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Beeindruckender Wutschmerz

Die Tänzerin und Choreografin Meg Stuart inszeniert das Scheitern, seit 1994. Und damit hat sie stilbildend gewirkt auf den zeitgenössischen Tanz, vor allem in Deutschland. In ihrem neuen Stück kehrt sie zurück zu ihren Anfängen, hinterfragt die eigene Ästhetik mit "Violet".

Von Nicole Strecker | 08.07.2011
    Ein Choreograf kann noch so sehr das Abstrakte wollen, die pure Bewegung skelettieren, ganz ohne das Fleisch von Ausdruck und Erzählung - im Kopf des Zuschauers wird an den Chiffren dann doch wieder so lange herumgedeutelt, bis sie irgendetwas erzählen. Ein Körper auf der Bühne wird die Last der Repräsentation nicht los - das wusste Meg Stuart schon, bevor sie mit "Violet" ein, wie es vorab hieß, abstraktes Stück kreieren wollte. Und sie hat es trotzdem getan.

    Eine meterhohe schwarze, leicht gebogene Plastikwand begrenzt den Bühnenhintergrund. Sie glänzt wie Latex und spiegelt manchmal schemenhaft und verzerrt die Tänzerkörper. Vor ihr stehen drei Männer und zwei Frauen in Alltagsklamotten von erlesen schlechtem Geschmack. Fünf sehr individuelle Tänzertypen, zu Beginn scheinbar bewegungslos. Nur langsam beleben sich ihre Körper, vor allem die Hände und Arme. Als wäre sie eine fremde Gliedmaße beginnt eine Hand sich nach außen in eine unnatürliche Position zu drehen, ein Arm hebt und senkt sich so roboterhaft als hätte sich der Körperteil verselbstständigt und werde wie bei der neurologischen Störung des "Alien Hand Syndroms" nicht mehr vom Bewusstsein kontrolliert.

    Maschinenmenschen. Ein triadisches Ballett in Meg Stuarts Version. Später wird noch der übliche Zitter-Zappel-Zuck-Stil der Choreografin dazukommen. Körper, die ein namenloser Schmerz zu erschüttern scheint. Kreaturen, die Krämpfe, Spasmen und Ticks vorwärts, bis in den erschöpften Kollaps treiben. Dazu ein dröhnender Industrie-Soundtrack vom live auf der Bühne spielenden Komponisten Brendan Dougherty, der mit seiner dauerhaften Lautstärke auch für den Zuschauer zur physischen Anstrengung wird.

    Früher waren Stuarts Extrem-Bewegungen durch einen Kontext, ein Thema motiviert. In den ergiebigsten Schreckenskammern der Menschheit hat sie schon gestöbert, hat sich von Liebesmartern, Familienhöllen, Naturkatastrophen, oder plastischer Chirurgie und "Humanoptimierung" inspirieren lassen. Und immer ist auf ihrer Bühne dann nichts so lebendig wie das Kaputte.

    In "Violet" nun arrangiert sie ihre Tänzer in fast Cunningham'scher Manier als Bewegungsträger und energetische Muster im Raum. Sie befragt ihr Vokabular, zeigt seine emotional überwältigende Kraft und bizarre Fremdheit: Ein Mann kreiselt auf verschiedenen Körperebenen, als jongliere er mehrere Hula-Hoop-Reifen. Eine Frau fuchtelt mit den Armen wie eine herumorakelnde Hexe. Und irgendwann liegen drei Tänzer auf dem Bauch, ihre Oberkörper pumpen auf und ab fast wie in einem Unisono - und doch sieht die Bewegung bei jedem anders aus: Die eine scheint von einem Weinen geschüttelt, eine andere schaukelt rhythmisch wie bei einer Kopulationsbewegung, und bei einem dritten werden die Ruckler so heftig, als wären sie die letzten Erschütterungen einer verendenden Kreatur. Nur Nuancen entscheiden über den Ausdruck.

    Von der behutsamen Animation über den hysterischen Ausbruch bis letztlich zur unausweichlichen langgezogenen Depression - der Abend demonstriert ebenso den Variantenreichtum von Meg Stuarts Vokabular, wie auch seine Vorliebe für die Verzweiflung. Und so beeindruckt am Ende, trotz Abstraktion und puristischer Bewegungsforschung, halt doch wieder vor allem der Stuart'sche Wutschmerz. Für illusionslosen Existenzialismus braucht es keinen Grund.