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Begehren und Grausamkeit

In Japan gehört Yoko Ogawa zu den bekanntesten zeitgenössischen Autorinnen. Sie beherrscht die Kunst der Zweideutigkeit, ihre Haltung ist die des Zeigens.

Von Sabine Peters | 05.02.2008
    Aya, ein junges japanisches Mädchen, beobachtet im Schwimmbad Jun, der mit kühler Anmut seine Kunstsprünge vom Turm vollführt. Die beiden wachsen wie Geschwister oder Freunde nebeneinander auf, und Aja bewundert ihn für seine sportlichen Fähigkeiten, seine Eleganz, seine Freundlichkeit und Beliebtheit.

    Ihre nur halb bewusste und ungestillte Sehnsucht nach seiner Zärtlichkeit geht einher mit grausamen Gefühlen und Verhaltensweisen: Sie gibt einem Kleinkind verdorbene Lebensmittel zu essen, um sich an seinen Krämpfen zu weiden Ein andermal bringt sie das Kind gezielt zum Schreien vor Angst. Ohne jede Reue genießt sie dessen Schmerzen. Diese Gleichzeitigkeit von Begehren und Grausamkeit - gibt es da einen Zusammenhang, eine einleuchtende Erklärung?

    Yoko Ogawa, die Autorin des Erzählungsbandes "Der zerbrochene Schmetterling", erklärt in ihren Romanen und Erzählungen nichts, ihre Haltung ist die des Zeigens. Sie will nicht mehr wissen als die jungen Frauen, die in ihren Büchern meist die Protagonistinnen sind. In all ihren Texten nimmt die alltägliche Routine eines Alltags unmerklich rituelle Züge an. Das gibt ihrer Literatur etwas Rätselhaftes; wobei der Reiz darin besteht, dass dieses Rätsel nicht feierlich erstarrt steht, sondern sozusagen schwebt.

    Ogawa, Jahrgang 1962, gehört in Japan zu den bekanntesten zeitgenössischen Autorinnen, die mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde. Einige Bücher, etwa der Roman "Hotel Iris," erschienen auch im deutschsprachigen Raum - und das, obwohl Ogawa vom ersten Buch an Themenkreise verfolgt, die hierzulande nach wie vor als zumindest anrüchig gelten: Es geht um die Grenzgängerei zwischen Gewalt und Erotik, Grausamkeit und Zärtlichkeit, Dreck und Reinheit, Ekel und Lust. Und es geht um die Metamorphosen, die zwischen Werden und Vergehen liegen, also um Verpuppungen, um Maskeraden.
    Der soeben bei uns erschienene Band "der zerbrochene Schmetterling" umfasst drei frühe Erzählungen aus den Jahren 1988 bis 1990, die bereits deutlich darauf hinweisen, welche Räume die Autorin durchmisst: Sie schafft eine Welt der Imagination, eine Atmosphäre der Diffusion, in der die Protagonisten als reine Kunstfiguren agieren. Diese Figuren sind auf wenige Merkmale reduziert, in ihrer jeweiligen Geschichte interessiert ein Ausschnitt, ein Übergangsmoment, es interessiert die Schwellensituation.

    So auch in der Erzählung vom zerbrochenen Schmetterling: Eine schwangere Frau entfremdet sich ihrem Mann und fragt sich, bezogen auf das ungeborene Kind, wo sie selbst eigentlich beginnt und aufhört. Gefühle von Zuneigung empfindet sie nur für die sterbende Großmutter, die sich mental wie physisch langsam auflöst und wieder ein unbeschriebenes Blatt wird. Aber die Unsicherheit der Schwangeren wächst, sie selbst kann innen und außen nicht mehr unterscheiden. Und vor dem Spiegel ist ihr durchaus vorstellbar, ihren schwellenden Körper mit dem verfallenden der Großmutter zu tauschen.
    In kurzen Sätzen, dabei äußerst präzise beobachtend, in einer einfachen, schnörkellosen Sprache werden subtile Dramen entwickelt. Es sind keine Seelendramen, sondern eher Körperdramen, die sich hier abspielen - und ohnedies kennt die shintoistisch-buddhistische Tradition, von der Ogawa beeinflusst wurde, nicht die sauberen Schwarz-Weiß-Trennungen, die das abendländische Denken prägen. Es geht also nicht um Oppositionen etwa zwischen Körper und Geist/ Seele, oder um den Gegensatz zwischen Liebe und Gewalt.

    Selbst das Wünschen und das Müssen sind oft kaum unterscheidbar - so überlappten sich Lust und Obsession in dem Roman "Hotel Iris". Hier ging die Hauptfigur eine masochistische Beziehung zu einem wesentlich älteren Sadisten ein. Es blieb offen, wer in dieser verschworenen heimlichen Liebe dominiert. Am Ende starb jedenfalls der Mann, und die junge Frau ihrerseits hatte sich aus einer Abhängigkeit befreit - sie löste sich von ihrer Mutter.

    Erotik und Tod bestimmen auch die dritte Erzählung im "zerbrochenen Schmetterling". Eine Schwester umsorgt ihren im Sterben liegenden Bruder, im aseptischen Krankenzimmer verfolgt sie fasziniert, wie er von Tag zu Tag durchscheinender wird, gewissermaßen Reinheit verkörpert. Vor der gewöhnlichen organischen Materie, den Essensresten ihres Mannes, empfindet die Frau zunehmend Ekelgefühle. Diese Konstellation ist nahe daran, in Schwulst und Kitsch umzukippen, und die Lust am Morbiden wirkt hier in einzelnen Passagen doch ziemlich befremdlich. Aber auch in diesem frühen Text verhindert die insgesamt so distanzierte wie disziplinierte Schreibweise der Autorin, dass man das Ganze kopfschüttelnd beiseite legt. Möglicherweise findet zwischen den Geschwistern ein Inzest statt. Man muss das aber nicht wissen.

    Die Autorin beherrscht die Kunst der Zweideutigkeit, und die Leerstellen, die ihr Text sehr bewusst setzt, geben dem Leser Raum. Während der Lektüre gerät man in eine Art Zwischenreich, in dem andere Regeln zu gelten scheinen. Jedenfalls steht dort nicht eins für etwas Anderes, dort interessieren nicht Symbolik und Bedeutungsstiftung, sondern es geht um den Prozess des Verschiebens, um Imagination, um den Gestus des Schweifens. Anders gesagt: Wo es keine Normalität gibt, gibt es auch keine Perversion.
    Man könnte auch, wäre der Begriff nicht christlich-theologisch belastet, von einer "unschuldigen" Literatur reden. Das ist eine Unschuld, der überhaupt nichts fremd ist, die grenzenlos ist, die alles hinter sich hat.


    Yoko Ogawa: Der zerbrochene Schmetterling. Erzählungen.
    Aus dem Japanischen von Ursula Graefe und Kimiko Nakayama-Ziegler,
    Liebeskind-Verlag, 192 Seiten, 18,90 Euro