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Bedürfnis zu beschützen ist immer da

Rund 200.000 Menschen waren in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert. Manche Kinder erlebten die Verhaftung ihrer Eltern mit und litten unter der Trennung während der Haftzeit. Zwei aktuelle Studien befassen sich mit diesem Thema.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 20.01.2011
    Nadine Peters war gerade volljährig, als ihr Vater auf der Straße in Ostberlin verhaftet wurde. Bald darauf kamen die Mitarbeiter der Staatssicherheit auch zu ihr nach Hause und nahmen in ihrem Beisein die Mutter fest - ein furchtbarer Moment, diese in Handschellen zu sehen, sagt die heute 46-Jährige, die ihren Namen hier nicht genannt haben will.

    "Es ist definitiv ein Thema, was einen nicht mehr loslässt. Sechs Jahre waren jetzt die Zeit vom Anfang der Inhaftierung meiner Eltern und dann bis zu unserer eigenen Inhaftierung, meines Bruders, meiner Schwägerin und mir. Also ich kann es nicht verdauen. Ich mache mittlerweile die zweite Therapie. Manchmal denke ich so: Man ist nicht mehr im Gefängnis, aber man hat sein eigenes Gefängnis."

    Ein Jahr vor ihrer ersten Verhaftung hatten sich die Eltern in der deutschen Botschaft in Budapest erkundigt, wie sie aus der DDR ausreisen könnten. Weil ihnen davon abgeraten wurde, ließen sie den Plan wieder fallen. Dennoch geriet die Familie in einen Kreislauf aus Beobachtung, Haft und erneuter Überwachung.

    Nach mehr als zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen, stellten die Eltern einen Ausreiseantrag. Daraufhin wurde im November 1986 bis auf einen Bruder diesmal die gesamte Familie verhaftet, auch Nadine Peters. Infolge einer Amnestie kam sie nach einem Jahr wieder frei - allerdings nicht in den Westen sondern in die heimatliche Kleinstadt in der DDR.

    Das Schicksal ihrer Eltern belastet Nadine Peters mehr als alles andere:

    "Für mich ist emotional vordergründig die Verhaftung meiner Eltern, nach wie vor. Und das war auch damals, als wir dann auch verhaftet wurden - das hat mir so leid getan, dass meine Eltern zum zweiten Mal ins Gefängnis gekommen sind. Und meine Mutter hat auch einen Selbstmordversuch unternommen, was zum Glück nicht geklappt hat. Also die waren schon durch die zweieinhalb Jahre Haft vorher, waren sie natürlich angeschlagen. Also das ist ja ein Bruch im Lebensweg. An erster Stelle standen meine Eltern für mich. Das fand ich am Furchtbarsten. Und ich habe mich da gar nicht so wahrgenommen."

    Wie steht es heute um die Kinder der rund 200.000 Menschen, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert wurden? Bislang wusste man nur wenig über die Söhne und Töchter von Oppositionellen, Ausgegrenzten und Ausreisewilligen. Der transgenerationalen Übertragung politischer Traumata - aus der Holocaust-Forschung bereits bekannt - widmen sich derzeit zwei Studien in Berlin und Leipzig.

    Stefan Trobisch-Lütge leitet in der Hauptstadt die Beratungsstelle "Gegenwind" für jene, die in der DDR politisch inhaftiert waren. Er untersucht derzeit die Einstellung von Töchtern und Söhnen zu der Haft ihrer Eltern. Dazu hat er zehn "Kinder" - heute im Alter zwischen 20 und 50 Jahren - nach ihren sehr unterschiedlichen Schicksalen befragt:

    "Also das heißt konkret, dass sowohl Kinder, die erst nach den Hafterfahrungen der Eltern geboren wurden, Teil der Studie waren. Es waren Kinder, die teilweise in die Inhaftierungsvorgänge der Eltern verwickelt wurden sind, das miterlebt haben in unterschiedlichen Altersstufen. Es gibt Kinder, die sehr früh von den inhaftierten Eltern zum Beispiel durch Zwangsadoption getrennt worden sind. Es gibt Kinder, deren Eltern mit einem sehr problematischen Verhalten nach der Verfolgung reagiert haben bis hin zu Suizid. Und es gibt auch in Anführungszeichen einen eher konstruktiven Umgang mit der Verfolgungsproblematik bei einzelnen verfolgten Eltern. Und eben auch hier dann der Blick darauf, wie die Nachkommen darauf reagieren."

    "Eigentlich sollen die Eltern einen beschützen, aber man will es andersrum machen. Weil man auch weiß, wie viel Leid sie ja auch im Gefängnis erfahren haben. Also wir hatten auch Leid, auch außerhalb des Gefängnisses. Weil man konnte ja nicht einfach gehen. Man war ja schon innerhalb der Grenzen gefangen."

