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Beim heiligen John Coltrane
Die Apostel des Sounds in San Francisco

Jazz-Freunde verehren ihn: den Musiker John Coltrane. Bei einigen Amerikanern geht die Verehrung so weit, dass sie in Coltrane einen Heiligen sehen. In San Francisco gibt es die Saint John Coltrane Church. Eine Gemeinde, die zugleich musikalisch und ausgesprochen politisch ist.

Von Sven Töniges | 06.06.2018
    Der Saxophonist John Coltrane gibt 1965 ein Konzert in Paris.
    Der Jazz-Saxofonist John Coltrane, hier 1965 in Paris, wird in San Francisco als Heiliger verehrt (AFP)
    Sonntagmorgen in der Western Addition, einem Viertel im Herzen von San Francisco. Das Harlem des Westens wurde dieser Stadtteil lange genannt. Heute prägen Geschäftshäuser das Bild. Aus einem Erdgeschoss strömt der Duft von Weihrauch, der gerade verbrennt.
    Und ein merkwürdiges Musikinstrument ist zu hören: Erzbischof Franzo Wayne King, Oberhaupt und Mitbegründer der Saint John Coltrane African Orthodox Church, bläst in ein Muschelhorn: Etwa ein Dutzend Gemeindemitglieder ist an diesem Sonntag hier zum Gottesdienst gekommen. Dazu einige Zaungäste. Es sind offenbar Touristen aus Haight-Ashbury, ein paar Blocks entfernt, dem Viertel, das durch die Beatnik- und Hippie-Bewegung berühmt wurde. An diese Laufkundschaft richtet sich Archbishop Franzo King nun zu Beginn der Liturgie mit einigen Klarstellungen:
    Sonntäglicher Gottesdienst der Saint John Coltrane African Orthodox Church, kurz Coltrane Church in San Francisco, Die 1971 gegründete Gemeinde, verehrt den 1967 verstorbenen Jazzmusiker John Coltrane.
    Pastorin Wanika King-Stephens bei der sonntäglichen Predigt in der John Coltrane Church in San Francisco, links im Bild, Erzbischof Franzo King, Gründer und Oberhaupt der Kirche (Deutschlandradio / Sven Töniges)
    "Leute, wir sind nicht zu eurer Unterhaltung hier, das hier ist kein Jazz-Workshop! Amen, lobet Gott den Allmächtigen, dies ist das Haus, das Coltrane gebaut. Also wenn ihr tanzen wollt, dann tanzt! Wenn ihr in die Hände klatschen wollt, dann klatscht! Und wenn Ihr mit den Füßen stampfen wollt, tut das! Und ich sage euch, wenn ihr euch die Nase putzen oder euch räuspern müsst, dann wird auch das zum Gebet!"
    Heiliger mit Flammen-Saxofon
    Damit ist in der Saint John Coltrane Church die Marschrichtung für die folgenden zwei Stunden klar: Und sogleich ziehen sie ein, die Apostel des Sounds, und spielen auf - angeführt von Erzbischof King, der nun sein Muschelhorn gegen ein Saxofon eintauscht. Zwei Bassisten und ein Drummer stimmen ein. Dann heben die "Sisters of Compassion" an, die "barmherzigen Schwestern". Eingerahmt wird dieser Soundteppich von drei deckenhohen Altarbildern: Zu sehen sind Maria, Jesus und Moses - allesamt in dunkler Hautfarbe. Und von links blickt ein zur Ikone stilisierter John Coltrane herab. In seiner Linken hält er ein Sopransaxofon, aus dessen Korpus kleine Flammen züngeln.
    Porträt des Jazz-Saxofonisten John Coltrane aus dem Jahr 1963
    Porträt des Jazz-Saxofonisten John Coltrane aus dem Jahr 1963 (imago / Philippe Grass / LexPictorium)
    Ein halbes Jahrhundert ist sie alt, die Coltrane Church, jene Kirchengemeinde, in der der Jazzmusiker John Coltrane verehrt wird. Mehr noch: Sie nennt sich Saint John Coltrane Church, Sankt-John-Coltrane-Kirche. Wer aber soll dieser komische Heilige sein?
