Samstag, 20. April 2024

Bedrohte Justiz
Verfassungsrichter Voßkuhle mahnt zu mehr Gelassenheit

In Ungarn, Polen, der Türkei und den USA setzten sich antidemokratische Grundhaltungen durch, die auch eine Gefahr für die Justiz darstellten, sagte Andreas Voßkuhle beim Dlf-Podiumsgespräch. In Deutschland seien die Gerichte derzeit allerdings nicht in Gefahr, so der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes.

Andreas Voßkuhle im Gespräch mit Stephan Detjen und Sabrina Gaisbauer | 10.11.2017
    Andreas Voßkuhle (r), Vorsitzender des Zweiten Senats und Präsident des Gerichts, eröffnet in Karlsruhe die mündliche Verhandlung über ein Verbot der rechtsextremen NPD beim Bundesverfassungsgericht, links Peter Huber.
    Andreas Voßkuhle (r), Präsident des Bundesverfassungsgericht, hier zu sehen in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Inwieweit stehen die unabhängigen Gerichte unter Druck durch autoritäre Bewegungen in Europa? Und müssen wir auch in Deutschland befürchten, dass durch den Einzug der AfD in den Bundestag und der Etablierung einer antiliberalen Debattenkultur die Demokratie schleichend ausgehöhlt wird? Fragen, zu denen heute Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Stellung nahm - als Gast der Deutschlandfunk-Konferenz "Formate des Politischen".
    Eine politische Zäsur in Europa
    Voßkuhle sprach in Bezug auf Europa von einer politischen Zäsur. Man könne nicht alle autoritären Krisenphänomene in Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei oder den USA über einen Kamm scheren. Gemeinsam sei jedoch allen Bewegungen, dass sich dort populistische, antidemokratische Grundhaltungen durchsetzten - dazu gehöre, dass diejenigen, die eine andere Meinung vertreten als Volksfeinde definiert werden, die man bekämpfen muss, so Voßkuhle.
    "Deshalb ist es kein Zufall, dass in den Ländern, in denen wir totalitäre Bestrebungen erkennen, der erste Zugriff dem Verfassungsgericht gilt. Weil es auch die letzte Institution in der Regel ist, die in der Lage ist, Einschränkungen der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, andere Fragen des Prozederes der Rechtsstaatlichkeit noch zu schützen. Wenn ich das getan habe, dann gehe ich normalerweise an die Presse."
    Angriffe auf die Justiz
    Die Techniken, wie die obersten Gerichte ausgeschaltet werden, sind da sehr variabel, führte Voßkuhle aus. Man könne die Richter verhaften und in Gefängnis stecken, man könne das sogenannte Court-Packing anwenden, indem man die Zahl der Verfassungsrichter etwa von 10 auf 15 erhöht und die zusätzlichen fünf mit eigenen politischen Gefolgsmännern besetzt. Oder indem man ganz simpel das Gericht dazu verpflichte, sämtliche Verfahren nach Eingang abzuarbeiten - wie dies gegenwärtig in Polen der Fall ist.
    "Hört sich ganz unspektakulär an, führt aber dazu, dass Sie zu den aktuellen Missständen als Gericht nichts sagen können. Weil Sie in der Regel noch tausend Verfahren haben, die Sie vorher erledigen müssen. Auch mit solchen ganz kleinen, unspektakulären Regeln kann man ein Verfassungsgericht außer Kraft setzen."
    Derzeit laufen in Brüssel zwei Verfahren gegen Rechtstaatlichkeitsverstöße, gegen Polen und Ungarn. Doch ob die Instrumente der EU ausreichen, um die Angriffe auf die Justiz abzuwehren, das sieht der oberste deutsche Richter mit Skepsis.
    "Wir müssen konstatieren, dass wir uns letztendlich beruhigt haben in der Vergangenheit, dass ein solcher Zustand nicht eintreten wird. Und dass wir deswegen auf die Instrumente auch nicht sehr geachtet haben. Die sind harmlos, weil sie davon ausgehen, dass das in einer modernen europäischen Union eben nicht stattfindet. Insofern gibt es eine gewisse Hilflosigkeit im Augenblick, was die Instrumente angeht."
    Politische Kultur in Deutschland "stabil"
    In Bezug auf die aktuellen Entwicklungen in Deutschland mahnt Voßkuhle dagegen zu mehr Gelassenheit. Mit dem Grundgesetz hätte Deutschland eine starke Grundlage, im Vergleich zu vielen anderen Ländern sei die politische Kultur hierzulande sehr gut entwickelt und daher auch stabiler. Guter Streit könne auch mal emotional geführt werden, überspitzen oder vereinfachen - solange der andere nicht als Feind betrachtet werde und man sich gegenseitig zuhöre.
    In diesem Zusammenhang sieht er auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die NPD nicht zu verbieten, weil sie zu marginal sei, um die Demokratie ernsthaft zu gefährden. Der Gedanke der Freiheit wiege da schwerer, erklärte Voßkuhle - auch weil das deutsche Bundesverfassungsgericht mittlerweile weltweit großen Einfluss ausübe.
    "Das, was wir da entscheiden, wird weltweit der Maßstab sein. Das ist der 'Gold Standard' für Parteiverbote. Das heißt, wenn wir das sozusagen sehr locker formulieren, dann werden auch sehr viele Parteien sehr schnell verboten. Und insofern haben wir auch eine Verantwortung in unserer Rolle als führendes Verfassungsgericht in der Welt."
    Der US Supreme Court habe dagegen in den letzten 20 Jahren an Einfluss verloren, weil es über die Neubesetzung von Richterposten "hochpolitisiert" worden sei - seine Entscheidungen seien daher in hohem Maße vorhersehbar geworden.