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Bedingungen für eine faire Entfaltung

Der Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker Franz Josef Radermacher hat eine gerechtere Gestaltung der Globalisierung gefordert. Die Strukturen der Weltwirtschaft führten dazu, dass die armen Länder "ihre Kinder für uns arbeiten lassen und sie unseren giftigen Müll bei sich verbuddeln". Daher brauche es eine ökosoziale Marktwirtschaft, sagte Radermacher.

Moderation: Christiane Kaess | 07.06.2007
    Christiane Kaess: Der G8-Gipfel ist nicht nur ein Treffen der Staats- und Regierungschefs, er ist auch ein Forum für Ideen, die sich, hochtrabend gesagt, um eine bessere Welt drehen. Viel beachtet wird dieser Tage der sogenannte Global Marshall Plan in Anlehnung an das wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm, mit dem Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg dem zerstörten Westeuropa unter die Arme griff. Das Konzept sieht vor, dass die reichen Länder jetzt das gleiche mit den armen tun. Klingt wie eine Utopie, schließlich geht es dabei um so etwas wie einen Weltvertrag, ein Steuerungs- und Regelsystem nämlich, das wirtschaftliche und ökologische Standards miteinander verzahnt. Und dennoch hat der Global Marshall Plan prominente Unterstützer in Politik und Wirtschaft gefunden, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel findet die Idee gut. Und deshalb wurde sie gestern auf dem G8-Gipfel vorgestellt von einem der Vordenker des Plans, dem Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker Franz Josef Radermacher. Was bedeutet die Einladung zum G8-Gipfel für ihre Pläne?

    Franz Josef Radermacher: Wir sehen darin ein starkes Zeichen der Ermutigung. Es gibt im Umfeld des G8-Gipfels, im Besonderen für die Journalisten aus dem Ausland, ein Sonderprogramm – "Deutschland - Land der Ideen" – Ideen für eine bessere Welt, der Global Marshall Plan ist eine der Ideen, die dort präsentiert wurden heute Morgen.

    Kaess: Die Grundidee ist eine Umverteilung von Reich nach Arm. Wie soll das denn – einfach ausgedrückt – funktionieren?

    Radermacher: Mir gefällt die Vorstellung von Umverteilung nicht.

    Kaess: Sondern?

    Radermacher: Sondern es geht eigentlich darum, dass der reiche Teil der Welt Bedingungen schafft, die dem Rest des Globus eine faire Entfaltung zulassen. Die heutigen Bedingungen sind so, dass es diese Fairness nicht gibt. Der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, der in diesen Tagen auch in Deutschland ist, auch in Heiligendamm sein wird, der mit seiner Idee der Mikrokredite hunderte Millionen Familien aus der Armut gebracht hat, er sagt immer, die Armut kommt nicht von den Menschen, die Armut kommt vom System. Wir haben ein globales System, das Armut erzeugt zum Vorteil bestimmter Akteure.

    Kaess: Was muss sich ändern?

    Radermacher: Wir müssen das weltökonomische System fair machen, in dem Sinne, wie soziale Marktwirtschaften zum Beispiel in Europa, in Japan, auch in den USA fair sind zu den Menschen. Dazu gehören bestimmte Rechtsstandards, dazu gehören Mindeststandards, um zum Beispiel sklavenartige Kinderarbeit auszuschließen, Standards, um die Plünderung der Umwelt zu verbieten. Das kann der Reiche mit dem Armen vereinbaren, aber nur unter der Bedingung, dass er Querfinanzierung leistet, weil sonst der Arme sagt, wenn ich meine Kinder nicht als Sklaven arbeiten lasse, verhungern sie. Wer will, dass es so etwas wie sklavenartige Kinderarbeit nicht gibt, muss querfinanzieren, dass Kinder zur Schule können.

    Kaess: Wie soll diese Querfinanzierung aussehen?

    Radermacher: Im Jahr 2000 haben 190 Staatschefs die Milleniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen unterschrieben. Ziel zwei heißt: Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung, dass im Jahr 2015 alle Kinder auf diesem Globus eine volle Grundschulausbildung bekommen – Jungen und Mädchen. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. Die gemeinsame Verantwortung besteht auch in Querfinanzierung. Es gibt jetzt Programme – "Schulen für Afrika" – in denen Menschen aus dem Norden beginnen zu helfen, dass tausende Schulen in Afrika entstehen. Aber wir brauchen mehr als solche Programme. Wir brauchen erhebliche Mittel von Seiten der Regierungen des Nordens für die Entwicklung des Südens, und wir brauchen dafür auch neue Finanzierungsinstrumente.