    John William Coltrane wird 1926 an der Ostküste im ländlichen US-Bundesstaat North Carolina geboren. Die Vorfahren seiner Eltern waren Sklaven. Hier wächst John William auf, als Schwarzer unter Schwarzen, in einer Gemeinschaft mit eigenen Riten, Einrichtungen und einem eigenen Sound. Etwa in den Sonntagsgottesdiensten der afrikanisch-methodistischen Kirche, in der Johns Großväter predigen und seine Mutter die Orgel spielt. Dazu schreibt Coltrane-Biograf Peter Kemper:
    "Da beide Großväter als Prediger und als Vorsänger in der afrikanisch-methodistischen Kirche wirkten, lernte der junge John Coltrane, der jeden Sonntag die Kirche besuchte, schon früh, die transzendentale Wirkung von Musik zu verinnerlichen. Oft hat man ihm später nachgesagt, er versprühe in seiner Musik das erhebende Gefühl von Baptistenpredigern."
    Von Devil's Music zur Lobpreisung Gottes
    Von 1944 an lernt John Coltrane auf der Highschool in Philadelphia Saxofon. Die nächsten Jahre verbringt er in kleinen Bandformationen, tingelt übers Land. In dieser Phase konsumiert John Coltrane mal exzessiv Heroin, mal Alkohol, was ihn musikalisch und sozial aus der Bahn wirft. 1957 schmeißt ihn Miles Davis aus seiner Band, als er betrunken zum Konzert kommt. Viel fehlte nicht, und John Coltrane wäre als hell aufstrahlender, aber früh erloschener Stern in die Geschichte des Jazz eingegangen. Es kam aber anders, schreibt Karl Lippegaus in seiner ultimativen Coltrane-Biografie:
    "An einem einzigen Tag im Dezember 1964 nimmt John Coltrane seine Suite 'A Love Supreme' auf. Wenige Wochen später wird das Album bereits veröffentlicht und bleibt bis heute Coltranes meistverkauftes Werk. Der Weg zum spirituellen Durchbruch des Musikers, den das Album dokumentiert, war hart errungen. 'A Love Supreme' ist Coltranes musikalisches Glaubensbekenntnis."
    Im September 1965 gehen der Jazzfan Franzo Wayne King und seine Frau Marina in eine Bar in San Franciscos Western Addition. Sie wollen ihren ersten Hochzeitstag feiern. Doch der wird zur Nebensache, als John Coltrane die Bar betritt, erinnert sich Franzo - nunmehr "Erzbischof" King:
    "Ich beschreibe es immer so: Ich bin in einer Freikirche aufgewachsen. Also wo die Leute in Zungen reden und sich auf den Boden werfen. Ein sehr afrikanischer Ritus. Und nur damit kann ich John Coltrane auf der Bühne vergleichen. Es schien wie ein pfingstkirchlicher Gottesdienst, bei dem wir sehen konnten, wie der Heilige Geist erscheint, und mit ihm die anderen Apostel. Das war mehr als nur Entertainment. Das war ein Pfingstprediger - zutiefst davon überzeugt, dass der Geist Gottes auf ihm ruht."
    Kurz darauf stolpert Franzo King über eine Aussage John Coltranes:
    "Die Musik erhebt sich. Es entsteht etwas Neues. Und deshalb braucht es für solche Musik einen eigenen Ort. Da dachte ich mir: das ist es - eine Kirche! Ich komme aus einer Pastorenfamilie. Eine Kirche aufzumachen, das ist bei uns kein großes Ding. Das ist das, was wir machen: Wir gründen Kirchen. Mein Onkel hat eine Gemeinde gegründet, mein Großonkel auch. Wären sie Klempner gewesen, würde ich heute vielleicht in irgendeinem Keller bis zu den Knöcheln in Toilettenwasser stehen."
    Stattdessen steht Franzo King nun jeden Sonntagmorgen im Gemeinderaum der John-Coltrane-Kirche. Bis hierhin war es allerdings ein weiter und holpriger Weg. Da war zunächst ein zermürbender Streit mit Alice Coltrane, der Witwe des 1967 verstorbenen Musikers. Sie hatte zunächst eng mit der Kirche um Franzo King zusammengearbeitet. Dann wandte sie sich dem Hinduismus zu und es kam zum Bruch. Alice Coltrane forderte schließlich die Auflösung der Coltrane Church. Es folgte ein langer Rechtsstreit.
    "Politisch will ich das nicht nennen - es geht um Wahrheit"
    Zurück in die Gegenwart. In einen Gemeinderaum dieser protestantischen Freikirche. Der Erzbischof sitzt an seinem Schreibtisch und beendet gerade ein kurzes, aber intensives Telefonat mit einem der Polizeichefs.
