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Begegnung mit einem Mörder

Als ein Kommando des Mossad in Buenos Aires einen kleinen Angestellten namens Ricardo Klement überfiel und ihn nach Israel entführte, war die Welt überrascht, weil keiner diesen Adolf Eichmann haben wollte, weder die junge Bundesrepublik noch das junge Israel.

Von Jochanan Shelliem | 26.03.2011
    Der holländische SS-Reporter Willem Sassen führte mit Ricardo Klement alias Adolf Eichmann in Buenos Aires viele Gespräche, um "die Ehre Eichmanns wieder herzustellen". Sie stehen in scharfem Kontrast zu den Verhören des israelischen Polizeihauptmannes Avner Less von Adolf Eichmann in Jerusalem.

    Erstmalig wird die Geschichte der Tonbänder dokumentiert. Mit dem Eichmann-Prozess werden die Überlebenden der Lager zu Zeitzeugen. Ihre Erinnerung wird zum Auftrag von Regierung und Armee, Auschwitz zum zentralen Element der Volksbildung in Israel. Seit fünfzig Jahren lastet der Eichmann-Prozess auf diesem Land.

    Auszug aus dem Manuskript:

    Jerusalem, 11. April 1961
    Das Verfahren dauert 14 Wochen, 210 Zeugen werden gehört. Vor Gericht steht Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer, der von 1941 bis 1945 Millionen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportieren ließ. Am 11. Mai 1960 wird Adolf Eichmann von Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad in Buenos Aires gefasst. Elf Monate darauf wird sein Prozess eröffnet. Generalstaatsanwalt Gideon Hausner kämpft um Eichmanns Geständnis.
    Hausner: "Sie geben also zu, dass Sie an dem Mord von Millionen von Juden beteiligt waren."
    Eichmann: "Von dem rechtlichen Sektor aus gesehen blieb mir nichts anderes übrig als Befehlsempfänger, die Befehle, die ich bekam, auszuführen, die ich bekam."
    Hausner: "Das ist nicht eine juristische Frage, sondern ich will wissen, ob Sie sich in ihrem Herzen schuldig fühlen an dem Mord der vielen Millionen Juden."
    Eichmann: "Menschlich schuldig ja, weil ich an der Deportierung schuldig bin."
    Fritz
    Vier Jahre zuvor klingt das ganz anders. In einer Runde Gleichgesinnter im Haus des niederländischen Nationalsozialisten Willem Sassen hält Adolf Eichmann eine Rede.

    Auszug aus dem Manuskript:

    Eichmann: "Und ich sage es Ihnen jetzt zum Abschluss unserer Sachen, ich 'der vorsichtige Bürokrat', der war ich, jawohl. Aber ich möchte die Sache 'vorsichtiger Bürokrat' etwas zu meinen Ungunsten erweitern. Zu diesem vorsichtigen Bürokraten gesellte sich ein fanatischer Kämpfer für die Freiheit meines Blutes, dem ich anstamme und ich sage hier, genau, wie ich Ihnen vorhin sagte, Ihre Laus, die Sie zwickt, Kamerad Sassen, interessiert mich nicht. Mich interessiert meine Laus unter meinem Kragen. Die zerquetsche ich."

    29. Mai 1960, Jagur bei Haifa, Polizei-Büro 06:

    Vor Adolf Eichmann steht wieder ein Mikrofon. Der israelische Polizeioffizier Avner Less wird den Gefangenen sieben Monate lang für seinen Prozess verhören:

    Avner Less: "Es ist heute der 29. Mai 1960, es ist jetzt genau 16 Uhr 55, Herr Eichmann, wollen Sie bitte mit Ihrer Erklärung beginnen."

    Von diesem Tag an wird Avner Less einige Hundert Stunden lang jenem Mann gegenübersitzen, der Millionen Juden in den Tod geschickt hat - auch den Vater von Avner Less - einen Berliner Fabrikanten, der als Frontsoldat des Ersten Weltkrieges im Januar 1943 von dem Konzentrationslager Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden war. Als Träger des Eisernen Kreuzes genoss er, wie sein Sohn zu sagen pflegte, "das Privileg, als einer der Letzten umgebracht zu werden."