    Kaess: Welche wären das? Was wären so neue Finanzierungsinstrumente? Können Sie da ein Beispiel nennen?

    Radermacher: Ja, die größte Hebelwirkung würden Abgaben auf globale Transaktionen haben. Ich nehme mal zwei Beispiele. Wir argumentieren für eine Welthandelsabgabe, das wäre so etwas wie eine Weltmehrwertsteuer. Die würde den gehandelten Anteil der Produkte mit einem halben Prozent belasten und im Endpreis ist es etwa ein Prozent. Das ist ein Dreißigstel der Belastung, die die Mehrwertsteuer in Deutschland in diesem Jahr zusätzlich gebracht hat. Dieses Dreißigstel weltweit organisiert würde bereits zwei Drittel so viel Geld bringen, wie es heute auf diesem Globus überhaupt Entwicklungshilfegeld gibt.

    Kaess: Aber das heißt auch, alle Bürger müssten mitzahlen.

    Radermacher: Das ist so falsch formuliert, sondern die globalen Transaktionen müssten belastet werden. Die Belastung liegt im Moment dann bei einem Promille des Endpreises. Das ist das, worüber man auch bei fairem Handel redet. Also, die Belastung ist so minimal, dass der Bürger sie gar nicht merkt. Aber indem man bei diesen Prozessen mit großen Hebelwirkungen etwas tut, lassen sich die Mittel in enormer Größenordnung vergleichsweise leichter aufbringen. Und das würde auch gelten für das, was Attac schon immer fordert, nämlich eine Abgabe auf Weltfinanztransaktionen. Hier würde 0,01 Prozent des gehandelten Wertes schon ausreichen, um eine ähnlich große Summe zu generieren, wie wir sie eben für den Welthandel diskutiert haben. Und eine Kerosinsteuer wäre ein weiterer Mechanismus und damit würde man endlich mal anfangen, die Kosten zu zahlen, die wir im Welttransport an der Umwelt anrichten, ohne dass sie bezahlt werden. Diese Mittel würden dann eingesetzt für weltweite Entwicklungen.

    Kaess: Welche Rolle spielt in Ihrem Konzept die Öffnung der Märkte?

    Radermacher: Die Öffnung der Märkte spielt auch eine Rolle. Aber sie spielt nicht die Rolle, wie das normalerweise dargestellt wird. Es wird immer dargestellt als der große Hebel der freien Märkte. Das ist aber eher ein Hebel, der global betrachtet zu Plünderungsprozessen führt. Weil in diesen freien Märkten bezahlen dann zum Schluss die stärksten Akteure auch keine Steuern mehr und sitzen in ihrer Freiheit auf irgendwelchen Inseln wie Cayman Island. Auf Cayman Island laufen mehr Finanztransaktionen wie in ganz Afrika. Also, wir sind da vorsichtig. Wie sind mehr für das Konzept, dass der Ökonomie-Nobelpreisträger Stiglitz vorschlägt, nämlich ein Handelssystem, das asymmetrisch den schwächeren fördert. Wir brauchen asymmetrische Förderung. Das heißt der, der ökonomisch stark ist, muss dem, der ökonomisch schwächer ist, etwas ermöglichen, zum Beispiel Exporte von dem Ärmeren zum Reicheren, ohne dass der Ärmere immer dem Reicheren das gleiche eröffnen muss.

    Kaess: Es müssen sich in Ihrem Konzept auch die armen Länder zu Gegenleistungen verpflichten. Um welche Gegenleistungen geht es da?

    Radermacher: Es geht genau um diese Gegenleistungen, die eben schon angesprochen waren. Die armen Länder müssen darauf verzichten, dass sie ihren Wettbewerbsvorteil einsetzen, der darin besteht, dass ihre Kinder für uns arbeiten und sie unseren giftigen Müll bei sich verbuddeln. Das ist perverse Wertschöpfung, zu der der Arme heute gezwungen ist, weil das globale System ihm nur das lässt. Die reiche Welt ist oft sehr scheinheilig heuchlerisch. Sie tut so, als würde sie natürlich wollen, dass der Arme seine Kinder nicht arbeiten lässt und auch den Dreck des Reichen nicht verbuddelt. Aber der Reiche erzeugt Bedingungen, unter denen der Arme letztlich nur noch das tun kann, so dass der Reiche dann in dem komfortablen Zustand ist, dass er billige Produkte kauft, die von Kindern produziert wurden, und auch noch so tun kann, als wäre er eigentlich gar nicht dafür.

