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Begegnung auf Augenhöhe

Jürgen Habermas legt die Fortsetzung seines bekannten "Nachmetaphysischen Denkens" von 1988 vor. Er konzentriert sich in der Aufsatzsammlung vor allem auf den Konflikt zwischen Moderne und Religion und mahnt einen wechselseitigen Lernprozess zwischen den scheinbar nicht zu vereinbarenden Lebenswelten an.

Von Walter van Rossum | 10.02.2013
    Jürgen Habermas gilt als einer der renommiertesten Philosophen unsrer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags vor drei Jahren bescheinigte ihm der amerikanische Philosoph Ronald Dworkin "niemand [habe] einen solch überragenden Einfluss auf die gesamte Disziplin erlangt wie Habermas, von seinem Einfluss auf die nichtphilosophische Welt ganz zu schweigen". Dennoch lehnt Habermas sich nicht zurück. Ihn bewegt weiterhin die Frage, ob die Philosophie eigentlich auf der Höhe der realen Umstände operiert und welchen Beitrag sie zur Verständigung über den Stand der Dinge leistet. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als um die philosophische Beteiligung an einer fundamentalen Rettungsaktion: nämlich ob ...

    ...eine global gewordene Moderne aus sich selbst heraus die Kraft besitzt, ihre selbstdestruktiven Tendenzen aufzuhalten, also der Zerstörung ihres eigenen normativen Gehalts entgegenzuwirken.

    Das ist keine Kleinigkeit und daran tüftelt Habermas schon seit Längerem. 1988 erschien der erste Band des postmetaphysischen Denkens. Dieses Denken kennt vor allem seine Grenzen:

    Schon der erste Blick auf unseren wissenschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext belehrt uns darüber, dass sich Philosophen nicht mehr im Kreise der Dichter und Denker aufhalten. Weise und Seher, die – wie noch Heidegger – einen privilegierten Zugang zur Wahrheit reklamieren, können sie nicht mehr sein. (...) Die Philosophie besteht nicht länger auf ihrem anfänglichen platonischen Heilsweg der kontemplativen Vergewisserung der kosmischen Alleinheit. Sie konkurriert also in dieser Hinsicht nicht mehr mit religiösen Weltbildern.

    Auf der anderen Seite lauert die Falle des Szientismus, der Verwissenschaftlichung des philosophischen Denkens, das vorgibt, die Welt nach gleichsam physikalischem Muster beschreiben und messen zu können. Und tatsächlich hat sich ja ein nicht unerheblicher Teil der akademischen Philosophie auf die relativ ruhigen Gewässer der analytischen Philosophie zurückgezogen und sich damit in den Rang einer einigermaßen bedeutungslosen Fachwissenschaft manövriert. Habermas insistiert durchaus darauf, Philosophie als Wissenschaft zu betreiben, aber philosophisches Wissen beschreibt er als ein stets irritierbares, als ein "nicht festgestelltes Wissen". Was aber weiß dieses nicht festgestellte Wissen? Was ist sein Einsatzgebiet? Unverzüglich führt Habermas uns auf das ureigene Terrain philosophischen Wissens – er führt uns in die Lebenswelt.

    Die Lebenswelt steht uns nicht theoretisch vor Augen, wir finden uns vielmehr vortheoretisch in ihr vor. Sie umfängt und trägt uns, indem wir als endliche Wesen mit dem, was uns in der Welt begegnet, umgehen. (...) Vorgreifend lässt sich die Lebenswelt als der jeweils nicht überschreitbare, nur intuitiv mitlaufende Erfahrungshorizont und als nichthintergehbarer, nur ungegenständlich präsenter Erlebnishintergrund einer personalen, geschichtlich situierten, leiblich verkörperten und kommunikativ vergesellschafteten Alltagsexistenz beschreiben.

    Diese Lebenswelt ist ein schwindelerregender Raum: überaus komplex und erstaunlich präzise – und doch funktioniert sie ohne die Betriebsanleitung eines expliziten Wissens. Sie erlaubt eine Art Blindflug mitten durch unser von Kontrolltürmen überschattetes und apparatebestücktes Weltgelände. Ausgerechnet der Physiker Albert Einstein hat die Lebenswelt auf eine bemerkenswert prägnante Formel gebracht:

    Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich bloß in ihr zurechtfinden.