    Avner Less: "Ich glaube, es wäre angebracht, wenn Sie vielleicht mit ihrem Lebenslauf anfangen würden, Ihrem vollen Namen, Geburtsort, Geburtstag, dem Namen ihrer Eltern und Ihrer Geschwister usw."
    Eichmann: "Ich wurde am 19. März 1906 zu Solingen in Rheinland geboren. Mein Vater war dort Buchhalter der Solinger Straßenbahn-Elektrizitätsgesellschaft oder wie hieß dieses Unternehmen noch. In Solingen besuchte ein oder zwei oder drei erste Schulklassen und im Jahre 1913 wurde mein Vater nach Linz an der Donau versetzt zur Linzer Straßenbahn und Elektrizitätsgesellschaft wohl im Zuge eines Kredites, den die AEG Union dieser österreichischen Gesellschaft gab, wo er bis zum Jahre 1924 als kaufmännischer Direktor tätig war."

    Avner Less: "Am 29. Mai 1960 gegen 16:45 Uhr sah ich Adolf Eichmann zum ersten Mal. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, der Oberst Hofstätter, und ich ließen ihn im Verhörraum vorführen. Wir warteten gespannt; selbst der beherrschte Oberst konnte seine Nervosität nicht verbergen. Als dann der Häftling in Khakihose und -hemd und mit offenen Sandalen an den Füßen vor uns stand, war ich enttäuscht. Ich weiß nicht mehr, was ich erwartet hatte - wahrscheinlich einen Nazi, wie man ihn aus Filmen kannte: groß, blond, mit stechenden blauen Augen, ein brutales Gesicht, das herrische Arroganz ausstrahlt. Doch nun stand plötzlich ein ganz gewöhnlicher Mensch vor mir, wenig größer als ich, eher mager als schlank, mit sehr spärlichem Haarwuchs, kein Frankenstein und kein Teufel mit Klumpfuß und Hörnern. Diese Normalität ließ mich seine leidenschaftslosen Aussagen noch bedrückender empfinden, als ich sie mir aus den Dokumenten erwartet hatte."

    Die Aufnahmen des Polizeiverhörs von Avner Less werden erstmals im Deutschlandfunk im O-Ton dokumentiert.

    Avner Less: "Am unangenehmsten empfand ich Eichmanns Anbiederungsversuche. Einmal zeigte er auf das Hoheitszeichen der israelischen Polizei und sagte: 'Herr Hauptmann, wenn ich diese Zeichen sehe, dann stelle ich fest, dass wir beide eigentlich Kollegen sind. Ich war ja auch einmal Polizist.' Ich wies ihn zurecht: 'Sie waren nie Polizist. Sie waren in der SS und beim Sicherheitsdienst.' Er schaute mich verdutzt an und sagte nur: 'Ach ja?' Nach kurzer Pause fuhr er fort: 'Aber vor der Polizei fürchte ich mich nicht. Die kenne ich ja. Mit dem Gericht ist das etwas anderes: Ich stand nämlich noch nie vor Gericht.'"

    Eichmann Verhör:

