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Begründer der modernen Medientheorie

Vor 100 Jahren wurde der kanadische Kommunikationstheoretiker Herbert Marshall McLuhan geboren. Eine umstrittene und streitbare Figur, von der jene, die ihn kannten, nur in Superlativen redeten. Nun ist sein lange vergriffenes Werk "Krieg und Frieden im globalen Dorf" neu aufgelegt worden.

Von Matthias Eckoldt | 21.07.2011
    Bei "Krieg und Frieden im globalen Dorf" von Herbert Marshall McLuhan hat man es mit einem in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Buch zu tun. Schon das Erscheinungsbild bricht mit den herkömmlichen Wahrnehmungsmustern des Gutenberg-Zeitalters. Der Leser ist mit einem Text konfrontiert, der von Fotos, Comic-Strips und Montagen unterbrochen wird. Neben dem Haupttext finden sich dazu noch sogenannte Marginalglossen. Das sind wie Randnotizen gestaltete Zitate – zumeist aus "Finnegans Wake" von James Joyce, dem Lieblingsautor McLuhans.

    Die allein schon von der Typografie herrührende Irritation des Lesers ist besonders erstaunlich, da das Buch erstmals vor mittlerweile 43 Jahren erschien. In jenem wilden Jahr 1968, als der Vietnam-Krieg tobte, die Jugend revoltierte und McLuhan als Begründer der modernen Medientheorie im Zenit seines Ruhms stand. Der Kanadier schrieb das Buch während einer zweijährigen Albert-Schweitzer-Professur in New York, der Grafiker Quentin Fiore illustrierte es. Beispielsweise mit dem Foto eines GIs, dessen gesamtes Gesicht von einem Verband umwickelt ist. Nur der Mund ist noch frei. Aus ihm ragt eine brennende Zigarette. Daneben steht:

    "Jede Technologie erfordert einen neuen Krieg."

    Dieses Arrangement dient als Kommentar zu McLuhans Passage:

    "Fühlt man sich durch neue technische Errungenschaften verletzt, erkennt der Einzelne oder der Gesellschaftskörper, dass seine ganze Identität durch physischen oder psychischen Wandel gefährdet wird, so steigert er sich in eine Wut der Selbstverteidigung hinein."

    Diese Wut sieht der Medienwissenschaftler McLuhan in den USA Mitte der 60er-Jahre aufsteigen. Zu einer Zeit, wo die elektronischen Kommunikationstechnologien das amerikanische Selbstbildnis ins Wanken bringen und langhaarige Aussteiger als Serienhelden firmieren, reagiert das Pentagon mit geradezu abenteuerlichen militärischen Aktionen – namentlich dem Vietnam-Krieg. Doch greift es zu kurz, "Krieg und Frieden im globalen Dorf" als ein pazifistisches Buch zu lesen. McLuhan nimmt nicht Partei, sondern ist als Begründer der modernen Medientheorie am Phänomen des Krieges interessiert, den er getreu seiner Grunderkenntnis analysiert. Sie lautet:

    "The medium is the message."

    Die Botschaft eines Mediums ist dieses Medium selbst. McLuhan hatte mit diesem Diktum, das der Medienwissenschaft seither als Leit- und Zauberformel dient, einen grundsätzlichen Perspektivwechsel in der Betrachtung von Medien angeregt: Nicht mehr die Inhalte sollten bei der Analyse eines Mediums im Vordergrund stehen, sondern seine Form, die – so McLuhans These - den jeweiligen Wahrnehmungshorizont vorgibt. So macht sich im Gutenbergzeitalter das Buch selbst zur Botschaft, indem es die Wahrnehmung der Welt als Buch vorgibt: Die Welt wird in kleinste Einheiten zerlegt, sie wird klassifiziert, analysiert, mit Zahlen versehen, mit Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Die Welt wird mit dem Heraufkommen des Buchdrucks immer mehr zum Buch, weil die mediale Erfolgstechnologie den Menschen die Welt nach dem Schema des Buchstabens geradezu zerhackstückeln lässt und ihm in Form des Buches demonstriert, wie sie wieder zusammengesetzt werden kann. Wahrnehmung geschieht im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der Zerlegung der Welt gemäß des typografischen Prinzips. Das heißt:

    "The medium is the message."

