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Beitrag zum besseren Verstehen

"Yildiz und Aytekin" dokumentiert die Lebensgeschichte zweier türkischstämmiger Jugendlicher in Deutschland. Die ungeschönten Stimmen der Protagonisten machen das Buch zu einer Bereicherung in der aktuellen Debatte um die Verständigung zwischen den Kulturen.

Von Imogen Reisner | 20.07.2006
    "Yildiz und Aytekin. Die zweite Generation erzählt" - so lautet der wenig inspirierende Titel eines schmalen Bändchens aus dem Peter Hammer Verlag. Gewöhnlich engagiert sich der ambitionierte Wuppertaler Verlag vor allem für das geistige Leben Schwarzafrikas, eines Kontinents also, der in unserer aufgeklärt technokratischen Welt noch immer für exotische Träume herzuhalten vermag.

    Bei "Yildiz und Aytekin" spielt die Musik mitten in Deutschland, und doch klingt sie streckenweise so schräg und unerhört, dass afrikanische Trommelschläge dagegen wie Heimatmusik anmuten.

    Worum geht es? Yildiz und Aytekin, zwei junge türkischstämmige Migranten, haben sich in Deutschland kennen und lieben gelernt. Doch bevor sie ein richtiges Paar werden und in der stahlbetonierten Grauzone zwischen zwei Kulturen Fuß fassen können, sind so viele Fremdheiten, so viel Andersartigkeit und Unverständnis zu überwinden, dass es dem deutschen Leser respektive der Leserin teilweise den Atem verschlägt. Denn so offen und so genau hat man vom Alltagsleben einer jungen türkischen Frau hierzulande kaum gehört; und wo ist man bislang mit derart intimen Details aus der Jugend eines gewöhnlichen türkischen Mannes konfrontiert worden wie auf den vorliegenden 150 Seiten fremden Lebens in Deutschland?

    Erzählt wird die Geschichte von Yildiz und Aytekin eingangs von der Lehrerin Annemarie von Groeben, die Yildiz fünf Jahre lang unterrichtet hat. Sie ist auch die Herausgeberin des Buches. Im weiteren Verlauf übernehmen die beiden Protagonisten selbst das Wort und schildern die Stationen und Probleme ihres Lebensweges im direkten Gespräch und mit ihren eigenen Worten.

    Yildiz ist in einer westdeutschen Hochhaussiedlung aufgewachsen. Früh werden ihr familiäre Sorgen und Verantwortung übertragen, doch unter keinen Umständen will Yildiz die traditionelle Frauenrolle ihrer Mutter übernehmen, die für Unterordnung und Dienstbarkeit steht. Aytekin dagegen kommt erst als Jugendlicher nach Deutschland. Er hat seine Kindheit in einem ostanatolischen Dorf verbracht und ist tief in den Traditionen seiner Heimat verwurzelt. Auch seine Kindheit ist hart und entbehrungsreich, wie er im Gespräch mit der Herausgeberin berichtet:

    "Vom sechsten oder siebten Lebensjahr an hatten viele Kinder schon ihre Aufgaben auf den Feldern oder zu Hause ... Wir sind in der Natur aufgewachsen…., da gab’s kein Fernsehen, keine Autos, keine großen Spielzeuge … Auch kein Radio, keine Elektrizität. Wir haben Öllampen gehabt, eine Lampe in einem Zimmer hat uns gereicht, und meistens haben alle in einem Zimmer geschlafen. Wir hatten eine Holzbank, da hat man Betten draufgelegt … Wenn der Platz nicht mehr reichte, hat man auf dem Boden geschlafen."