    Eichmann: "Sehr groß war der Graben. Und da war ein riesiger Rost gewesen, ein Eisenrost, und darauf brannten Leichen. Und da ist mir schlecht geworden, da wurde mir schlecht. Das habe ich Müller erzählt. Das war mein Bericht."
    Less: "In welchem Jahr war das?"
    Eichmann: "Das war 1945. Ich sagte Müller, sage ich, Warum muss denn das sein, muss das alles so sein? Deutschland ist doch groß genug. Wenn schon die Juden herein sollten, und zwar aus Ungarn aus Ungarn, es ist doch überall Arbeitermangel, das muss doch nicht sein. Die Alten bleiben doch sowieso in Ungarn. Natürlich hat die ungarische Gendarmerie indem sie sich überhaupt nicht an die Abmachungen hielt ... Wo es dann wieder Krach gab mit dem ... 70- und 80jährige mitgeschickt worden sind ... darüber darf ich ein anderes Mal sprechen, wenn wir ...
    Dann darf ich noch über den letzten Punkt dieser fürchterlichsten Sachen sprechen, die ich in meinem leben gesehen habe, das ist Treblinka ... die Anlagen in seinem Betrieb. Ich hatte mir das so vorgestellt, das Holzhaus ...
    Stattdessen wieder mit demselben Sturmbannführer Höfle ...
    Komme ich an eine Station, die Treblinka hießt ... mit den Schildern usw. nachgemacht.
    Ich habe mich dort zurückgehalten ... Laufstege, die mit Stacheldraht eingefasst waren in ein Haus ... Ähnliches Gebäude gegangen sind, zum Vergasen. Dort aber wurden sie .. mit äh, mit äh.. Zyan."
    Less: "Zyankali."
    Eichmann: "Wie das vor sich ging, habe ich Müller berichtet.. immer diesen Bericht wortlos, kommentarlos zur Kenntnis genommen.. Sein Mienenspiel verriet .. ich kann nichts machen. Wenn Müller etwas zu entscheiden gehabt hätte."
    Less: "Kaltenbrunner, nicht?"
    Eichmann: "Kaltenbrunner Bericht, nein."

    Bettina Stangneth: "Das interessante an allen Zeugnissen, die wir über Eichmann haben, also sowohl Protokollen aus seiner Machtzeit, als auch Tonbändern in Argentinien, als auch denen in Israel ist, dass wir überall einen anderen Eichmann sehen. Wir sehen einfach wie klug dieser Mann und wie geschickt dieser Mann Rollen spielen kann. Wie sehen, wie er ganze Gedankengebäude entwerfen kann, je nach dem, wer sein Gegenüber ist. In Jerusalem ist das Bild, das er entwirft, ein Bild eines möglichst harmlosen Menschen, der fast ein Wissenschaftler ist, der gerne Historiker wäre, der gerne Philosoph wäre, also all das, was er unter Bildungsbürgertum, unter Aufklärung, für ihn etwas Jüdisches versteht. Und was so interessant ist, das Eichmann natürlich sehr viel erzählt, weil er ja gerne zum Wissen beitragen möchte, muss er ja auch etwas liefern. Er kann sich nicht nur dort hinsetzen und schöne Landschaften malen, sondern er muss auch der Chronist sein, und in dem Moment, in dem Eichmann versucht, den Chronisten zu geben, transportiert er selbstverständlich sehr sehr viele interessante Fakten und dadurch, dass Less sehr sehr gut vorbereitet ist und ihn ja auch konfrontiert mit Beweismitteln, haben wir eben auch im Verhör, Reaktionen darauf."

    Fritz Bauer Institut
    Geschichte und Wirkung des Holocaust Eichmann
    Einsicht 05: Adolf Eichmann vor Gericht. Der Prozess in Jerusalem
    Fritz Bauer hatte durch seine Kontakte und seine mehrfachen Hinweise den israelischen Behörden wesentlich dabei geholfen, Adolf Eichmann in Argentinien zu ergreifen und ihm den Prozess zu machen. 50 Jahre danach hört die Beschäftigung mit diesem SS-Funktionär und Massenmörder nicht auf. Das Thema der vorliegenden Ausgabe unseres Bulletins Einsicht 05 ist der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem. Die Autorinnen und Autoren des Schwerpunktes versuchen in ihren Aufsätzen neues Licht auf Eichmann und die Prozesshintergründe sowie die spätere Rezeption des Verfahrens zu werfen.
    Weiterlesen (PDF)

