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Beengende Mutterliebe

Mit seinem Roman "Söhne und Liebhaber" versuchte sich der Schriftsteller D.H. Lawrence von den Fesseln der eigenen Mutterbeziehung zu befreien. In der dreieinhalbstündigen Hörspielproduktion verdichtet sich der Text zu einem atmosphärischen Meisterwerk.

Von Florian Felix Weyh | 11.07.2013
    Erzähler: "Als er sich zu seiner Mutter beugte, um ihr einen Kuss zu geben, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, barg ihr Gesicht an seiner Schulter."
    Mutter: "Ich kann es nicht ertragen! Jede andere Frau ja, aber nicht sie. Sie würde mir keinen Platz lassen. Und ich habe nie – das weißt du, Paul –, ich habe nie einen Ehemann gehabt. Keinen richtigen."

    Von Kierkegaard gibt es einen wunderbaren Satz: "Das Leben wird vorwärts gelebt - und rückwärts begriffen.” Wenn Literatur Biografien abbildet, gilt er nicht minder; auch hier enthält das Ende oft einen verdichteten Kern, der Rückschlüsse auf den gesamten Verlauf des Lebens zulässt und dessen innere Motivik freilegt.

    Erzähler: "Still und zusammengerollt lag sie da, das Gesicht in der Hand. Er kniete nieder, schmiegte sein Gesicht an ihres und schlang seine Arme um sie."
    Paul: "Meine Einzige ... meine Einzige ... Liebste. Ach, meine Einzige!"

    Ein junger Mann am Totenbett einer Frau – doch keiner jungen. Es ist seine Mutter, die da vor ihm liegt, diese Einzige und Liebste. Seine Mutter! Zu Lebzeiten eine durchaus bestimmende Person:

    Mutter: "Wenn du freitagabends mal für mich nach Selby gehen solltest, kann ich mir das Theater vorstellen! Aber wenn sie dich abholt, bist du nie zu müde! Das gibt es dann für dich nichts andres."
    Paul: "Ich kann sie doch nicht alleine gehen lassen."
    Mutter: "So? Und warum kommt sie überhaupt?"
    Paul: "Nicht weil ich sie darum bitte."
    Mutter: "Sie kommt doch nicht, ohne dass du es willst!"
    Paul: "Und was ist, wenn ich es will?"
    Mutter: "Nichts, so lange es vernünftig oder angemessen ist! Aber um Mitternacht nach Haus zu kommen und in aller Früh wieder nach Nottingham zu müssen ..."
    Paul: "Wenn ich es nicht getan hätte, wärst du trotzdem so."
    Mutter: "Ja, das wäre ich, weil das Ganze keinen Sinn hat! Ist sie denn so bezaubernd, dass du ihr dauernd nachlaufen musst?"

    Ja, das ist Miriam, die erste Liebe des jungen Paul Morel, aber nicht die einzige, denn dort in der Seele, wo Liebe empfunden und in Lebensführung umgewandelt wird, findet sich kein Platz bei Paul. Er wird ja schon geliebt, Miriam ist eine Lückenbüßerin.

    Paul: "Du weißt doch, ich liebe sie nicht! Ich gehe nicht einmal Arm in Arm mit ihr, weil ich es nicht will."
    Mutter: "Warum musst du dann immer gleich zu ihr rennen! "
    Paul: "Ich unterhalte mich eben gern mit ihr. Aber ich liebe sie nicht. "
    Mutter: "Hast du denn sonst niemanden, mit dem du dich unterhalten kannst? "
    Paul: "Nicht worüber wir uns unterhalten. Es gibt eben Dinge, die dich nicht interessieren. "
    Mutter: "Was wäre das? "
    Paul: "Malerei. Und Bücher zum Beispiel. "
    Mutter: "Hast du auch nur einmal versucht, mit mir über diese Dinge zu reden? "
    Paul: "Sie sind dir nicht wichtig, Mutter, das weißt du doch. "
    Mutter: "Was ist mir denn wichtig! "
    Paul: "Du bist alt, Mutter, wir sind jung. "

    Es gibt Bindungen, die unverzichtbar sind, aber fatal zu werden drohen, wenn sie sich im Laufe des Lebens nicht lockern. Wer mit Mitte 20 – wie Paul Morel – im Herzen der Mutter als Liebhaber wohnt, während er sich selbst zwar nach der Berührung mit gleichaltrigen Frauen verzehrt, die damit verbundenen, tieferen Gefühle jedoch für die Mutter reserviert, muss in jedem Gespräch mit derselben auf der Hut sein. Hören wir noch mal genau hin:

    Paul: "Es gibt eben Dinge, die dich nicht interessieren."
    Mutter: "Was wäre das?"