    Teilnehmer einer Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze in Dallas, Texas, USA
    Protest gegen Polizeigewalt in den USA (AFP/ Laura Buckman)
    Wenige Tage zuvor war ein Handyvideo im Netz aufgetaucht. Es zeigt, wie in San Francisco ein Afroamerikaner, bewaffnet mit einem Küchenmesser, von der Polizei umzingelt und mit 15 Schüssen niedergestreckt wird. Erzbischof King ergriff in den Medien das Wort. Wie schon so oft davor und danach, wenn es um Polizeigewalt ging. Oder als die Coltrane Church bei der Occupy-Bewegung mitmischte. Versteht sich die Kirche also auch als politische Institution? Erzbischof King verneint:
    "Ich denke, unsere Mission ist die Wahrheit. Politisch will ich das nicht nennen. Es geht um Wahrheit. Jesus hat nicht gesagt: 'Ich bin ein Politiker'. Er hat gesagt: 'Ich bin die Wahrheit, der Weg und das Leben'. Diese Kirche orientiert sich an Jesus."
    Die Theologie der Coltrane Church basiere auf dem christlichen Glaubensbekenntnis, sagt King. Dieser Glaube werde gestärkt durch Melodien, Harmonien und Rhythmen, die mehr seien als nur sie selbst. Transzendenz, ein Kernbegriff im Schaffen John Coltranes. Und auch ein zentrales Konzept für die Coltrane Church, so der Erzbischof weiter.
    "Ein früher Name unserer Kirche war 'Revolutionary Church', revolutionäre Kirche. Wir glauben an den Wandel. Aber das ist nicht nur Revolution, sondern auch Evolution."
    John Coltrane und die Black-Power-Bewegung
    Spätestens hier, beim Stichwort "Revolution" kreuzt sich die Geschichte der Coltrane Church mit der der militanten Black-Power-Bewegung, die in der Bay Area eine ihrer Herzkammern hatte.
    Von 1969 bis 1971 kam es zur Liaison der Coltrane Church mit der 'Black Panther Party'. Huey Newton, Gründer und Vordenker der Panther, wurde nicht nur Mitglied der Coltrane Church, sondern auch zu einer Art Mentor für Erzbischof Franzo King, unterstreicht Nicholas Baham. Er ist Professor für Ethnologie an der California State University East Bay vor den Toren San Franciscos. Als Mitglied der Coltrane Church hat er eine Geschichte der Kirche geschrieben.
    Huey Newton bei einem Treffen der Black Panthers 1970 in Washington
    Huey Newton war eine Leitfigur der Black Panthers (imago stock&people)
    "Huey Newton, der Vordenker der Black Panther, vermittelte Franzo King ein Bewusstsein dafür, dass es nicht nur um Hautfarbe geht, sondern auch um Klassen. Bis dahin hatte Franzo King in John Coltrane einen Protagonisten des Schwarzen Nationalismus gesehen. Das sahen damals auch andere so. Das hat viel damit zu tun, dass John Coltrane in Philadelphia zum Musiker heranreifte - damals ein Hot Spot der Black-Power-Bewegung, aber auch schwarzer Spiritualität - und Coltrane war eng verbunden mit Musikern, die eindeutig schwarze Nationalisten waren."
    Das Verhältnis von Erzbischof Franzo King und den Black Panthers um Huey P. Newton war alles andere als konfliktfrei. Und doch ist es für den Ethnologen Nicholas Baham kein Zufall, dass Black Power und diese Kirchengemeinde zeitgleich entstanden sind: "Schwarze Kirchen waren in diesem Land immer auch politische Institutionen."
    "Jazz ist unsere klassische Musik"
    Das sei der Geist, der die Coltrane Kirche bis heute präge.
    "Sie praktizieren einen Ritus, der beeinflusst ist von afrikanisch-orthodoxen Traditionen. Wenn sie predigen, geht es auch um Politik. Dann strömt pfingstlerische, religiöse Ekstase durch die Trompeten und Hörner. Coltrane wird gleichsam zur musikalischen Ergänzung der Bibel. Und all das passiert gleichzeitig. Es ist der perfekte Eintopf. Sie schmeißen alles in den Kessel. Das fügt sich gut ein in die afroamerikanische Tradition - und in die afrikanisch-amerikanische Lebenswelt, die so sehr auf Improvisation baut."
