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Begehren als Revolution

Wir schreiben das Jahr 1972. Ein 49-jähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Europäischen Kommission mit Namen Nicolaus Sombart reist nach Bukarest. Auf dem 3. Internationalen Kongress für Zukunftsforschung will Herr Sombart einen Vortrag über den Frühsozialisten Charles Fourier halten.

Von Bettina Schoeller | 14.06.2006
    Der französische Utopist Fourier entdeckte einst das "Begehren als die wahre revolutionäre Kraft": Ein jeder habe das Recht auf Glück und dies bestünde in einer Optimierung der Lust. Alles werde sich zum Guten wenden, wenn es eine Gesellschaftsordnung gäbe, deren Ziel die Entfaltung der Leidenschaft ist. Während diese Gesellschaftsordnung noch in utopischer Ferne auf sich warten lässt, beginnt Nicolaus Sombart bereits privat mit ihrer Verwirklichung. So steht auch die Reise der Hauptfigur im Zeichen einer exzentrischen Liebesbeziehung: Wie aus Nicolaus Sombarts Tagebuch hervorgeht, das kürzlich im Berliner Transit-Verlag unter dem Titel "Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter" veröffentlicht wurde, will sich der Autor im sozialistischen Rumänien den Fesseln der Bürgerlichkeit entledigen, und mit seiner Geliebten, Isabelle, "unbekannte Territorien" ergründen - sowohl in einer Reise durch das Land, als auch in einer ménage à trois im Hotelzimmer.

    Noch heute, 34 Jahre später, ist der mittlerweile 83jährige Nicolaus Sombart von Fouriers Utopie überzeugt.

    " Das ist die neue Liebeswelt. Er hat das so aufgebaut, auf einem großen systematischen Sockel, die Überzeugung, dass die Menschen glücklich sind, wenn sie ihre Produktivität entfalten können und das tun können in einer Gesellschaft von Menschen, die dieselben Ideen wie sie haben. Das große Schlüsselwort ist die Association, die sich dann in der Realität als das föderative Prinzip in der Wirtschaft und in die Politik eingemogelt hat. Aber die jetzt zum ersten Mal seit 1000 Jahren immerhin ins Gespräch der Politiker gekommen ist, nicht wahr. Und da hatte sich so eine kleine Gruppe von Phantasten gebildet, Robert Jung Ionell, Franzose, Weizsäcker - der andere, der Philosoph. Und da war ein wirklicher Zukunftsansatz.

    Und in dem letzten Buch spielt die Zukunftsforschung eine starke Rolle. Die Hauptfigur, die verbunden ist mit einer Marotte, die ich schon in Heidelberg pflegte: Meine Liebe für Fourier, Charles Fourier. Also einen französischen Utopisten, den kein Mensch kennt."

    1923 wurde Nicolaus Sombart als Sohn des berühmten Soziologen und Nationalökonomen Werner Sombart in Berlin geboren. Als Gründungsmitglied der Gruppe 47 entwarf er mit Alfred Andersch und Hans Werner Richter die Zeitschrift "Ruf". Nach einem Studium der Philosophie, Staatswissenschaften und Kultursoziologie in Heidelberg, Neapel und Paris, promovierte er 1950 bei Alfred Weber. In der weitläufigen Bibliothek seines Vaters Werner Sombart, und in der Atmosphäre der literarischen Salons seiner aus Rumänien stammenden Mutter, Corinna Léon, fand der Autor einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung seiner Liebe zu Fourier: In seinen zahlreichen Werken stellt Nicolaus Sombart Zusammenhänge her zwischen den "Grundstrukturen des Individuums und der Gesellschaft", zwischen "politischer und libidinöser Ökonomie", zwischen "sexueller - und politischer Befreiung".

    " Ich gelte als der Verbrecher, der die Sexualität in die Wissenschaft eingeführt habe. Und das war möglich, weil die ganze Frauenbewegung da plötzlich einen Referenztext hatte, der fehlte."

    In seinem langen und bewegten Leben ist der Erotomane und Salonlöwe Nicolaus Sombart mit vielerlei Eigenschaftsworten bedacht worden: "Klatschaft, überheblich, indiskret, unberechenbar, selbstgerecht und eitel". Auf jeden Fall hat er eine eigene Tradition entwickelt, wenn es darum geht, sein Leben "wahrheitsgetreu" festzuhalten, mit anderen Worten: seine Lebensgeschichte in Rousseaus und Goethes Art neu zu erfinden.

    " Es gibt die "Jugend in Berlin", als Band eins. Meine Jugend, von 10 - 20. Mit der ich mich bekannt gemacht habe, als Autor, aber auch als Jungakademiker, denn ich begann nach dem Krieg mein Leben als Student. Und habe über diese Studentenzeit und die damit verbundenen Erfahrungen - Nazis - nicht Nazis, in einem Buch zusammengefasst, das leider nicht fertig geworden ist, aber das weiß nur ich, "Rendez-vous mit dem Weltgeist". Also, ich bin Soziologe oder wurde es damals. Im Mittelpunkt dieses alten Bandes stehen die Persönlichkeiten, die damals unsere Lehrer waren, Max Weber, Alfred Weber, Salin, Karl Schmidt."

