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Karl Friedrich Borée
Nur Liebe reicht nicht

Die Wiederentdeckung von Karl Friedrich Borée im Lilienfeld Verlag geht mit einer Neuausgabe des Bestsellerromans „Dor und der September“ aus dem Jahr 1930 weiter: Eine bittersüße Liebesgeschichte, die verblüffend aktuell die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter verhandelt.

Axel von Ernst im Gespräch mit Gisa Funck | 26.11.2018
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    Der wiederentdeckte Schriftsteller Karl Friedrich Borée, der bürgerlich Friedrich Karl Boeters hieß (Buchcover: Lilienfeld Verlag / Autorenportrait: Karl-Ernst Boeters)
    Gisa Funck: Lieber Axel von Ernst, Sie haben im letzten Jahr im Lilienfeld Verlag schon Borées Opus Magnum, den Kriegsende-Roman "Frühling 45 – Chronik einer Familie" neu herausgebracht. In diesem Herbst erscheint nun Borées Romandebüt "Dor und der September" aus dem Jahr 1930 neu bei Lilienfeld. Wie sind Sie als Verleger überhaupt auf den Schriftsteller Karl Friedrich Borée aufmerksam geworden?
    Axel von Ernst: Unser Verlag ist jetzt zehn Jahre alt. Und am Anfang gab es so eine Zeit, wo wir hauptsächlich Empfehlungen gemacht haben, also von Übersetzerinnen und Übersetzern zum Beispiel, die mir gesagt haben: "Das muss mal bei euch erscheinen!" Doch dann irgendwann habe ich mir gesagt: "Ich muss mich jetzt auch mal selbst wieder hinsetzen und noch mal schauen, was es so gibt." Und Borée habe ich gefunden in einer alten Taschenbuch-Ausgabe von irgendeinem anderen Titel, da sind hinten ja immer diese Listen drin, so "Taschenbuch Nummer 20876", das ist dann Thomas Mann, und der nächste Titel ist ein Hemingway undsoweiter. Und dazwischen sind immer auch unbekannte Namen. Und unter anderem war in so einer alten Taschenbuch-Liste halt Karl Friedrich Borée aufgeführt. Und in meinem Fall war es dann auch tatsächlich "Dor und der September". Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Habe ich es bestellt, und dann ging die Überraschung los. Und ich habe mich danach dann durch das ganze Werk von Borée gefräst sozusagen, lesend. Und jetzt müssen wir ihn im Verlag vorzeigen.
    Funck: Bevor wir darüber spekulieren, warum dieser erste Roman von Karl Friedrich Boreé 1930 eigentlich so ein Publikumsrenner wurde, sagen Sie doch vielleicht erst einmal ganz kurz: Wovon handelt "Dor und der September"?
    Von Ernst: "Dor und der September" ist eigentlich eine ganz schlichte Liebesgeschichte, die ein Jahr lang dauert, aber deswegen besonders ist, weil es eine Liebesgeschichte ist zwischen einem etwas älteren Mann, also zwanzig Jahre älter, und einer Studentin, die beide nicht nur aus zwei unterschiedlichen Generationen vom Lebensalter her stammen, sondern auch, was ihre Zeitgenossenschaft anlangt. Er ist ein Ex-Marine-Offizier aus dem Ersten Weltkrieg, und ist ein bisschen aus der Welt gefallen, hat einen kleinen Job. Und sie ist eben Studentin aus der ganz anderen, neuen Zeit der 20er Jahre, aus dieser Zeit des Aufbruchs. Und diese beiden treffen im Roman aufeinander, fühlen eine Art Seelenverwandtschaft, nähern sich an, und trotzdem gibt’s dann halt doch diese vielen Unterschiede. Und daraus entsteht die Spannung dieser Liebe und dieser Liebesgeschichte.
    Spannungsreich: Weltkriegsveteran liebt junge Studentin
    Funck: Mmmh, also dieser Offizier, den sie da beschrieben haben, dieser zwanzig Jahre ältere Liebhaber, der wirkt am Anfang ja wirklich Kriegstraumatisiert. Er war im Ersten Weltkrieg und wirkt nun zurückgekehrt geradezu lebensmüde, so habe ich das gelesen. Kann man sagen: Diese Verliebtheit zu der jungen Medizinstudentin Dor, das ist für ihn so eine Art Therapie? So ein Weckruf ins Leben?
