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Begegnung mit Bruno

Das Leben und Sterben des Bären Bruno hat viele Menschen berührt. Dieser plötzliche Einbruch der Wildnis in die zivilisierte Natur der Alpenregion war eine unerhörte Begebenheit. Soeben wird der Stoff für das Fernsehen verfilmt nach einem Drehbuch, das selbstverständlich nicht von Gerhard Falkner stammt. Seine Faszination durch den Bären ist von anderer Natur als jene, die man zur besten Sendezeit vorgesetzt bekommt.

Von Joachim Büthe | 03.09.2008
    Schon früh, in einem Kommentar zu Aufzeichnungen, die seinen ersten Gedichtband begleiten, hat Falkner von der Selbstgefährdung gesprochen, "in die auskultierende Lyrik führt". Auskultieren ist ein medizinischer Begriff. Er bedeutet Abhören, die Töne aus dem Inneren des Körpers zu verstehen versuchen. In seiner Novelle wird der Bär Bruno zum Spiegel dieser Selbstgefährdung und -befragung, fast zu einem Orakel, das schlüssiger Auskunft geben kann als das eigene Abbild.

    Dass ich hier bin, habe ich in der Zeitung gelesen. In der Zeitung steht, ich sei in Leuk eingetroffen. Leuk ist ein Ort im Wallis. Das Wallis ist ein Kanton in der Schweiz. Die Schweiz ist ein kleines Land aus Granit im Herzen Europas. Da der Notiz in der Zeitung ein Bild beigestellt ist, weiß ich wenigstens, wie ich aussehe. Obwohl ich mir immer gewünscht habe, niemals so auszusehen, wie dieses Bild mir nun unwiderlegbar vor Augen führt, wird es mir vielleicht behilflich sein, den ausfindig zu machen, den es darstellt.

    Bruno befindet sich ebenfalls im Wallis, auch sein Bild ist in der Zeitung. Es gefällt dem Erzähler besser als das eigene. Die Intensität, mit der Falkner nach Brunos Spuren sucht, mit der er die ziemlich gefährliche Begegnung mit ihm herbeiführen will, lässt sofort vergessen, dass der Bär in Wirklichkeit in einer anderen Alpengegend erschossen worden ist. Falkner taucht ein in diese Schweizer Landschaft, zu der er zunächst keinen unmittelbaren Zugang hat. Er wird ihm vermittelt durch die Freundschaft mit Anatol Zermatten, der ein Nachfahre einer Figur Adalbert Stifters sein könnte. Falkners Naturbeschreibungen sind metaphernreicher als die Stifters, und auch der Metaphernwald ist eine gefährliche Gegend. Mit der Trittsicherheit des Lyrikers bewegt er sich in ihm, manchmal kühn, nie prätentiös.

    Noch einen weiteren literarischen Paten hat Falkner eingeladen in sein Buch, eine weitere gefährliche Begegnung zwischen Mensch und Tier. Es ist Hemingways Erzählung "Der alte Mann und das Meer", und nun könnte die Geschichte kippen, in ein überkonstruiertes literarisches Vexierbild. Doch Falkners Verweissystem hält stand, weil es geerdet ist durch seine bohrende Selbstbefragung. In der Novelle wird der Wunsch, die Selbsterkundung durch die Begegnung mit Bruno zu intensivieren, zusehends riskanter. Fast stürzt der Erzähler bei einer nächtlichen Wanderung zu Tode. Am Ende wird er den toten Bären sehen, doch zuvor, als er ihn vermeintlich trifft, überkommt ihn erneut Todesangst.

    Lautlos nahm ich einen Knüppel vom Waldboden auf, dann brüllte ich, so laut ich konnte, und schlug mit dem Knüppel gegen einen Baumstamm. Zu meiner Überraschung tat das Tier nur zwei erschrockene Schritte zur Seite, fast wie ein Lipizzaner, bevor sich der mächtige Nacken hob und meine Haare vor Anspannung knisterten. Dann sah ich den Kopf. Es war eine Kuh.

    Natürlich ist diese Geschichte auch eine Groteske. Der gesunde Menschenverstand ist nicht nur an dieser Stelle außer Kraft gesetzt, er taugt für den Alltag, nicht für die künstlerische Arbeit. Das ist der Kern der Leidenschaft für den gefährlichen und gefährdeten Bären Bruno. Es geht um die Unsicherheit, die mit dem Prozess des Schreibens verbunden ist, um das Lächerliche, das der Kunstanstrengung auch anhaftet, um den notwendigen Flirt mit dem nicht so Gesunden und mit der Gefahr, um den Blick in den eigenen Abgrund, kurz: um all die Dinge, die man ertragen muss, wenn man mit der Hervorbringung gehobener Unterhaltungslektüre nicht zufrieden ist.

    Gerhard Falkners Buch steht in der ehrwürdigen Tradition der Künstlernovelle. Er hat sie gründlich renoviert und auf den Stand einer Zeit gebracht, in der Literatur, die diesen Namen verdient, nicht mehr ohne weiteres überlebt. Dem Alltagsleben abgetrotzt werden muss sie ohnehin. Und manchmal muss man in es zurückkehren.

    Ich knipste mein BIC-Feuerzeug an, um mir eine Zigarette anzuzünden, schaute dann aber bloß auf das Flämmchen. Schließlich legte ich die nicht angezündete Zigarette wieder aus der Hand, nahm das Glas Rotwein, das vor mir stand, und goss es über das brennende Feuerzeug in meiner Hand. Den Rest der Flasche goss ich über meinen Kopf, dann war endlich Ruhe.

    Gerhard Falkner: Bruno. Eine Novelle
    Berlin Verlag, geb., 110 S., Euro 16,00