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"Bedroht, abgehängt, ausgeschlossen"

Zu Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise haben immer mehr Menschen Angst vor dem sozialen Abstieg, vor Arbeitslosigkeit und einem sinkenden Lebensstandard. In diesem allgemeinen Klima der Verunsicherung hat das Hamburger Institut für Sozialwissenschaften eine Vortragsreihe initiiert: "Bedroht, abgehängt, ausgeschlossen. Symptome sozialer Spaltung" beschäftigt sich mit den Veränderungen der Arbeitswelt, des Sozialstaates und der Generationenbeziehungen.

Von Ursula Storost | 13.11.2008
    Zehn Millionen Menschen sind es, die laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey fürchten müssen, bis zum Jahr 2020 sozial abzusteigen. Eine Talfahrt - der Abstieg aus der Mittelschicht.

    "Das hat vor allen Dingen mit drei Dingen zu tun: Zum einen mit den Veränderungen der Arbeitswelt, das heißt, wir treffen auch in mittelständischen Berufen immer stärker Formen prekärer Beschäftigung an, der Leiharbeit, der befristeten Beschäftigung, der ein Euro Jobs et cetera."

    Der Soziologe Bethold Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung hat sich mit Abstiegsängsten der Deutschen beschäftigt.

    "Der andere Punkt ist der, dass sich die wohlfahrtsstaatliche Sicherung in den vergangenen Jahren erheblich verändert hat. Also, die Frage der Statussicherheit stellt sich neu und betrifft natürlich diejenigen, die Status erworben haben. Und eben sehr aktuell die Entwicklung der Finanzmärkte, auch das trifft natürlich die Mittelschicht in einer besonderen Weise."

    Ein einheitliches Bild der Mittelklasse, eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, wie sie 1953 der Soziologe Helmut Schelsky beschrieben hat, gebe es heute nicht mehr, konstatiert Berthold Vogel.

    "Denken Sie an den Automobilbau, die chemische Industrie, den Maschinenbau. Das waren eigentlich Orte von beruflicher Stabilität, von sozialer Stabilität, von guten Tarifverträgen, guten arbeitsrechtlichen Bedingungen unter denen dort Arbeit stattgefunden hat. Dieses Feld industrieller Facharbeiterschaft hat sich aber durch die Zunahme von Leiharbeit in nahezu allen Branchen, durch Zunahme befristeter Beschäftigung sehr grundlegend verändert."

    Weniger Zukunftssicherheit, geringerer Lohn. Was für die Facharbeiter gelte, gelte auch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in den Wohlfahrtsverbänden, sagt Berthold Vogel.

    "Man könnte von einer regelrechten Verminijobbung der öffentlichen Dienste sprechen. Denken Sie an den Bereich der Gesundheitspflege, denke Sie an den Bereich der Bildung."

    Warum, so könnte man fragen, werden die Gewerkschaften hier nicht stärker aktiv und verteidigen die Arbeitsverhältnis? Sie sind in der Klemme, sagt Berthold Vogel. Viele Arbeitnehmer heute denken nicht kollektiv sondern individuell.

    "Man möchte selber sich unterschiedliche Perspektiven offen halten in der Arbeit, man fühlt sich stark genug, Arbeitsbedingungen selber bestimmen zu können, man möchte sich das nicht alles regulieren lassen durch arbeitsrechtliche Vorschriften und Tarifverträge."

    Dieser Teil der Arbeitnehmer ist meist jung, sehr gut ausgebildet und stark nachgefragt.

    "Das ist gewiss nicht die Mehrheit. Aber das ist eine relevante Gruppe innerhalb der Arbeitnehmerschaft, die tonangebend ist und insofern auch das betriebliche und gesellschaftliche Klima mit beeinflussen kann."

    Es gibt deutliche Risse in unserer Gesellschaft, behauptet auch der Soziologe Heinz Bude. Er leitet am Hamburger Institut für Sozialforschung den Arbeitsbereich "Die Gesellschaft der Bundesrepublik".

    "Wenn Sie in die Hochproduktivitätsökonomie in Baden-Württemberg beispielsweise gehen. Medizintechnik, Werkzeugmaschinenbau, sagen Ihnen die Personalchefs: Wir brauchen Leute, es gibt niemand. Und wenn man dann darauf hinweist, ich wüsste da ein paar, dann sagen die: Ich weiß, von wem Sie reden. Da sehe ich auf den ersten Blick, dass ich sie nicht gebrauchen kann. Das sind diese etwas Trägen, wo man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnt, dass die gar nicht in der Lage sind, die Selbstverantwortlichkeit an den Tag zu legen, die wir hier im Betrieb brauchen."

    Ein großes Problem der Gesellschaft bestehe darin, dass Menschen von vornherein ausgegrenzt würden, sagt Heinz Bude. Gefragt seien heute vor allen Dingen Abschlüsse, Fortbildungen, Zertifikate.