    Von Ernst: Ja, das ist es auf jeden Fall. Es entwickelt sich bei ihm eine regelrechte Faszination. Und zwar nicht nur die normale Faszination eines Mannes für eine Frau, sondern eben auch für ein Wesen einer neuen Zeit. Das kommt sehr stark in dem Roman heraus. Der Held ist ein Alter Ego von Karl Friedrich Borée, dem Autor. Der wollte schon immer seine Erfahrungen aus dem ersten Weltkrieg literarisch verarbeiten. Ihm schwebte eigentlich so etwas wie "Farewell to arms" von Hemingway vor. Das ist auch eine Liebesgeschichte, die im Ersten Weltkrieg spielt. Doch an diesem großen Anti-Kriegsroman ist Borée zunächst ständig gescheitert. Und dann ist ihm, wie seinem Helden, die Liebe passiert und er hat eine junge Frau kennengelernt, die ihm sehr typisch für die neue Zeit der 20er Jahre erschien – und an der er den Konflikt seiner Person mit dieser neuen Zeit festmachen konnte, als jemand, der aus dem Krieg beschädigt nach Hause gekommen war.
    Am Anfang stand eine wahre Geschichte
    Funck: Die Studentin Dor im Roman hatte also ein reales Vorbild?
    Von Ernst: Ja, das merkt man auch an der Art, wie dieses Buch geschrieben ist. Also man merkt, wie involviert der Autor in diese Geschichte ist. Und an den vielen psychologischen Details, die sehr genau beobachtet sind.
    Funck: Rein inhaltlich, also jetzt mal vom reinen Romanplot her gesprochen - "Deutlich älterer Mann verliebt sich in junge Frau" - da könnte man ja boshaft sagen, naja gut, das ist eigentlich eine Standardgeschichte, eigentlich nichts Besonderes. Ich glaube aber, es gibt doch zwei Aspekte an diesem Roman, die ihn besonders machen und immer noch sehr modern. Zum einen ist das meiner Meinung nach der Erzählstil, dieser besondere Tonfall des Erzählers. Denn der berichtet ja sehr offenherzig, stellenweise geradezu schwärmerisch von seiner Liebe zur jungen Dor. Und spricht dann etwa dauernd vom "Geschenk", von der "Gnade", Weihe" oder vom "Wunder" dieser Liebe. Und er lässt sich ja auch detailliert über die Orte aus, wo die beiden sich treffen. Oder beschreibt ganz genau den Körper der Geliebten. Da habe ich mich gefragt: War das damals nicht doch sehr ungewöhnlich, dass ein Mann dermaßen zartfühlend und schwärmerisch von seinen tiefsten Gefühlen sprach?
    Ungewöhnlich sprachgenauer, zartfühlender Sound
    Von Ernst: Ja, das war es. Und genau das wurde auch in der Kritik damals stark hervorgehoben. "Dor und der September" war ja damals ein Bestseller. 1930 ist der Roman erschienen. Und der Roman war dann sofort in den Besprechungen ganz oben. Also Rudolf Geck in der "Frankfurter Zeitung" (das war der damalige Reich-Ranicki sozusagen) hat einen langen Artikel darüber geschrieben. Und zwar genau über dieses Thema, also mit welcher Zartheit, ohne jetzt in irgendeiner Form dämlich-schwülstig zu werden, im Roman eine junge Frau beschrieben wird. Oder Vicky Baum hat gelobt. Oder Franz Blei, ein anderer großer Kulturschreiber damals, hat den Roman zu einem Meisterwerk erklärt.
    Aber es waren vor allem die jungen Frauen damals, die dieses Buch so geliebt haben. Und zwar genau auch wegen seines ungewöhnlichen Stils. Erstens fühlten sie sich da sehr genau beschrieben und haben sich in dieser Dor wiedererkannt. Und zweitens mochten sie diesen Stil, der schwärmerisch ist, aber auch vernünftig und kritisch.

    Borée war studierter Jurist. Und das merkt man an den vielen genauen Beschreibungen, teilweise ja auch harten Beschreibungen. Sein Erzähler sieht ja nicht nur das Schöne, sondern auch immer das Hässliche. Und er benennt es auch, ohne dass sich dadurch etwas an seiner Liebe zur jungen Dor ändert. Das erhöht nur noch das Wundervolle an der Person, die er liebt.
    Funck: Er bleibt also immer Chronist trotz aller Schwärmerei?
    Von Ernst: Ja genau. Er fragt ja auch nach dem Altersunterschied, obwohl sich beide mit ihrem Altersunterscheid eigentlich gar nicht beschäftigen wollen. Aber sie stellen schon die Frage: Was ist das mit dem Altersunterschied? Schämen sich manchmal auch. Beziehungsweise: Sie stoßen in der Gesellschaft damit an Grenzen, die in der Natur aber nicht existieren. Deswegen spielt auch die Natur im Roman eine so große Rolle. Und es gibt wunderbare Naturbeschreibungen und Wetterbeschreibungen, weil die beiden dort die Freiheit finden, ohne Vorurteile von außen miteinander zusammen zu sein.