    Willi Winkler
    Der Schattenmann
    Von Goebbels zu Carlos. Das gewissenlose Leben des François Genoud.
    2011 Rowohlt, Berlin
    Keiner kennt ihn, und nicht wenige bezweifeln, dass es ihn überhaupt gegeben hat. Aber für dieses Dunkel hat er selbst gesorgt: François Genoud, Schweizer Bankier, überzeugter Nazi, Förderer des Linksterrorismus. Wer war dieser Mann, in dessen Person sich die Extreme des 20. Jahrhunderts in einzigartiger Weise berühren? Während des "Dritten Reichs" war Genoud für den deutschen Geheimdienst tätig und konnte sich später die lukrativen Rechte an den Schriften von Joseph Goebbels sichern. In den Fünfzigern engagierte er sich im algerischen Befreiungskampf, dann wandte er sich den palästinensischen Terrororganisationen zu, die für Entebbe, Mogadischu und das Massaker in München 1972 verantwortlich waren. Es fiel Genoud nicht schwer, Wadi Haddad und Carlos bei Flugzeugentführungen, Attentaten und Erpressungen zu unterstützen und zugleich Kriegsverbrechern wie Adolf Eichmann und Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon, beizustehen. Willi Winkler erzählt von einem Mann im Hintergrund, einem Strippenzieher, der mit den wichtigsten Geheimdiensten verbandelt war und er zeichnet das Psychogramm dieses Schattenmanns, dessen Geschichte ein ganz neues Licht auf das Netzwerk alter und neuer Nazis und deren Verbindungen zum Linksterrorismus wirft.
    Mehr finden Sie in unserer Sendung Andruck.

    Hanna Yablonka
    The State of Israel vs. Adolf Eichmann [electronic resource]
    Hanna Yablonka ; translated from the Hebrew by Ora Cummings with David Herman.
    New York : Schocken Books, c2004.

    Auszug aus dem Manuskript:

    Bettina Stangneth hat die Entstehung und den Weg der Bänder in den vergangenen sieben Jahren verfolgt. Die hier vorgelegten Erkenntnisse beruhen auf ihrer Vorarbeit.

    Willi Winkler hat ermittelt, dass Robert Servatius, Adolf Eichmann nicht nur verteidigte, sondern dem Angeklagten in Israel auch zu einem lukrativen Maulkorb verhilft. Auch die Prozessbeobachterin Hannah Ahrendt hört von Gerüchten, die auf Hintermänner aus der Adenauer-Republik weisen, man spricht von Industriellen, die an einem raschen Verfahren in Jerusalem interessiert sein sollen. Dieter Wechtenbruch, Servatius Assistent, verweigert bis heute mit Hinweis auf seine Schweigepflicht, Fragen zum Prozess zu beantworten. Tatsächlich gibt es einen Vertrag, bei dem Geld fließt. Winkler verweist auf Francois Genoud, einen Schweizer Nationalsozialisten und den ehemaligen Pressesprecher Görings Hans Rechenberg. Genoud, dem es zuvor gelungen ist, die Verwertungsrechte an den Schriften von Martin Bormann und Joseph Goebbels zu erwerben, und Rechenberg vereinen sich mit Willem Sassen, der das Protokoll der Eichmann-Bänder nach Europa expediert. Also - so die Ermittlungen von Willi Winkler - darf Robert Servatius, der Verteidiger von Eichmann in Jerusalem auf Kosten von Genoud im feinen Hotel King David wohnen und an Weihnachten 1960 findet in Salzburg ein geheimnisvolles Treffen statt.

    Mit dabei: aus Buenos Aires Willem Sassen und der Verleger Eberhard Fritsch, zwei Brüder Eichmanns, Servatius und, unvermeidlich, Hans Rechenberg. Bei diesem Treffen wird "Die 'Interessengemeinschaft Linz'" gegründet...

    ... die sich ohne Verzug die Urheberrechte an den sogenannten Eichmann Memoiren sichert. Winkler vermutete, dass sich in Salzburg auch ein BND-Agent einfand, denn wenige Tage später unterrichtet Reinhard Gehlen, der Chef des BND seinen Staatssekretär Hans Globke, den ehemaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, über die Vereinbarung.

    Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem
    Das unbehelligte Leben eines Massenmörders
    Arche Literatur Verlag
    "Eichmann vor Jerusalem" räumt mit einer Fülle von Nachkriegslegenden und -lügen auf und enthüllt, wie der Menschheitsverbrecher Adolf Eichmann nach dem Krieg ein unbehelligtes Leben führen konnte - obwohl sowohl sein Aufenthaltsort als auch sein Deckname seit 1952 bekannt waren. Mit "Eichmann vor Jerusalem" dekonstruiert Bettina Stangneth die Lügengerüste der Nachkriegszeit und entlarvt deren unheilige Protagonisten - und wirft ein neues Licht afu die Probleme bei der Demokratisierung Deutschlands nach dem größten Zivilisationsbruch aller Zeiten.

    Auszug aus dem Manuskript:

    27. Januar 2011, Jerusalem - 50 Jahre nach den Verhören im Polizei-Büro 06 versammeln sich Zeitzeugen im Beit Ha'am, Ungerührt schiebt sich der Berufsverkehr über die Bezalel Straße. Das Haus des Volkes, wo der Eichmann Prozess stattfand, ist heute ein Theater mit zwei Sälen. Jerusalemstein auf Waschbeton, Jerusalem kriegt eine Straßenbahn, die Jaffaroad ist stillgelegt, kein Taxifahrer, der nicht dagegen protestiert. Verglichen mit der Wächterzahl auf der menschenleeren Niederflurwagentrasse in der Jaffaroad sind die Kontrollen auf dem Vorplatz des Gerard Bechar Theaters lax. Jerusalemstein, viel Glas, aber modern. Vor 50 Jahren galt das Diktat der biblischen Fassade hier noch nicht.
    Draußen Berufsverkehr, drinnen Gemeindeatmosphäre, aber auch Fernsehkameras, Spannung im samtrot ausgeschlagenen Gestühl. Zeitzeugen auf der Bühne Menachem Resh wie Michael Goldmann-Gilead, Ermittlungsoffizier des Polizei-Büro 06 und Gabriel Bach, Stellvertreter der Anklage im Eichmann Prozess.