    Andererseits fehlt es ja nicht an großangelegten systematischen Versuchen, die Welt und den Menschen zu verstehen. Ob Anthropologen, Ökonomen, Biologen, Kultur-, Human- oder Gesellschaftswissenschaftler - alle versuchen auf ihre Weise, die Ordnung der Dinge und die Verfassung des Menschen zu erklären. Und so verfügen wir mittlerweile über eine enorme Zahl an konkurrierenden Welterklärungen, die uns eine Welt zeigen, in der sich keiner wiedererkennt. Der Historiker zeigt uns eine Geschichte, die niemand je so erlebt hat, es ist eine rekonstruierte Geschichte - zusam¬men¬¬gesetzt aus Akten, ökonomischen Daten, der Beschreibung politischer Intrigen und der Interpretation mentaler Bedingungen.

    Der Linguist erklärt das Funktionieren der Sprache, die wir immer schon sprechen konnten, ohne ihre Regeln gekannt zu haben. Und dann kommt ein anderer Historiker und erzählt eine ganz andere Version derselben Geschichte und ein anderer Linguist weiß von ganz anderen Gründen für das Sprechen der Sprache. Allmählich dämmert einem: was auch immer all diese Wissenschaften wissen mögen, niemals können sie uns in der Welt orientieren. Im Übrigen kann man ziemlich genau erklären, warum Wissenschaft niemals Lebenswelten aufklären kann. Wissenschaft besteht per definitionem in methodischen Objektivierungen:

    Wenn wir die objektive Welt als Gesamtheit physikalisch messbarer Zustände und Ereignisse konzipieren, nehmen wir eine versachlichende Abstraktion in der Weise vor, dass dem innerweltlichen Geschehen im Umgang mit manipulierbaren Gegenständen
    alle bloß "subjektiven" oder lebensweltlichen Qualitäten abgestreift werden.


    Der Wissenschaftler ist aufgefordert, sich von seinen lebensweltlichen Befindlichkeiten zu reinigen. Der Historiker, der die Vergangenheit erklärt, muss immer so tun als lebte er in keiner Gegenwart, die ihm bestimmte Sichtweisen aufdrängt. Der Gehirnforscher, der feststellt, dass die Aktivierung bestimmter Hirnareale "Trauer" bedeutet, muss immer so tun, als wäre Trauer ein natürliches physikalisches Ereignis und nicht das Bewusstsein einer bestimmten Erfahrung. Woher weiß er aber dann, dass Trauer "Trauer" ist?

    Schließlich wollen die Gegenstände des Wissens von Subjektivität befreit sein. Nur Guido Knopp und seine Klientel interessiert, was Fritz Müller bei Hitlers Machtergreifung gefühlt oder gedacht hat. Wahre Historiker wollen wissen: Wie war die Machtergreifung möglich? Wie greifen Kollektive und bestimmte politische Vorgänge ineinander? Kurzum, die Rationalisierung der Welt durch die Wissenschaften handelt eher von den gerade im Umlauf befindlichen wissenschaftlichen Bauklötzen und vom Menschen als Bausatz für einen Homunculus, der nicht leben könnte. Doch Habermas geht es nicht um eine Kritik des wissenschaftlichen Wissens, sondern um ein Denken, das in die hermetischen Strukturen der Lebenswelt vordringt.

    Damit steigt Habermas gewissermaßen in den Keller seiner eigenen Theorie, der Theorie des kommunikativen Handelns, die stets davon ausgeht, dass wir uns rational argumentierend über unsere Normen verständigen können. Doch in der Lebenswelt entdeckt der Philosoph eine Sorte von Gründen, die sich argumentierender Überprüfung entziehen und die vielleicht gerade deshalb so stark wirken.