    In solchen und ähnlichen Kapriolen bewegt sich McLuhans Denken. Virtuos und unsystematisch, im strengen Sinne unwissenschaftlich dabei aber doch genial, mit manchmal haarsträubenden Thesen und zugleich messerscharfer Intuition. "Krieg und Frieden im globalen Dorf" legt Zeugnis vom wilden Denken des Herbert Marshall McLuhan ab, der sich selbst in Abgrenzung zum Spezialisten als Generalisten bezeichnet. Wenn der Leser seinen eigenen Hang zu Kausalität und Systematik für die Lektüre des Buches ablegt, steht ihm ein Abenteuer bevor, das an bewusstseinserweiternde Rauscherfahrungen heran kommt. Die Synapsen beginnen zu glühen, wenn McLuhan Stärke und Struktur der Römischen Armee auf das Papyrus zurückführt.

    "Papyrus war ein sehr leichtes und transportables Material, außerdem billig und reichlich genug vorhanden für den Alltagsgebrauch. Natürlich war es das römische Militär, das es am nützlichsten fand. In Verbindung mit dem phonetischen Alphabet stellte Papyrus das Mittel zur Schaffung von Roms riesigen Netzen geradliniger Straßen dar, die ihren militärischen Aktivitäten einen besonderen Charakter verliehen. Papyrus bedeutete Kontrolle und Führung von Armeen, die weit von einer zentralen Bürokratie entfernt waren. Die römischen Straßen stellten bei militärischen Manövern hohe Geschwindigkeiten sicher und machten auf Heerzügen den Transport großer Mengen von Nachschub möglich. Als kein Papyrus mehr zur Verfügung stand wurden die römischen Straßen nicht mehr benutzt, und das römische Reich fiel auseinander."

    Historiker würden über so einen funkensprühenden Kurzschluss, der das Ende des Römischen Reiches mit dem Versiegen der Papyrusquellen erklärt, sicherlich den Kopf schütteln, aber nicht ein Leser, der sich auf dem Trip der McLuhan-Droge befindet. Der verlangt nach mehr und wird nicht enttäuscht, wenn im weiteren Verlauf die Erfindung des Steigbügels für die Entstehung des mittelalterlichen Ritterheeres und des Lehnswesens verantwortlich gemacht wird, dessen Ende wiederum mit dem Schießpulver heraufdämmert:

    "Die Erfindung des Schießpulvers schoss den Rittern die Rüstung einfach vom Körper weg und machte das ganze feudale System überflüssig."

    Über diesem Zitat hat Quentin Fiore einen Mann mit Turban platziert, der sein Gewehr zum Schuss angelegt hat. Der Leser schaut genau in die Mündung. Erhellend sind auch die Beschreibungen der Kriege des 20. Jahrhunderts. Den Ersten Weltkrieg bezeichnet McLuhan, für den alle technischen Erfindungen zugleich Medien sind, als Eisenbahnkrieg und macht das neue, effektive Beförderungsmittel für das gewaltige Ausmaß der Zerstörung verantwortlich, während er im Zweiten Weltkrieg einen Radiokrieg sieht.

    "Die Radiophase der Elektronik hatte die Stammesenergien und Fantasien der europäischen Völker aufgeweckt."

    Der Vietnamkrieg ist hingegen für McLuhan der erste Fernsehkrieg, in dem die Differenz zwischen Militär und Zivil erlischt. Die Öffentlichkeit hat jetzt die Möglichkeit, an jeder Phase des Krieges teilzunehmen. In der Fortschreibung der McLuhanschen Perspektive könnte man den Geist der heutigen Kriegstechnologien vielleicht auf das internetbasierte Computerspiel zurückführen, wenn man das Vernichtungswerk der punktgenau gesteuerten unbemannten Drohnen im sogenannten Kampf gegen den Terrorismus in den Blick nimmt. Überhaupt stellt das Buch "Krieg und Frieden im globalen Dorf" von McLuhan eine Art Schule des paranoischen Denkens dar. Der Leser wird angeregt, die gewohnten Bahnen zu verlassen und alle möglichen wie unmöglichen Verbindungen zu sehen. Je ausgefallener und unwahrscheinlicher eine Herleitung ist, desto besser. McLuhan lesen heißt die Unabhängigkeit des eigenen Geistes zu trainieren, indem man sich mit dem Offensichtlichen nicht nur nicht zufrieden gibt, sondern es als Täuschungsmanöver ansieht. Und darin liegt noch 43 Jahre nach der Erstausgabe die Aktualität des Buches, also – wie könnte es bei McLuhan anders sein – weniger im Inhalt als in der Form.
    Marshall McLuhan: "Krieg und Frieden im globalen Dorf"(Neuauflage). Kadmos Verlag, Berlin 2011, 224 Seiten, 19,90 Euro