    Kaess: Herr Radermacher, Ihr Konzept ist nicht kritiklos geblieben oder ist auch kritisiert worden. Attac zum Beispiel kritisiert, dass das ganze Konzept wieder auf Liberalisierung als Entwicklungsstrategie setzt und auf genau das, was zum Beispiel auch in vielen Weltbankprogrammen die Grundlage war. Diese haben genau viele arme Länder noch ärmer gemacht.

    Radermacher: Also zunächst mal sind wir voll der Attac-Position, dass die Art, wie etwa Weltbank und IWF unter Washington Konsensus Entwicklungen gefördert haben, genau Mechanismen der Plünderung waren. Wir haben Kritik von beiden Seiten. Es gibt Marktfundamentalisten, die sagen, okay, das sind Sozialisten, die wollen hier umverteilen. Wir hatten Kritik einzelner Vertreter von Attac, die sagten, diese Global-Marshall-Plan-Leute sind doch zu sehr Marktwirtschaftler und Freimarkt orientiert. Wir sind nicht Freimarkt orientiert, wir sind ökosozial und interessanterweise kommt in diesen Tagen zum Evangelischen Kirchentag eine Publikation des Publik Forum heraus, in dem drei Gruppen zusammen ein ganzes Heft gestalten zu einer besseren Globalisierung. Es ist Attac, es ist die Evangelische Arbeitnehmerorganisation und es ist der Global Marshall Plan. Also diese Kritik gerade von Einzelnen von Attac, die ist kaum mehr zu hören. Und auch von der anderen Seite hören wir die Kritik kaum noch, weil wir mittlerweile haben klar machen können, wir sind für Markt, aber für ökosoziale Marktwirtschaft, und die beinhaltet etwa im Welthandel Asymmetrie à la Stiglitz. Und wir kämpfen für ein System, das letzten Endes dem Ärmeren das Aufholen ermöglicht, und für ein System, in dem der Reiche und der Arme zusammen die Umwelt schützen, sodass wir zusammen eine langfristige Perspektive haben.

    Kaess: Nun haben Sie das Konzept in Heiligendamm oder auf dem G8-Gipfel vorgestellt. Was erwarten Sie sich von der Politik?

    Radermacher: Ich erwarte von der Politik, dass sie in Heiligendamm wenigstens kleine Schritte tut, viel mehr ist im Moment sowieso nicht drin. Vor allen Dingen wegen der Fundamentalblockade von Seiten der USA.

    Kaess: Welche Fundamentalblockade meinen Sie jetzt?

    Radermacher: Es gibt zwei Fundamentalblockaden. Die USA weigern sich zum einen für jede Art von konstruktivem Beitrag zur Klimathematik. Und die andere Seite ist, die USA sind die, die die wenigste Entwicklungshilfe zahlen. Sie zahlen nur 0,11 Prozent statt der versprochenen 0,7. Davon muss noch die Hälfte in den USA ausgegeben werden. Die USA wenden sich gegen jede Form internationaler Vereinbarung über Hilfe. Die USA wehren sich auch gegen jede internationale Konstruktion unter der UNO für mehr Gerechtigkeit. Sie wollen keinen internationalen Strafgerichtshof, sie blockieren praktisch jeden globalen Prozess der Veränderung in Richtung ökosoziales Modell. Es ist Aufgabe der Europäer – vielleicht mit Japan zusammen – die Gegenposition zu vertreten. Frau Merkel macht das sehr gut. Ich bin froh, dass sie sich nicht hat dazu überreden lassen, in der Klimafrage aus dem UN-Konvoi auszuscheren. Sie will eine Lösung unter dem Dach der UN. Eine solche Lösung braucht die Welt, und die USA müssen sich in diese Lösung einbringen. Ersatzweise: Die Welt muss eine Lösung ohne die USA produzieren.