    Das leichte Zittern bei Angela Winkler, die in der Hörspielfassung von "Söhne und Liebhaber" Gertrude Morel spricht, lässt nackte Angst durchscheinen, Angst vor der Wahrheit. Denn natürlich lautete die Antwort Pauls aufrichtigerweise nicht "Malerei und Bücher" – worüber man reden kann –, sondern Sexualität, unaussprechlich im spätviktorianischen Zeitalter. Unaussprechlich ist vieles an der ödipalen Konstruktion jenes Romans von D.H. Lawrence, mit dem sich dieser von den Fesseln der eigenen Mutterbeziehung zu befreien suchte. Im Leben war ihm dafür kein Schritt radikal genug, und so brannte er mit der Gattin seines Professors durch, die sich alsbald scheiden ließ und den jungen Autor heiratete.

    In "Söhne und Liebhaber" wird die Konstellation fiktiv nachgebildet, denn auch Paul Morel findet eine sieben Jahre ältere Frauenrechtlerin attraktiver als die gutmütige und nachgiebige Miriam vom Dorfe. Diese Clara Dawes, die wie ihr reales Vorbild Frieda von Richthofen noch verheiratet ist, durchschaut ihn freilich:

    Clara: "Männer lassen es nicht zu, dass man ihnen wirklich näher kommt."
    Paul: "Und ich habe es nicht zugelassen? "
    Clara: "Doch! Aber du bist mir nicht nähergekommen. Du kannst nicht aus dir heraus. Baxter konnte das besser als du. "
    Paul: "Jetzt, wo du Baxter nicht mehr hast, fängst du an, ihn zu schätzen! "
    Clara: "Nein. Ich sehe nur, worin er sich von dir unterscheidet! Glaubst du, das Sexuelle ist das alles wert? "
    Paul: "Wie kannst du das nur trennen! All unsere Intimität gipfelt darin! "
    Clara: "Für mich nicht. Mir ist, als hätte ich dich nicht! Als wäre nicht alles von dir da, und als wäre nicht ich es, die du nimmst! "
    Paul: "Wer denn? "
    Clara: "Bin ich es denn, die du willst? "

    Rückwärts betrachtet, beantwortet sich diese Frage am Totenbett der Mutter mit Pauls nachgetragenen Liebesbeteuerungen an die Verstorbene. Nein, Clara war es auch nicht! Sie kehrt zu ihrem Mann zurück, rechtzeitig erkennend, dass der sensible und künstlerisch begabte Paul niemals frei genug sein wird, vom Sohn zum Manne zu werden.

    Was im Roman hie und da mit Schilderungslängen verbunden ist, verdichtet sich in der dreieinhalbstündigen Hörspielproduktion zu einem dialogischen und atmosphärischen Meisterwerk. Hervorragende Sprecher – Michael Rotschopf als Erzähler, Angela Winkler als Mutter, Patrick Güldenberg als Paul, Bibiana Beglau als Clara und noch viele mehr – halten das Unaussprechliche, Unausgesprochene und Unentrinnbare der gesellschaftlichen Konventionen und psychischen Zwangslagen in der Schwebe. Selbst von negativ gezeichneten Männerfiguren wie Pauls Vater oder Claras Ehemann Baxter wird man als Zuhörer in den Bann gezogen.

    Obwohl dem Mutterdrama von Paul eine lange Episode mit seinem älteren Bruder William vorangeht, der sich ebenfalls zu emanzipieren versucht, dann aber überraschend an einer Infektion verstirbt, kommt keine Sekunde Langeweile auf. Die erste Stunde des Hörstücks ist das Präludium, bei dem sich leise anschwellend kommendes Unheil ankündigt. Apropos Präludium: Die von Jakob Diehl komponierte Musik – ein stets unaufdringliches Streichquartett – spielt eine nachhaltige Rolle. Sie verstärkt auf ihre Weise das Gefühl, dass Mutterliebe auch heute noch manchen zu erdrosseln droht.

    D.H. Lawrence: Söhne und Liebhaber
    Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
    Hörspielfassung mit Angela Winkler, Michael Rotschopf, Patrick Güldenberg u.v.a.
    3 CDs, Der Hörverlag, ca. 250 Minuten