    Zwanzig Jahre Altersunterschied sind zehn Jahre zu viel
    Funck: Ich habe mich trotzdem gefragt: Ist es denn wirklich so skandalös, dass er zwanzig Jahre älter ist? Denn bis dahin (also im frühen 20. Jahrhundert) entsprach das doch eigentlich fast dem klassischen patriarchalen Muster. Und war es doch gar nicht so untypisch, dass ein Mann deutlich älter war als seine Frau. Warum macht der Altersunterschied dem Erzähler bei Borée trotzdem so zu schaffen?
    Von Ernst: Ja, ich kenne mich mit der Mentalitätsgeschichte jetzt nicht so detailliert aus, würde aber sagen, dass eben zwanzig Jahre Altersunterschied doch ein Stück zu viel sind. Also ich würde sagen, zehn Jahre Unterschied waren damals wahrscheinlich 'korrekt'. Dann hat der Mann einen Beruf gefunden, und dann sucht er sich eine junge Frau, die er dann auch ernähren kann. Das wird wahrscheinlich der ‚normale’ Altersunterschied zwischen Mann und Frau gewesen sein, den man als normal empfunden hat ...
    Funck: ... und bei zwanzig Jahren Altersunterschied taucht das "Tochter-Problem" auf?
    Von Ernst: Genau. Da könnte man die Geliebte auch mit der Tochter verwechseln. Und dann wird’s ein Problem. Aber den Altersunterschied halte ich eigentlich gar nicht so für das Entscheidende, sondern es geht hier wirklich mehr um den Unterschied der Mentalitäten in den 20er Jahren. Der Erste Weltkrieg war ein großer Bruch für die Gesellschaft, und er ist ein ganz anderer Mensch als sie.
    Funck: Ja, das habe ich auch so gelesen. Und ich fand vor allem interessant, dass in diesem Roman nicht zuletzt die Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter gestellt wird, auch in Liebesdingen. Und das hat hier natürlich viel mit der neuen Frauenbewegung zu tun. Und Borées Erzähler ist ja auch deshalb so fasziniert von der jungen Dor, weil die so unglaublich selbstbewusst wirkt. Sie studiert Medizin gegen den Willen der Eltern. Sie besteht bei Restaurant-Besuchen darauf, dass sie unbedingt selbst bezahlt und lässt sich eben nicht einladen. Sie pocht also wirklich auf ihre Unabhängigkeit, und die beiden Liebenden diskutieren dann ja auch mehrfach die emanzipatorische Frage. Glauben Sie auch, dass das der moderne Aspekt an diesem Roman ist?
    Verblüffend aktuell: Diskussion über Frauenemanzipation
    Von Ernst: Ja, und das ist genau der Aspekt gewesen, in dem sich viele junge Frauen damals wiedererkannt haben. Und worin sie auch die Situation der Zwischenzeit der 20er Jahre wiedererkannt haben, die einerseits noch viel von der alten, viktorianischen Kaiserzeit hatte, andererseits aber auch schon viel Neues im Angebot hatte. Man hatte als Frau plötzlich viel mehr Freiheiten. Aber gleichzeitig war die Gesellschaft ja noch gar nicht so weit. Und die Frauen selbst haben dann ja auch nicht jeden Schritt gleich gewagt. Das merkt man der Dor eben auch an. Die nimmt sich einerseits viele Freiheiten wie das Selber-Bezahlen, aber in anderen Punkten schreckt sie eben doch noch zurück. Und der Witz im Roman ist eigentlich, dass der Ältere, also er, der liebende Mann, sie noch viel mehr in Richtung Emanzipation pushen möchte. Aber in den Diskussionen schreckt sie davor zurück. Sie ruft zum Beispiel einmal an einer Stelle des Romans aus: "Puh, Emanzipation!" ...
    Funck: Ja, oder sie meint ein andermal sinngemäß: "Ach, so viel Freiheit, das ist es gar nicht so wert!"
    Von Ernst: Ja, sie will nicht in diese Schublade reingesetzt werden. Deshalb spricht sie sich dagegen aus.