    In allen Gesellschaften besteht eine spannungsreiche Korrespondenz zwischen den Gründen, die in Traditionen gebunden und in Institutionen festgeschrieben sind, einerseits und jenen in der Kommunikation freigesetzten und frei flottierenden Gründen andererseits. Gründe entfalten ihre problematisierende und zugleich Problem lösende Kraft im kommunikativen Austausch von Sprechhandlungen; aber unter Gesichtspunkten gesellschaftlicher Stabilität macht das überall lauernde Dissensrisiko des Nein-sagen-Könnens die kommunikative Alltagspraxis zu einem ungewissen und ziemlich kostspieligen Integrationsmechanismus. Tatsächlich schränkt jede Gesellschaft das Negationspotential der jeweils verfügbaren Gründe in der Gestalt von kulturellen Überlieferungen und Normen ein, auch wenn es zunächst die guten Gründe sind, die auf diese Weise konserviert werden. Die Dogmatisierung von für wahr und vorbildlich gehaltenen Lehren und die Institutionalisierung von für gut und richtig gehaltenen Verhaltenserwartungen sind zwei Mechanismen einer höherstufigen, konsolidierenden Verkörperung von Gründen, die den Fluss des diskursiven Austauschs von Gründen kanalisierend einschränken.

    Habermas entdeckt also mitten in der hell ausgeleuchteten Moderne eine tiefenwirksame Schicht archaischer Überlieferung, ritueller Übereinkunft und quasisakraler Ordnung. Wir können sie natürlich – gewissermaßen als Ethnologen unserer selbst - ins Licht rationaler Beschreibung zerren. Allein, ihr Sinn erschließt sich nur durch Teilhabe und praktische Bewährung. Und wir begegnen wieder dem Dissens zwischen Lebenswelt und Wissenschaft.

    Die Kultur formt und verstetigt also das Selbst- und Weltverständnis der kommunikativ Handelnden über große Zeitenabstände hinweg durch eine verbindliche Auswahl von Interpretationen; sie verkörpert Gründe im Modus der Dogmatisierung von Wissensbeständen.

    Kommen wir zurück auf das titelgebende Problem der gesammelten Abhandlungen: Das postmetaphysische Denken, also jenes Denken, das nicht mehr Metaphysik im klassischen Sinne sein kann und dennoch Teil eines sinnstiftenden Unternehmens sein will. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes zum postmetaphysischen Denken vor über 20 Jahren haben sich die Umstände in einer Hinsicht entscheidend geändert. Die Religionen haben nicht nur den Angriffen der säkularen Moderne widerstanden, sondern sie sind in weiten Teilen der Welt und in den westlichen Gesellschaften selbst verblüffend erstarkt. Das ist ein starker Schlag ins Gesicht der Philosophie, die sich in der Moderne als Befreierin von aller Religion begreifen durfte und bis heute darauf ihren Auftrag begründet. Jürgen Habermas stellt sich dieser erstaunlichen Entwicklung:

    Der Zugang zu dieser archaischen Quelle der Solidarität hat sich uns ungläubigen Mitgliedern weitgehend säkularisierter Gesellschaften verschlossen. Uns mag sich die Frage stellen, ob wir die Religion, und darunter verstehe ich den Kultus in Verbindung mit Konzeptionen einer rettenden Gerechtigkeit, als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes philosophisch ernst nehmen müssen.

    Die Antwort, die Habermas gibt, ist klar: Wir müssen einräumen, dass in der Lebenswelt unserer Gesellschaft, so säkular, aufgeklärt und modern sie sich geben mag, mindestens religiöse Reste oder parasakrale Motive noch wirksam sind. Allerdings bleibt die Frage offen, in welchem Ausmaße die Moderne so untertunnelt sein mag. Doch in jedem Fall rüttelt Habermas an einer zentralen, auch politisch zentralen, Frontstellung der Gegenwart, nämlich an der Opposition von Aufklärung und Religion, von Moderne und Glaube. Eingangs seines Buches erklärt Habermas, dass ...

    ... die Philosophie nach wie vor ihrer Aufgabe nachgehen [sollte], im Licht der verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu artikulieren.

    Wenn Habermas jetzt Moderne und Religion aus schierer Gegensätzlichkeit erlöst und in einen Gesprächszusammenhang bringt, dann will er sein Denken fähig machen zur Teilhabe an jener riesigen Debatte, die die Welt zurzeit erfüllt: die Auseinandersetzung zwischen Moderne und Religion – in anderen Worten zwischen Westen und Islam. Davon handeln einige Beiträge dieses Buches dann auch in expliziter Form.