    Das Ergebnis der Untersuchung ist eindeutig: Für alle Befragten spielt die Verfolgung der Eltern eine bedeutsame Rolle in ihrer Biografie, sagt Trobisch-Lütge:

    "Prinzipiell sind alle der Befragten in mehr oder minder großem Umfang mit diesem Thema beschäftigt und sind auf der Suche nach Aufklärung der damaligen Vorgänge. Also alle sind sehr intensiv in unterschiedlicher Ausprägung damit beschäftigt, die Spuren der Vergangenheit zu klären."

    Dennoch zeigen sich deutliche Unterschiede. Die einen beschäftigen sich mehr mit dem eigenen Schicksal, die anderen, übermäßig empathisch, mit dem elterlichen Leid - in unterschiedlichen Abstufungen. Trobisch-Lütge trennt deshalb die Nachkommen politisch Inhaftierter in vier verschiedene Gruppen.

    Der Psychologe vergleicht ihren inneren Dialog mit sich und den Eltern mit einer Art innerem Gerichtssaal, in dem verschiedene Rollen zu vergeben seien:

    "Und die Kinder der Verfolgten finden sich in unterschiedlichen Rollen wieder und versetzen sich und auch ihre Eltern in unterschiedliche Rollen. Das heißt, teilweise sind die Kinder die Ankläger, teilweise sind sie die Richter, teilweise kommen sie mit den Eltern auf die Anklagebank, klagen sich auch selber für bestimmte Dinge an, zum Beispiel bestimme Dinge nicht früh genug erkannt zu haben und so weiter."

    Auch die Pilotstudie des Universitätsklinikums Leipzig befasst sich mit den transgenerationalen Effekten nach politischer Inhaftierung in der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone, und in der DDR.

    Dafür interviewten die Psychologen erstmals betroffene "Kinder" per Fragebogen. Dabei stellten sie einerseits fest, dass von den mehr als 40 Befragten im Alter zwischen 21 und 83 Jahren überdurchschnittlich viele psychopathologisch belastet sind. Andererseits seien viele durch die traumatische Erfahrung ihrer Eltern nicht beeinträchtigt, sagt die Psychologin Grit Klinitzke:

    "Also wir haben zum Beispiel gefunden, dass die Hälfte der Befragten ein unterschwelliges leichtes depressives Syndrom aufweist, oder dass knapp unter die Hälfte eine Ängstlichkeit aufweisen, die über dem Normalbereich liegt. Das heißt also andersherum, dass die andere Hälfte gesund bleibt. Dass die andere Hälfte keine klinisch auffälligen Symptome aufweist. Das ist nämlich auch ein großer Befund, dass die andere Hälfte ganz normal weiter mit den Erlebnissen der Eltern, mit der Familienbiografie lebt und niemals oder bis zum heutigen Zeitpunkt nicht klinisch auffällig geworden sind."

    Die einen verfügen über psychische Widerstandskraft und fühlen sich durch Freunde und Familie unterstützt. Die anderen sind anfällig für psychosomatische Beschwerden und posttraumatische Belastungssymptome. Sie beschreiben sich selber als distanziert und misstrauisch, können Nähe nur schlecht ertragen.

    "Das ist schon so dieses Gefühl der Einsamkeit, das ist nach wie vor ganz doll. Auch wenn der Grund nicht mehr vorhanden ist, sich nicht zu verschließen, ist es so 'ne Sache, die sich eingeprägt hat. Also dieses Misstrauen, was man über Jahre sich erworben hat - ich kann nicht sagen, dass das weggeht."

    "Was sehr spannend an dieser Geschichte ist, dass wenn man sich diejenigen Nachkommen ansieht, die schon geboren waren als die Eltern in Haft waren, die sind genauso belastet wie diejenigen, die noch nicht geboren waren. Also das heißt, selbst Kinder, die die Inhaftierung der Eltern gar nicht bewusst miterlebt haben, die also noch nicht geboren waren, zeigen heute aktuell eine erhöhte psychopathologische Belastung.""

    Für Grit Klinitzke bestätigt sich damit, was schon aus der Holocaust-Forschung bekannt ist: Traumatische Erfahrungen können sich auch indirekt auf die nachfolgende Generation übertragen - sei es über den Erziehungsstil oder über das Bindungsverhalten der Eltern.

    Das ernüchternde Ergebnis der beiden Studien ist, dass die Stasi nicht nur viele Einzelne, sondern dauerhaft ganze Familien geschädigt hat. Trobisch-Lütge:

    ""Das Überraschendste ist für mich wirklich, dass im Grunde bestimmte Inhalte von Zersetzungsmaßnahmen sich in den Eltern-Kind-Kontakten widerspiegeln. Das ist eigentlich das Erstaunliche."

    "Also man verlässt nicht die Eltern. Und die Eltern verlassen das Kind nicht. Was ja eine normale Sache ist eigentlich, dass man so weggeht. Und, das ist nicht möglich. Also ich kann das nicht. Man kann versuchen, sich etwas zu entfernen, also dieses Bedürfnis, die immer noch zu beschützen, das ist immer noch da. Das ist die verkehrte Rolle, finde ich, für ein Kind."