    " Es war also der zweite Band, der imaginären Autobiographie. Und dann habe ich einen dritten Band, weil es solchen Spaß machte, dazu geschrieben: "Pariser Lehrjahre". Nach meinen Heidelberger Studienjahren bin ich nach Paris gegangen. Mit Hilfe eines Stipendiums der französischen Besatzungsmacht und habe damals mit Plänen wie einer Zeitschrift für Jugendliche usw. meinen Beitrag geleistet an der aktiven Teilnahme an dem Nachkriegsgeschehen, an der Nachkriegsatmosphäre, des Wiederaufbauens, Reinigung..."

    Es folgte das "journal intime 1982/83", eine Hommage an ein intellektuelles Berlin und ein Rückblick auf seine vie experimentale. Auch in seiner neuesten Tagebuch-Veröffentlichung Rumänische Reise stellt sich Nicolaus Sombart die Frage:

    " Wie kann man eine Biographie, eine Autobiographie ein Kapitel aus der Entstehungsgeschichte der Soziologie, Familiengeschichte, Genealogie spielt eine große Rolle, nicht wahr, wie kann man das alles zusammenbacken und so zu einem Zopf aus verschiedenen Strängen, zu einem in sich kohärenten Gebilde zu machen."

    Die Antwort findet der Autor in einem erzählerischen Umweg; die Suche nach einer utopischen Zukunft spielt ihm die Vergangenheit vor die Füße: Der Ich-Erzähler empfindet sein Dasein als blasse Kopie eines wunderbaren Lebens, das er gerne führen würde. Jetzt ist es für ihn an der Zeit, diese Utopie zu verwirklichen, geheimen Wünsche zu leben. Mit seiner jungen Geliebten Isabelle möchte er die erotische Bürgerlichkeit hinter sich lassen, möchte ihre und seine Eifersucht überwinden und eine Nacht mit zwei Frauen verbringen. Das sozialistische Rumänien mit seinen wohlfeilen Prostituierten scheint für dieses Vorhaben wie geschaffen zu sein.
    " Es war für Rumänien ja das erste Aufleuchten einer weißen Utopie. Ceausescu war noch nicht verrückt und die sozusagen doktrinäre Einstimmung auf den Stalinismus, der für alle sozialistischen Länder galt, war gewichen einer geistig offenen, liberaleren Sozialökonomie. Wo Zukunftsforschung sehr gut reinpasste, so eine Art Brückenfunktion übernehmen konnte."

    Die Durchführung dieses "einfachen Planes" wird jedoch überlagert von der Entdeckung Rumäniens als dem Land seiner Mutter. Der Ich-Erzähler begibt sich immer mehr auf die Spuren seiner Familiengeschichte. Er muss feststellen, dass viele seiner Familienmitglieder der "Entledigung des Bürgertums" in den 50er und 60er Jahren zum Opfer fielen.

    " Und da fand ich ja die noch lebenden Familienmitglieder, Cousins und Cousinen, vor. Lernte das traurige Schicksal kennen, dem die ausgesetzt waren. Die hatten also eine Genozidtechnik, die bestand darin, nicht die Leute zu erschießen, nicht die Leute verbrennen, sondern sie verrecken lassen. In verlausten Zellen, mit Krankheiten, ohne Ärzte, ohne Medikamente, mit der Illusion, irgendwann mal rauszukommen. "

    Die Rumänische Reise wird zu einer Entdeckungsfahrt in die Welt seiner Mutter, Corinna Léon. Nicolaus Sombart löst das Geheimnis dieser wohlhabenden, begabten aber doch schwermütigen Frau: Der Grund für ihre plötzlichen Abreise nach Berlin ist eine tragische Liebesgeschichte. Wieder findet sich der Fourier - Liebhaber bestätigt in seiner Forderung nach Selbstbefreiung durch das Freisetzen der "Produktionsbeziehungen des Begehrens".

    Nicolaus Sombart hat die 1972 auf Französisch geschriebenen Tagebücher für die diesjährig erschienene Veröffentlichung seiner Rumänischen Reise ins Deutsche zurückübersetzen lassen. Mehrere Male hat er den Übersetzer gewechselt, weil er Wert darauf legte, dass die Texte in ihrer Zeitgebundenheit erhalten bleiben.

    Noch heute empfängt Nicolaus Sombart in der rumänischen Tradition seiner Mutter literarische und politische Gäste in dem holzgetäfelten marmorverzierten Charlottenburger Salon. In Anwesenheit einiger realer und vieler geistiger Persönlichkeiten ist die Meinung des ehemaligen Europarat-Mitgliedes zu einer Aufnahme Rumäniens in die EU:

    " Rumänien ist kein Problem. Die Bulgaren und Türken sind ein Problem. Das aber in denselben Sack gehört. Nein, Rumänien ist ganz ohne Zweifel ein westliches Land, das, was jetzt die Sache so schwierig macht, ist die Korruption im Lande, das ist der ganze politische Apparat, also dem einzigen Gesetz. Bereichere dich - enrichessez-vous. Was nun wieder die Wurzel des Liberalismus ist."

    " Ich liebte dies Land mit seinen schönen Seiten, die ja grandios sind. Das ist alles zerstört mittlerweile, aber das ist eines der reichsten, buntesten, poetischsten, intelligentesten Länder, das wir haben."

    Nicolaus Sombart: "Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter"
    Transit Verlag Berlin