    Was müssen wir reziprok voneinander erwarten, damit in unseren historisch fest gefügten Nationalstaaten ein ziviler Umgang der Bürger miteinander auch unter den Bedingungen des kulturellen und weltanschaulichen Pluralismus gewahrt bleibt?

    Im Prinzip geht es um das klassische Problem: Was macht die Moderne mit Menschen, die anders ticken? Habermas konkretisiert: Was dürfen Muslime in unsrer Gesellschaft? Wieviel Pluralismus kann der Verfassungsstaat zulassen? Und so moderiert Habermas ein Gespräch zwischen Multikulturalisten und Aufklärungsfundamentalisten. Nur leider stellt sich dabei rasch heraus, dass Habermas doch etwas tief in seine, in unsere Lebenswelt eingelassen ist. So übernimmt er in aller Selbstverständlichkeit die Rede vom "Islam". Doch selbst einem ganz normalen Zeitungsleser müsste mittlerweile aufgegangen sein, dass es "den" Islam nicht gibt. Sodann ist der politische Islam etwas ganz anderes als das Glaubensbekenntnis der allermeisten Muslime. Möglicherweise besteht das Herzstück gegenwärtiger westlicher Kulturkampf-Ideologie ja gerade darin, den politischen Islam auf Religion zurückzurechnen und nicht auf Politik.

    Dämonisierte Religionsfanatiker lassen sich leichter bekämpfen als Menschen mit bestimmten und möglicherweise berechtigten politischen Anliegen. Insofern wäre dann die ganze Öffnung der Habermaschen Philosophie Richtung Religion nicht nur vergeblich, sondern bloß eine ideologische Fortsetzung der Schlacht mit den Mitteln der Philosophie. Habermas verwandelt eine außerordentlich aggressive Realität in ein Round-table-Sprachspiel, in dem er den Teilnehmern seiner Wahl philosophische Argumente in den Mund legt. Er kappt sozusagen die Lebenswelt, die Welt historischer Erfahrung, politischer Intrigen und komplexer Konstellationen.

    Kein Zweifel: Jürgen Habermas will vermitteln. Er verweist uns auf einen wechselseitigen Lernprozess, indem Muslime ihre staatsbürgerlichen Pflichten anerkennen, aber er mahnt auch die Säkularisten der Aufklärungsfraktion, religiösen Bürgern auf Augenhöhe zu begegnen:

    Säkulare Bürger, die ihren Mitbürgern mit dem Vorbehalt begegnen würden, dass diese aufgrund ihrer religiösen Geisteshaltung nicht als moderne Zeitgenossen ernst genommen werden können, fielen auf die Ebene eines bloßen Modus Vivendi zurück und verließen damit die Anerkennungsbasis der gemeinsamen Staatsbürgerschaft. Sie dürfen nicht [a fortiori] ausschließen, auch in religiösen Äußerungen semantische Gehalte, vielleicht sogar verschwiegene eigene Intuitionen zu entdecken, die sich übersetzen und in eine öffentliche Argumentation einbringen lassen. Wenn alles gut gehen soll, müssen sich also beide Seiten, jeweils aus ihrer Sicht, auf eine Interpretation des Verhältnisses von Glauben und Wissen einlassen, die ihnen ein selbstreflexiv aufgeklärtes Miteinander möglich macht.

    Was für ein schöner Schluss für die fast schon sozialarbeiterische Versöhnungsarbeit. Die Moderne – ganz auf der Höhe ihrer Selbstreflexion - erbarmt sich religiöser Motive. Was aber wenn es darum gar nicht ginge? Alles eine Frage der Karten, die man verteilt. Was wäre zum Beispiel wenn man die Moderne mal aus Sicht derer beschreibt, die sie seit geraumer Zeit grausam und dramatisch erleiden? Seit 200 Jahren erfahren Muslime die Segnungen der Moderne als ununterbrochene Kette von Versklavung und Unterdrückung – von der Eroberung Ägyptens durch Napoleon bis zur Unterstützung der barbarischen Diktaturen in Saudi-Arabien oder Ägypten. Der Universalismus der Menschenrechte wurde ihnen nie zuteil, weil sie nie als Menschen behandelt wurden, und die Tafeln des normativen Palavers, an denen die Aufklärung angeblich ihre Werte diskutiert, haben sie nur als Dienstboten kennengelernt. Und kein analphabetischer Afghane in den entlegenen Tälern des Hindukusch wird glauben, der Krieg gegen sein Land sei eine Art Missverständnis, das die wachen Legionen westlicher Aufklärung bald durchleuchten werden.