    Gabriel Bach: "Die Leute von der Polizei haben Millionen von Dokumenten durchgesehen. Ich hatte gebeten, dass jeder Offizier, der über sein Land arbeitet, wenn er ein Dokument sieht, das für uns relevant sein könnte, dass er es abends in die Sitzung bringt, damit entschieden werden kann, was in die Anklageschrift aufgenommen wird und was nicht.
    Besonders interessiert waren wir an Material über Polen, wegen der Vernichtungslager.
    Zu dieser Zeit war Polen Israel nicht gut gesonnen. Es gab eine Anordnung, dass jemand mit polnischer Staatsangehörigkeit im Prozess nicht aussagen könne. Trotzdem gab es viele Polen, die uns helfen wollten. Und so bekamen wir anonym einiges an Beweismaterial.
    So bekomme ich eines Tages einen Umschlag, und darin mit Schreibmaschine getippte Angaben über die Zahl der Juden, die in den Jahren 1942, 1943 jeden Tag in Auschwitz angekommen sind und welche Nummern ihnen auf den Arm tätowiert worden sind. Das war ein äußerst wichtiges Dokument. Aber der Mann wollte sich nicht in Gefahr begeben, und so hat er das nur abgetippt und ohne Unterschrift oder irgendeine Angabe über die Quelle an uns gesandt.
    Man muss kein Jurist sein, um zu verstehen, dass man so was in einem Prozess nicht verwenden kann.
    Aber das war so wichtig, um die Hunderttausende, die Millionen, die deportiert worden sind, zu dokumentieren, dass ich um eine Sitzung mit den Leuten von der Gruppe 06 bat, und ich fragte sie, ob jemand eine Idee habe, wie man das doch verwenden könnte.
    Es herrschte Stille. Aber dann fiel es mir selber ein: wir haben doch Zehntausende von Israelis hier, ein Viertel unserer Bevölkerung hat den Holocaust überlebt. Und die Juden, die im Lande leben und die wissen, wann sie nach Auschwitz gebracht worden sind, tragen immer noch die Nummer auf dem Arm. Die sprechen wir jetzt an: Jeder, der im Juli 1942 oder zu einer anderen Zeit auf die sich das Dokument bezieht, nach Auschwitz gebracht worden ist, soll zur Polizei kommen, wir nehmen ihre Nummern auf und können überprüfen, ob dieses Dokument, das wir bekommen haben, echt ist.
    Ich hatte noch nicht ausgesprochen, da schob Miki Goldman-Gilead seinen Ärmel hoch und zeigte uns seine Nummer. Er sagte: Ich kam im November 1943 nach Auschwitz, das ist meine Nummer, und das passt genau zu den Angaben dort.
    Ich wusste nicht, dass er aus Polen war. Schon gar nicht, dass er in Auschwitz gewesen war. Aber, wie er uns ja auch gerade erzählt hat: Er hat das noch nicht mal seinen Freunden erzählt. Und Polizisten gelten nun mal nicht als Leute, die besonders emotional und empfindlich sind, aber in dem Moment war für drei, vier Minuten absolute Stille. Das war sehr schwer anzuhören.
    Jetzt hätte ich noch eine persönliche Geschichte von einem Zeugen zu erzählen, die hier mit reingehört.
    Eichmann saß ja normalerweise in Berlin und zog da die Fäden. Seine Helfer haben in den verschiedenen Ländern gewirkt. Aber als die deutsche Armee nach Ungarn einmarschierte, gab Himmler die Anweisung, der Meister selbst müsse nach Ungarn fahren...
    ... und sich selbst davon überzeugen, dass es keine Massenflucht gibt oder gar einen Aufstand, wie 1942, ein Jahr zuvor, in Warschau, im Warschauer Ghetto. Damit das nicht passierte, fuhr Eichmann also hin.
    Eichmann hat uns im Verhör erzählt, dass er sehr früh den Befehl ausgab, dass die ersten ungarischen Juden, die in Auschwitz ankamen, bevor sie in die Gaskammern gebracht wurden, jeder eine Postkarte an die Familie oder Freunde schreiben mussten. Eichmann diktierte, was sie zu schreiben hatten: Wir sind an einem herrlichen Ort, Waldsee. Machen schöne Ausflüge in die Gegend, müssen nicht schwer arbeiten, nur gibt es hier nicht viel Wohnraum. Deshalb kommt so schnell wie möglich, um die noch freien Villen und die Häuschen zu beziehen, die es gibt. Und sie mussten schreiben: Bringt feste Schuhe für Ausflüge mit. - damit die Wehrmacht diese Schuhe verwenden könnte, nachdem die Leute in den Gaskammern ermordet worden waren.
    Mitten in diesen Aussagen über Ungarn - da hatten wir die meisten Aussagen überhaupt - erfuhr ich, dass es jemanden im Lande gäbe, der so eine Postkarte noch besäße und der noch am Leben sei. Es gelang, ihn aufzuspüren und ich sagte: Komm sofort nach Jerusalem! Er kam, ich hab ihn um elf Uhr nachts gehört. Da sage ich, weil ich die meisten Zeugen sonst vorher gründlich befragt hatte, diesmal hatte ich nur drei Stunden geschlafen, Übersetz mir diese Karte aus dem Ungarischen ins Hebräische. Das hat er gemacht, und ich sagte: Und was aus deiner Familie geworden ist, das erzählst Du mir morgen.
    Als ich ihn dann am Morgen als Zeugen aufrief, hörte ich die Geschichte also zum ersten Mal. Er erzählte, wie er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter von zweieinhalb Jahren und dem Sohn von dreizehn Jahren in den Waggon stieg und keine Ahnung hatte, was sie in Auschwitz erwartete.
    Dann beschrieb er die Selektion. Die Frau nach links, das kleine Mädchen nach links. Man fragte ihn: Was war früher dein Beruf? Er sagte: Ich war Ingenieur bei der Armee. Dann geh du nach rechts, und dann fragte der SS-Mann, Und was ist mit dem Sohn? Der ist 13, 14 Jahre alt. Und der SS-Mann sagte, das müsse er mit seinem Vorgesetzten abklären. Und das brauchte ein, zwei Minuten. Er kam zurück und sagte zu dem Sohn: Lauf zu deiner Mama! Ich wusste nicht, ob mein Sohn seine Mutter noch finden würde, sagte der Zeuge, denn da waren schon hunderte von Menschen zwischen ihnen, da hab ich geschaut: Meine Frau konnte ich schon nicht mehr sehen, die Menge hatte sie verschluckt, und meinen Sohn sah ich auch nicht mehr, er war auch in der Menge verschwunden, aber meine Tochter, die hatte einen roten Mantel an, und diesen roten Punkt, der immer kleiner wurde, den sah ich - so verschwand meine Familie aus meinem Leben.
    Nun hatte ich zufällig eine zweieinhalbjährige Tochter, Orli, und zwei Wochen vorher hatte ich ihr einen roten Mantel gekauft. Und einen Tag davor hatte meine Frau mich mit der Kleinen im roten Mantel fotografiert, genau mit zweieinhalb Jahren.
    Als der Zeuge das erzählte, traf mich das wie ein Schlag. Ich bekam plötzlich keinen Ton mehr heraus. Ich sollte mich wieder fangen, die nächste Frage stellen, die Richter machten mir schon Zeichen. Die Kamera vom Fernsehen war auf mich gerichtet, und ich konnte nichts sagen.
    Das hat wohl ein paar Minuten gedauert, bis ich mich erholt hatte. Und ich sage euch: Seitdem kann ich auf einem Basketballspiel sein, mitten in einem Restaurant oder auf der Straße und plötzlich bekomme ich Herzklopfen. Dann drehe ich mich um und sehe einen kleinen Jungen oder ein Mädchen in einem roten Mantel.
    Das ist vielleicht eine etwas banale Geschichte, aber für mich war das ein Augenblick, der den Prozess mehr symbolisiert, als jeder andere."