    Strenge Regeln und körperliche Gewalt prägen auch Aytekins Schulzeit:

    "Wenn man frech war, sich nicht vernünftig benommen oder seine Aufgaben nicht gemacht hat, gab es je nachdem verschiedene Prügelstrafen. Das war gang und gäbe, und keiner kam auf den Gedanken, sich dagegen zu wehren, und die Eltern waren auch damit einverstanden. Bei uns gab es sogar ein Sprichwort. Die Eltern sagten meistens zum Lehrer: Das Kind gehört Ihnen, das Fleisch gehört Ihnen, die Knochen uns."

    Während Aytekin immerhin in die Kultur seiner Dorfgemeinschaft eingebettet war, beschreibt Annemarie von Groeben am Beispiel von Yildiz’ spezifischen sprachlichen Defiziten, was es bedeutet, in zwei verschiedenen Kulturen zu leben, aber zu keiner richtig dazuzugehören:

    "Sie sprach Türkisch und Deutsch gleichermaßen schnell und gut (wie sie sagte) und wechselte mühelos zwischen den beiden Sprachen hin und her, so wie man einen Wasserhahn auf- und zudreht … Aber sie war von den Reservoiren abgeschnitten, von dem Sprachschatz, der sich Kindern, die in ihre Kultur hineinwachsen, nach und nach erschließt … Sie kannte keine Lieder und Geschichten, keine 'Momo' oder 'Aschenputtel', keine Abzählreime, Sprüche und Gedichte."

    Doch ebenso wenig stehen der jungen Schülerin die sprachlich überlieferten Bilder und Figuren, die das Weltbild und das Denken einer Kulturgemeinschaft prägen, in der Sprache ihres Elternhauses zur Verfügung. Die Türkei ist für Yildiz Ausland, die türkische Sprache eine Fremdsprache, die sie nur notdürftig von den Eltern und während der Sommerferien vor Ort lernt.

    Als Yildiz und Aytekin sich in Deutschland kennen lernen, sind die kulturellen Voraussetzungen zwischen den beiden so eklatant verschieden, dass es einem übermenschlichen Kraftakt gleicht, wenn ihre Beziehung am Ende tragfähige Qualität gewinnt. Während Yildiz im Spannungsverhältnis zwischen deutscher Sozialisation und der patriarchalen Gesellschaftsordnung ihres Elternhauses schon einen Großteil ihrer Kräfte verschlissen hatte, eröffnet sich nun für die junge Frau eine weitere Front im sozialen Überlebenskampf. Denn ihr Freund und späterer Ehemann Aytekin überträgt das türkische Wertesystem ungebrochen auf die gemeinsame Beziehung im fremden Land. Für Yildiz bedeutet das einen endlosen Kampf gegen die Bevormundung durch die zukünftigen Schwiegereltern, deren Wort für den Sohn absolutes Gebot ist: Den Eltern widerspricht man nie, selbst wenn es gegen die eigenen Bedürfnisse geht – so hat er es in seiner Dorfgemeinschaft von klein auf gelernt.

    Die Beziehung kriselt, Yildiz wird krank, so schwer, dass ihre erste Schwangerschaft ernsthaft bedroht ist. Immer wieder kämpft sie in zähen kleinen Schritten für ein sebstbestimmtes Leben. Und am Ende, so scheint es, hat sie gewonnen: Yildiz und Aytekin sind seit 20 Jahren verheiratet. Sie haben drei Kinder. Aytekin ist selbstständig, und Yildiz hat eine Stelle als Erzieherin.
    Die ungewöhnliche Form dieses Buches, eine kulturell mehrfach gebrochene Zweierbeziehung aus drei verschiedenen Blickwinkeln im Originalton erzählen zu lassen, ermöglicht einen differenzierten Blick auf die vielschichtige Problematik der Migration. Vor allem sind es die ungeschönten authentischen Stimmen von Yildiz und Aytekin, die dieses Dokument zu einer echten Bereicherung in der aktuellen Debatte um die Verständigung zwischen den Kulturen werden lassen. Man wünschte diesem großartigen kleinen Buch mit dem spröden Titel mindestens einen Platz im Deutschunterricht der Oberstufe.