    Funck: Ja, das fand ich wirklich interessant zu lesen, dass diese Figur auf mich sehr innerlich zerrissen wirkte. Einerseits nimmt sie sich diese Freiheitsrechte, studiert schon und lebt eigentlich ziemlich unabhängig. Und andererseits ist sie immer sehr darauf bedacht, dass sie perfekt aussieht. Sie verhält sich gegenüber ihrem älteren Liebhaber ja auch geradezu wie eine devote Kindfrau oft. Und was mich eigentlich besonders überrascht hat, das war ihre strikte sexuelle Verweigerung. Sie verhält sich hier ja fast wie ein Burgfräulein mit einem Keuschheitsgürtel und pocht strikt auf ihre Jungfernschaft vor de Ehe...?!
    Von Ernst: Ja, das ist eben dieses Durcheinander zwischen Tradition und Aufbruch. Und das hat auch Borée besonders fasziniert. Er hat darin so einen Anfang gesehen, den man unterstützen muss. Borée selbst kam ja aus einem sehr engen Elternhaus. Er ist 1886 in Görlitz geboren. Der Vater hatte eine chirurgische Klinik dort. Und bei seinen Eltern war es noch ganz spießig, bürgerlich-eng. Doch Borée hatte damals einen Schulkameraden mit einer Mutter, die Witwe war und die alleine ein Unternehmen geführt hat. Und diese Frau erwähnt er später als Vorbild und als eine Besonderheit in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. In den 20er Jahren traten solche selbstbewussten Frauen dann vermehrt auf. Und das wollte er beschreiben, auch als Hoffnung.
    Der Clou: Er ist emanzipierter als sie
    Funck: Ich hatte tatsächlich auch den Eindruck, dass in diesem Roman "Dor und der September" die Pointe eigentlich darin liegt, dass es ausgerechnet der erst einmal ziemlich altbacken wirkende Erzähler ist, der viel emanzipierter und feministischer eingestellt ist als die scheinbar so emanzipierte junge Dor. Würden sie mir da beipflichten?
    Von Ernst: Jaja! Einmal diskutieren die beiden ja auch über den "Faust". Und er sagt: "Ach, dieses Gretchen, das ist doch eigentlich nur ein blödes Heimchen am Herd! Die himmelt den Faust an und der kann mit ihr machen, was er will!" Also Goethes Gretchen findet er furchtbar. Und sie, also Dor, verteidigt das Gretchen dann aber. Und findet es gerade toll, dass Gretchen zu dem Faust aufschaut usw. Also auch da befindet er sich sozusagen überraschend auf der anderen Seite.
    Funck: Ja, und ich hatte sogar den Eindruck (und damit können wir die Interpretation dann auch abschließen), dass das eigentliche Problem zwischen den beiden gar nicht der große Altersunterschied ist oder die angebliche Verlobung von der Dor (die ja auch im Roman vorkommt), sondern dass das eigentliche Problem ist, dass die Dor eben nur halb emanzipiert ist. Und das ihr der ältere, verständnisvolle Liebhaber eigentlich ein bisschen zu verständnisvoll und zu zartfühlend ist. Er überlässt ihr ja auch immer die Entscheidungen Und mir kam’s so vor, als wenn sie das insgeheim stört. Als wenn ihr das eigentlich zu viel Freiheit ist?!
    Von Ernst: Ja, es gibt im Hintergrund ja tatsächlich noch einen anderen Mann, den sogenannten Verlobten von Dor. Der ist so eine Art Führer einer sozialdemokratischen Gruppe, hat ein Buch geschrieben. Also das ist jemand, zu dem sie mehr aufschaut, offensichtlich. Mehr der typische Führer-Typ. Und der ist so im Hintergrund als Gegenbeispiel wahrscheinlich, und sie steht zwischen diesen zwei Angeboten.
    Der Ältere, Verständnisvolle – und der andere, der wahrscheinlich fordernder ist. Und ich glaube auch, dass dieser Roman deshalb nicht nur ein 20er Jahre-Roman ist. Er schildert die Mentalität einer jungen Frau in den 20er Jahren. Aber im Grunde sind wir ja heute auch immer noch in einer fast ähnlichen Situation. Viele Frauen bleiben halt dabei stehen – und überhaupt die Gesellschaft bleibt dabei stehen, dass wir ganz stolz darauf sind, dass die Frauen heute selbst bezahlen. Aber die richtige Emanzipation, die könnten wir eigentlich immer noch ein bisschen mehr ansteuern.