    "Man könnte soziologisch von einer Art sekundären Stigmatisierung sprechen, die daher kommt, dass im Grunde die Zertifizierungslogik immer höher getrieben wird, unterstützt von einem bildungsindustriellen Komplex, der genau Indikatoren erarbeitet, wen man eigentlich für was in der sogenannten Wissensgesellschaft der Zukunft brauchen kann."

    Dabei sei die vielbeschworene Wissensgesellschaft eine Fiktion, behauptet Heinz Bude. Es gäbe viele Bereiche, in denen man auch in Zukunft ohne komplexes Fachwissen gefragt sei.

    "Vor allen Dingen, was die Altenbetreuung, was den Gesundheitsbereich betrifft. Aber natürlich auch, wenn Sie daran denken, dass wir jetzt überall Sicherheitsdienste in unserer Gesellschaft eingerichtet haben. Also, das ist ein Bereich, wo sehr viel passiert und man nicht unbedingt sagen kann, dass man für diesen Bereich nun unbedingt wissen muss, wie die Bundesversammlung zusammengesetzt ist, die den Bundespräsidenten wählt."

    Einer Umfrage zufolge glauben derzeit zwischen acht und zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, in dieser Gesellschaft überflüssig zu sein, nicht gebraucht zu werden. Das sind, so Heinz Bude, vor allem junge Menschen mit geringen beruflichen Qualifikationen.

    "Dass von der gesamten öffentlichen Thematisierung ihnen schon deutlich gemacht wird, dass es auf sie nicht mehr ankommt. Dass sie allenfalls eine Chance haben, mit Problemen auf sich aufmerksam zu machen, aber nicht mit produktiven Tätigkeiten."

    Eine politisch gewollte Spaltung gebe es derzeit auch zwischen aktiven und den nicht-aktiven Bundesbürgern, behauptet Stephan Lessenich. Er ist Soziologe an der Friederich Schiller Universität in Jena.

    "Es fängt mit dem erwerbsfähigen Arbeitslosen an. Da setzt Hartz IV an mit der Diagnose, wir haben Arbeitslose, die eigentlich erwerbsfähig wären, aber nicht erwerbstätig sind. Da hat man umgestellt von einer Erklärung, das sind wirtschaftsstrukturelle Probleme, der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft. Die Problemdiagnose war im Wesentlichen: Die Leute bemühen sich nicht genug, die sind nicht aktiv genug, eigentätig genug in der Suche nach Arbeit. Und dann wird eben hier gesagt: Hier muss man stärker eigenverantwortlich initiativ werden, um die Chance zu suchen und zu finden, auf den Arbeitsmarkt wieder einzutreten."

    Der Wohlfahrtsstaat des 19. Jahrhunderts gehört endgültig der Vergangenheit an, analysiert Stephan Lessenich. Heute heißt es: Hilf dir selbst, dann kannst du vielleicht auf staatliche Hilfe hoffen.

    "Diese ganze Babyboomer Generation, meine Alterskohorte, die in 20, 25 Jahren in die Rente gehen wird, von der wird gesagt: Mehr eigentätig Altersvorsorge betreiben, schon mal drauf einstellen, dass man länger arbeiten muss und sich auch umorientieren muss, auch im späteren Alter noch mal umorientieren muss, eigentätig sich noch neue Beschäftigung suchen muss. Auch im höheren Alter."

    Aber, so Lessenich, heutzutage seien die Menschen nicht nur gefordert, für sich selbst zu sorgen. Sie sollen zusätzlich einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.

    "Es wird Eigenverantwortlichkeit verlangt und Sozialverantwortlichkeit. Den erwerbsfähige Arbeitslosen, wird gesagt, ihr müsst euch bemühen, wieder in die Arbeit zu kommen, zum Schutze der Versichertengemeinschaft oder der Steuerzahlergemeinschaft. Ihr liegt der Allgemeinheit auf der Tasche."

    Was also tun, um gesellschaftliche Spaltung und Abstiegsängste zu vermeiden? Der Soziologe Berthold Vogel fordert mehr Fantasie in der Sozialpolitik. Flexibilität und Sicherheit müssten Hand in Hand gehen. Neue tarifvertragliche Regelungen würden gebraucht, damit die Menschen wieder vertrauensvoll in die Zukunft blicken könnten.

    "Wir sind also keineswegs nur die Opfer irgendwelcher globalen Entwicklung, sondern wir haben im nationalenstaatlichen Rahmen, im europäischen Rahmen immer noch die Möglichkeit, den Wohlfahrtstaat, die Arbeitswelt zu justieren. Und im Moment sieht es ja so aus, dass man sich doch wieder etwas stärker auf die politische Gestaltbarkeit besinnt und die Gesellschaft nicht mehr alleine unter betriebswirtschaftlichen Kriterien betrachtet. Also: In der Tat wieder stärker Fragen des Gemeinwohls in den Mittelpunkt stellt, auch der politischen Bemühungen."