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Begegnungen mit Argentinien, Afrika und Japan

19 Künstler aus aller Welt präsentieren auf dem neuen Theaterfestival in Berlin ihre Visionen. Eröffnet wurde "Foreign Affairs" mit einer großen Bühnenproduktion des argentinischen Regisseurs Federico León . Daran beteiligt waren 108 Berliner und 13 argentinische Schauspieler.

Von Hartmut Krug | 30.09.2012
    Das Publikum strömt in die ersten Aufführungen des neuen Berliner Theaterfestivals Foreign Affairs, und, - es ist jung. Das war bei seinen Vorgängern anders: Denn früher erstreckte sich das internationale Gastspielpendant zum Berliner Theatertreffen über vier Monate und bot als "Berliner Festwochen", nach der Wende als "Spielzeiteuropa", ein eher braves Programm mit arriviertem "Großtheater." Die von der Belgierin Frie Leysen kuratierten Foreign Affairs sind geprägt von Leysens politischem und kulturellem Interesse an außereuropäischen Kulturen und einer Offenheit gegenüber allen modernen Formen performativer Kunst.

    Alles neu also. Was nicht bedeutet, dass auch alles gleich ganz toll wurde. Das Eröffnungsgastspiel aus Buenos Aires jedenfalls, Federico Leóns "Las Multitudes", also "Die Menschenmengen", war eine im doppelten Wortsinne große Enttäuschung. Auf die Bühne rannten 108 Berliner und 13 argentinische Schauspieler, vom kleinen Kind bis zum alten Mann. Getrennt nach Geschlecht und drei Altersstufen, rannten diese nun auf der leeren Bühne hin und her, - suchend nach den jeweils anderen. Alle ganz in Weiß und meist mit Taschenlampen, dabei von der Seite hell angestrahlt, was nette Bildwirkungen hervor rief. Natürlich war auch beeindruckend, wenn sich alle zu einer Großformation vereinten, aber choreografisch war der Abend so schlicht gestrickt, wie er inhaltlich hochstapelte. Denn irgendwie sollte es um die Suche nach "Identität im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv" gehen. Das heißt, es ging um Liebesprobleme. Ein junger Mann liebt ein Mädchen, dieses aber liebt einen älteren aus einer Rockband, und die älteste Generation will helfen und erklären. Also wird hin und her gerannt, werden die 108 Berliner als aufgesplitterter, aber gesichtsloser und sprachloser Bewegungschor über die Bühne gescheucht, und die argentinischen Schauspieler suchen mit wenigen Worten nach Problemlösungen. Trotz einiger schöner Effekte, wie einem kurzen Rockkonzert, ist man erleichtert, dass dieses große Nichts nach siebzig Minuten zu Ende ist.

    Manchmal sind die Kontraste bei einem solchen bunten Festspielprogramm ziemlich heftig. Denn der weiße Südafrikaner Brett Bailey bot am nächsten Tag mit "Exhibit B" eine kritische szenische Afrika-Völkerschau. "Exhibit B" deshalb, weil Bailey vor zwei Jahren schon einmal eine solche lebendige theatrale Installation in Wien und bei den Braunschweiger Theaterformen gezeigt hat. Was nun im Kleinen Wasserspeicher gezeigt wurde, einem kalten und bedrückenden alten Backsteinbau im Prenzlauer Berg, in den der Zuschauer einzeln nacheinander eingelassen wurde, war eine nur in kleinen Teilen veränderte Version. Beeindruckend, informativ und den Berliner Zuschauer mit Scham erfüllend, ist diese Version aber auch. Weil es sich auch mit dem deutschen Kolonialismus, mit der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Ethnologie 1942 beschäftigt. Es ist mehr Ausstellung denn Aufführung, denn auch die afrikanischen Flüchtlinge, die hier neben ihren beantworteten Fragebögen stumm stehen, agieren nicht. Vor jeder szenischen Installation steht ein erklärendes Textschild.

    Traditionelle Klagegesänge erklingen aus weißen Kästen, aus denen nur die tiefschwarzen, singenden Köpfe der in Deutsch-Südwestafrika ermordeten Opfer hervorragen. In Baileys Installation sind nicht nur afrikanische Wilde so ausgestellt, wie sie in den populären ethnografischen Schaustellungen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa zu sehen waren, sondern es wird auch unser heutiger Blick auf Afrikaner kritisch befragt. Menschen wie Tiere werden gleichermaßen als Jagdtrophäen gezeigt, und in der Unterkunft eines Offiziers der deutschen Schutztruppe vereinen sich Gemütlichkeit und Gewalt, wenn vor Erinnerungsfotos aufgespießte Totenschädel und unter einer Madonna eine mit Ketten gefesselte halb nackte Schwarze auf dem Feldlager zu sehen sind. Titel: Ein Platz an der Sonne.

    Vom düsteren Wasserspeicher in die Seitenbühne des Festspielhauses. Der Kontrast könnte nicht heftiger sein. Denn nun bekommt man keine Erklärungen, sondern Ohrstöpsel wegen der dröhnenden Discomusik:

    Wieder ein scharfer Schnitt. Der Japaner Daisuke Miura zeigt in seinem Stück "Love's Whirlpool" einen Sexklub. Vier Männer, vier Frauen. Nach und nach trudeln sie ein, setzen sich, nachdem jeder sich geduscht und in ein Badetuch gehüllt hat, schrecklich gehemmt und verklemmt gegenüber. Erste Gesprächsversuche stellen die Frage, ob man schon einmal hier war. Der Small Talk weicht nur schwer dem späteren Eingeständnis, allein aus sogenannter "Sexsucht" hierher gekommen sein. Eigentlich ist es ein geschickt, wenn auch konventionell gebautes, modernes bürgerliches Trauerspiel. Denn wie hier eine Generation, die alles kaufen kann, sich die körperliche Befriedigung kauft und im Geheimen doch noch eine seelische Sehnsucht besitzt, die nicht zu befriedigen ist, das wirkt auf den deutschen Zuschauer ein wenig bieder. Da mag es noch so akustisch drastisch zugehen, wenn die ersten Paare sich auf den Betten auf der Empore gefunden haben:

    Hier wird Sex gemacht und über Sex geredet. Mit den üblichen Gruppendynamiken, gibt es doch die schüchterne junge Studentin wie die erfahrene Sexklubbesucherin, den jungfräulichen, aber erwachenden Mann und die sexgeile Kindergärtnerin. So schaukelt sich der Abend von Gehemmtheit zu Enthemmtheit, von Nettigkeit zu Beschimpfungen und bleibt eigentlich ein ganz normaler Gruppenabend. Der allerdings noch entfremdeter wirkt, weil keiner des anderen Namen kennt, und die Sexklubbesitzer jeden schüchternen echten Kontaktversuch unterbinden. Zwei Stunden sind recht lang, da man die Moral des unmoralischen Geschehens schnell verstanden hat. Was bleibt, ist lockerer Boulevard, ein wenig geschwätzig, auch wenn gar nicht so viel geredet wird.

    So bleibt zu konstatieren, dass der Start von Foreign Affairs nicht unbedingt fulminant verlief.
    Szene aus "Love's Whirlepool" von Daisuke Mirua
    Szene aus "Love's Whirlepool" von Daisuke Mirua (Wakana Hikino)