bezieht Baesler sein Schlußbild: da zieht in Riesenformat die Schweizer Fahne zur Zentenarfeier auf, strömen EU-Bürger aus der Nachbarschaft (oder EU-Befürworter aus denen eigenen Reihen) auf den in halber Höhe der Bühne verlaufenden Umgang und einer hält ein Schild hoch: "Isch voll!" So wird das so lange allzu vollmundig wirkende Freiheitspathos am Ende doch noch auf eine sehr naheliegende Weise konterkariert.