    Improvisation - das Wesen des Jazz. Wie sehr Jazz mit der Geschichte der Afroamerikaner verwoben ist, betont auch Wanika King-Stephens. Sie ist die Tochter von Erzbischof Franzo King und mittlerweile Pastorin der Coltrane Church:
    "Das kommt aus den Feldern, aus dem Rufen, den Schreien der Sklaven, aus den Kirchen, aus dem Gospel. Amerikanische Musik kommt aus den Erfahrungen der Schwarzen heraus. Und Jazz ist unsere klassische Musik."
    Professor Nicholas Baham von der California State University
    Professor Nicholas Baham hat sich intensiv mit der Coltrane Church befasst (California State University / Nicholas Baham)
    Wenn Jazz die klassische Musik des schwarzen Amerikas ist, ist John Coltrane so etwas wie der Mozart oder Bach dieses Genres. Nicholas Baham sagt:
    "Lassen wir mal die Größe seiner Kunst beiseite, fokussieren wir uns darauf, dass er die urbane und die ländliche schwarze Wirklichkeit durchlebt hat - und das als ein Junkie! Wenn ich arm bin und beladen und mit meiner Sucht kämpfe, und dann komme ich hier rein und sehe diesen Typen als Ikone mit Heiligenschein. Und dann wird mir hier gesagt, dieser Typ ist im Himmel und dass er erlöst werden konnte, dann habe ich auch eine Chance, ich kann in den Himmel kommen. Auch wenn ich nicht Franz von Assisi bin. Und ich muss dafür nicht mal aus Europa kommen. Ich muss auch nicht die Sprache Jesu sprechen. Das ist das Schöne daran!"
    Eine lächelnde Frau mit langen Dreadlocks im Altarraum der John Coltrane Church San Francisco. Das Bild zeigt Wanika Stephens-King, sie ist seit 2010 Pastorin der Kirche
    Wanika Stephens-King, Pastorin der John Coltrane Church (Deutschlandradio / Sven Töniges )
    Wanika King-Stephens weiß, wie sehr es andere Christen irritiert, dass ihre Kirche einen Jazzmusiker ins Zentrum der Verehrung stellt:
    "Dabei ist wichtig zu verstehen, wie die afroamerikanische Community mit dem Begriff 'heilig' umgeht. Manchmal stolpern Leute über dieses Wort. Die meisten denken dabei eben an Heilige im römisch-katholischen Verständnis und an Heiligsprechung-Verfahren. In der afroamerikanischen Community dagegen bist Du heilig! Ich bin eine Heilige! Wir sind alles Gottes Heilige."
    Kein weißer Jesus
    Professor Nicholas Baham, Experte für afroamerikanische Geistesgeschichte, hat in der Coltrane Church einen ergiebigen Forschungsgegenstand gefunden. Für ihn ist die Geschichte der Coltrane Church prototypisch für die Geschichte schwarzer Religiosität in den USA:
    "Wir haben die protestantische Arbeitsethik und den Kapitalismus miteinander verschmolzen. Genauso haben wir in diesem Land das Christentum verschmolzen mit der weißen Hautfarbe. Was die Coltrane-Kirche jetzt tut - sie dekonstruiert diese Verknüpfung von Weiß-Sein, von amerikanischem Kapitalismus und unserer Spiritualität. Sie setzt etwas dagegen, was mehr mit unseren Glauben zu tun hat. Warum sollten wir in ein Gebäude gehen, um auf einen weißen Jesus zu schauen und einem weißen Mann zuzuhören, der dir sagt: 'Du bist vor allem hier, damit Du ein anständiger Kapitalist wirst. Jesus wird Dich mit Reichtum segnen'. Von all dem gibt es noch sehr viel in diesem Land, wie wir wissen. Und deshalb halte ich die Coltrane Kirche und überhaupt schwarze Kirchen für wirklich super wichtig."
    Zuletzt war der Fortbestand der Coltrane Church indes einmal mehr gefährdet. Der schlichte Zweckbau in der Fillmore Street, der die Kirche über Jahrzehnte beherbergt hatte, geriet ins Visier von Investoren. 2016 stand die Räumung an. Doch dank Spenden und allerlei publizistischer Aufwallungen in der Bay Area hat die Kirche nun einige Blocks entfernt in der Turk Street eine neue Heimat gefunden.