    Für viele Überlebenden wurde der Eichmann Prozess zur ersten Anerkennung ihrer Leiden in der Shoah.

    Auszug aus dem Manuskript:

    Aharon Appelfeld war ein Kind, als der Krieg ausbrach, er wurde im Getto interniert und konnte fliehen. Er überlebte in den Wäldern Osteuropas:

    "Ich war fast 14 Jahre alt. Ohne Eltern, ohne Sprache, ich hab zuhause besucht die erste Klasse, nicht mehr, sodass ich hab viel gesehen, viel gehört, aber keine Kultur in mir gehabt, nichts, sodass mein Ausdruck war ausdruckslos, das heißt ohne Sprache, Tabula rasa.
    Schon mehr als zwanzig Bücher habe ich über diese Jahre geschrieben. Es gibt Momente, da glaube ich, ich hätte noch gar nicht angefangen. Als verstecke sich die ganze Erinnerung mit allen Details noch in mir, und wenn sie dann hervorkommt, wird sie stark und gewaltig sprudeln. An der folgenden Passage über die Todesmärsche arbeite ich bereits seit Jahren - ohne Erfolg: Schon viele Tage waten wir durch tiefen Schlamm; ein langer Zug, bewacht von rumänischen Soldaten und ukrainischen Schlägern, die prügeln und herum schießen. Vater hält mich fest an der Hand. Meine kurzen Beine erreichen wieder nicht den Boden unter dem Schlamm; die nasse Kälte schneidet mir in die Schenkel, in die Hüften. Alles um mich herum ist dunkel, ich spüre nichts, nur Vaters Hand, und tatsächlich noch nicht einmal die, denn meine Hand fühlt nichts mehr. Mir ist klar, bloß eine kleine Bewegung, und ich sinke ein, und dann wird mich auch Vater nicht mehr herausziehen können. So sind schon viele Kinder versunken. Nachts, wenn der Zug steht, zieht Vater mich aus dem Schlamm, reibt meine Füsse an seinem Mantel - die Schuhe habe ich längst verloren - und steckt sie in sein Mantelfutter. Das bisschen Wärme tut weh, ich ziehe die Füsse schnell wieder heraus. Diese schnelle Bewegung macht Vater wütend, und ich weiß nicht, warum.
    Der Eichmann Prozess war, dass das erste Mal, Leute, die kamen von den Lagern, von den Wälder, konnten sprechen, es war erlaubt zu sprechen, du hast dir es erlaubt zu sprechen, über dein Leben, über deine Eltern, was es geschah, es war die erste richtige Legitimation zu sprechen, kann man sagen auszusprechen. Und viele haben darüber gesprochen."