    Funck: Apropos die 20er, 30er Jahre, die uns irgendwie immer näher rücken. Vielleicht können wir noch ganz kurz einmal auf Karl Friedrich Borée zu sprechen kommen. "Dor und der September", das ist ja der erste veröffentlichte Roman überhaupt von ihm. Und, wir sprachen es schon an, er wurde im Jahr 1930 ein großer Verkaufserfolg. Wie überraschend war dieser Erfolg eigentlich? Oder vielleicht sogar, wie sensationell?
    Von Ernst: Der Erfolg war absolut überraschend und sensationell. Borée ist Jahrgang 1886. Der war 44 Jahre, als dieser Roman erschien. Also ein Spät-Debütant. Und von so einem späten Debüt kann man nicht erwarten, dass das sofort so einschlägt in dieser Form. Aber es war so. Und das lag sicherlich auch am Verlag.

    Der Roman ist damals bei Rütten & Loening in Frankfurt erschienen. Und die Lektoren des Verlages, das erwähnt Borée auch explizit, die haben vorher sehr intensiv an dem Roman gearbeitet. Wilhelm Ernst Oswald und Adolf Neumann hießen die. Später ist der eine ins Exil getrieben worden, und der andere hat seinen Judenstern nicht getragen und wurde 1942 dafür getötet. Und der Verlag ist dann in den 30er Jahren verändert worden natürlich. Die Verleger mussten verkaufen, weil sie unter die Rassengesetze fielen. Und der zweite Roman von Borée war ein Anti-Kriegsroman, das kam natürlich auch nicht gut an. Der wurde verboten. Und Borée durfte als Autor zwar weiter veröffentlichen, ist aber praktisch nicht mehr besprochen worden.
    Viel gelesen, hochgelobt und schließlich doch vergessen
    Funck: Ja, woran lag das? Also weswegen geriet er dann auch nach den Nazis und nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr in Vergessenheit?
    Von Ernst: Weil er dann schon alt war. Borée hat spät debütiert, mit 44. Und er gehörte zu keiner prominenten Szene oder literarischen Gruppe. Er war eben nicht ein Freund von Klaus Mann oder Thomas Mann oder so etwas. Sein zweiter Roman fiel außerdem in die Nazi-Zeit und ist verboten worden. Das heißt, er hatte auch keine Chance, groß rezipiert zu werden. Und andere Sachen von ihm erschienen dann auch in Deutschland und waren dadurch von vornherein verdächtig nach dem Krieg. Und was dann nach dem Zweiten Weltkrieg von ihm erschien, das waren tolle, wunderbare Abrechnungen darüber, wie es überhaupt zur Judenverfolgung, zum Holocaust und zur Zerstörung Deutschlands kommen konnte. Tolle Sachen, aber dann gab es eben auch die jungen Leute, die sich mit diesen Themen auseinandergesetzt haben.
    Doch so ganz verstehe ich es ehrlich gesagt auch nicht, warum er so vollständig in Vergessenheit geraten konnte. Denn er hat ja dann später für den westdeutschen Literaturbetrieb durchaus Bedeutung gehabt. Borée war der Mitgründer des Westberliner Schriftstellerverbandes 1946 und dessen erster Vorsitzender. Er war einer der Sekretäre der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Und er hat viele Kolumnen geschrieben ...
    Funck: ... auch fürs Radio. Er war ja publizistisch tätig ... ?
    Von Ernst: ...ja, Radio. Und beim neugegründeten "Tagesspiegel" in Berlin war er Kolumnist und Theaterkritiker. Das heißt, er hatte für den Literaturbetrieb in der Nachkriegszeit schon eine gewisse Bedeutung.
    Aber er hat sich dann eben auch stark eingesetzt gegen die neue Diktatur im Osten, weil er klar erkannte, dass der Stalinismus auch nicht das Wahre war. Und ich glaube, dass hat ihm wiederum so einen Kalten-Krieger-Ruf eingebracht. Wahrscheinlich hat sich Borée mit seiner Ehrlichkeit einfach zwischen alle Stühle gesetzt. Ein Beispiel dafür ist auch sein Buch "Ein Abschied", das im besetzten Königsberg spielt. Obwohl das ein warmherziger Abschied von dieser deutschen Stadt ist, geht er hier hart mit den Deutschen ins Gericht, indem er sagt, dass nicht die Russen, sondern die Deutschen selbst schuld an der Zerstörung Königsbergs waren. Damit hat er sich’s natürlich auch auf der konservativen Seite in der Zeit verdorben. Und so saß er zwischen allen Stühlen – und am Ende ist das Vergessen von Borée wirklich so stark, wie ich das von keinem anderen Autor, den wir sonst entdecken, kenne. Borée ist, seit er tot war, einfach völlig aus dem Gedächtnis verschwunden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.