    Mit anderen Worten: Wir leben in einer Gesellschaft, in der große Teile der Bevölkerung es mindestens für erwägenswert halten, andere Länder zu bombardieren, damit Frauen in die Schule können – egal, ob dadurch ein paar Tausend dieser Frauen dieses Glücks, um das sie nicht gebeten hatten, nicht mehr erleben werden, weil sie im Napalm der Moderne verbrannt sind. Wir leben in Zeiten, in denen die Moderne sich ermächtigt, Andersgläubige im Namen der Aufklärung zu vernichten. Insofern könnte man vermuten, dass die Renaissance des Religiösen eher damit zu tun hat, dass die Verheißungen und Selbstbeschreibungen der Moderne sich als schier lückenloser Betrug für den Rest der Welt erweisen hat. Und so gesehen ist es dann schon ein Skandal, wenn ein Mann wie Jürgen Habermas so tut, es ginge um ein diskursives Ringen zwischen Moderne und Religion. Die Moderne, um deren Rettung der Philosoph sich gerne sorgt, wäre nur zu retten, wenn sie ihre aberwitzigen Deformationen wenigstens wahrnähme. So viel Lebenswelt muss sein!

    Am Ende seiner weitausholenden sperrigen Überlegungen steht ein Leitartikel, den man so ähnlich schon dutzendfach hat lesen können. Haarfein schreibt Habermas den Konflikt zwischen dem "Islam" und dem "Westen" in der Perspektive eines Kulturkampfes fort, die man bei uns so schätzt, weil wir uns so als Bodentruppen der Aufklärung verstehen dürfen und nicht als die eisigen geostrategischen Strategen sehen müssen, die wir sehr viel eher sind. Man muss Habermas wahrscheinlich nicht mal ideologischen Vorsatz anhängen. Ihn beschäftigt nicht so sehr die Realität der Welt als vielmehr das Projekt, der Philosophie den Anstrich von Realitätskompetenz zu vermitteln. Allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass er die Deckung philosophischer Expertise keineswegs zu verlassen gedenkt.

    Weil die Philosophie auch zu einer wissenschaftlichen Disziplin geworden ist, beginnt die Überzeugungsarbeit im Kreise der peers. Wer nicht durch die Schleuse der professionellen Kritik hindurchgeht, gerät mit Recht in den Verdacht der Scharlatanerie. Auch philosophische Argumente können heute nur noch im zeitgenössischen Kontext der eingespielten natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskurse, der bestehenden Praktiken der Kunstkritik, der Rechtsprechung, der Politik und der öffentlichen, über Medien vermittelten Kommunikation darauf rechnen, prima facie als erwägenswert akzeptiert zu werden. Nur in diesem weiteren Kontext grundsätzlich falliblen Wissens können wir den schmalen Pfad suchen, auf dem philosophische Gründe noch "zählen".

    Mit "peers" sind die anderen Philosophen gemeint, die in der Habermaschen Liga spielen. Und so kann man sagen: diese Buch ist wahrlich nicht für ein größeres Publikum geschrieben. Der Leser lauscht allenfalls dem dunklen Palaver erhabener Geister. Es ist ein außerordentlich mühsames, ein außerordentlich unelegantes Palaver, das sich mit großen Namen und schweren Theorien beschwert, von Deduktion zu Deduktion ackert, um sich nur ja nicht im komplexen Tumult des Realen zu verlieren, in den Unreinheiten einer philosophisch noch nicht sterilisierten Lebenswelt. Und es hat schon fast etwas Komisches, wenn der Philosoph glaubt, ein Gedanke wäre wissensähnlicher, wenn er von anderen "peers" geteilt wird. Nicht nur die Schluss¬folge¬rungen dieses Denkens, sondern auch die Denkwege machen verständlich, warum diese Sorte Philosophie bei der Definition von Realitäten keine Rolle mehr spielt. Niemand wird sie vermissen.

    Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken.
    Suhrkamp Verlag. 335 S. 34,95 Euro.