    Aharon Appelfeld wurde 1932 geboren. Aharon Appelfeld hatte im Eichmann Prozess nicht ausgesagt, mit seinen Romanen über die verdrängte Vergangenheit aber wurde er zum wichtigsten Mahner der jüdischen Nation.

    Aharon Appelfeld
    Geschichte eines Lebens
    Ausgezeichnet mit dem Prix Medicis für ausländische Literatur 2004.
    2005 Rowohlt, Berlin
    "Manchmal genügt der Geruch von gammeligem Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hinein zu schleudern." Der dies sagt - der Schriftsteller Aharon Appelfeld - war bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sieben Jahre alt, ein behütetes Kind assimilierter Juden in Czernowitz, ein kleiner Junge namens Erwin. Seine Kindheit endet über Nacht: Deutsche und Rumänen ermorden seine Mutter, er hört ihren Schrei. Als er nach Monaten im Ghetto und dem Todesmarsch durch die Steppen der Ukraine im Lager eintrifft, wird er von seinem Vater getrennt. Erwin gelingt die Flucht in die Wälder. Ein Baum mit roten Äpfeln prägt sich dem Hungernden unauslöschlich ein.

    Aharon Appelfeld
    Blumen der Finsternis
    Roman.
    2010 Rowohlt TB.
    Der Zweite Weltkrieg hat seinen Höhepunkt erreicht. Tag für Tag werden Juden deportiert. Die verzweifelte Mutter des elfjährigen Hugo vertraut ihren Sohn der Prostituierten Mariana an. Bei ihr lernt der jüdische Junge alles über die Grausamkeit des Lebens, aber auch über Verantwortung, Liebe und sogar Glück.

    Professor Idith Zertal ist eine der führenden israelischen Historiker. Ihre Bücher und Artikel zur jüdischen und israelischen Geschichte werden weltweit publiziert. Auf Deutsch erschien von ihr "Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit", Göttingen 2003 ("Israel's Holocaust and the Politics of Nationhood", Cambridge UP). Des weiteren erschien von ihr u.a.: "From Catastrophe to Power: Holocaust Survivors and the Emergence of Israel". Sie unterrichtete an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war Gastprofessorin an der Universität von Chicago und an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Derzeit lehrt sie als Professorin für Geschichte am Institut für Jüdische Studien an der Universität Basel. Sie lebt in Israel und in der Schweiz.

    Idith Zertal
    Nation und Tod
    Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit
    Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
    Reihentitel: Schriftenreihe des Minerva Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv (Hg. von Moshe Zuckermann)
    Bandnummer: 24


    Der Prozess gegen den früheren SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann wird Teil des Lehrplanes für den israelischen Geschichtsunterricht. Bislang ist das Thema für die Lehrer nicht verpflichtend ... Mehr dazu von Hanna Jablonka.

    "Zum Schluss noch etwas zur Bedeutung des vielleicht wichtigsten Augenblicks in dem Prozess: Das war der Moment, als diese Richter diesen Saal, in dem wir hier erzählen, zum ersten Mal betraten, das Symbol des Staates Israel über ihnen, und dieser Mann, der sein ganzes Leben lang danach gestrebt hat, dieses Volk zu vernichten, als der aufstand und vor einem souveränen Gericht eines souveränen Staates strammstand, da verstand ich die Bedeutung der Gründung des Staates Israel plötzlich noch mal anders und ich glaube, ich bin nicht der einzige, der das so empfunden hat."

    Gabriel Bach, Jerusalem