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Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte

"Das Kind, das er war" ist ein stilles Buch. Georg Heller gibt in 23 kurzen Kapiteln den inneren Bildern des Johann Avellis eine atmosphärisch dichte sprachliche Gestalt. Was wie eine harmlose Kindheitsgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre anfängt, entwickelt sich rasch zur Geschichte einer Ausgrenzung, deren existentielle Bedrohung nur ganz allmählich ins Kinderbewusstsein eindringt.

Von Christel Wester | 20.02.2007
    Ein Debüt im wahrsten Sinne ist diese Kindheitsgeschichte des Johann Avellis, die Georg Heller hier erzählt, denn der Autor hatte bisher keine literarische Prosa geschrieben, wenngleich das Schreiben sein Beruf war. Jedoch verfasste er keine Literaturkritiken oder feuilletonistischen Essays: Georg Heller war Wirtschaftsjournalist, er schrieb für die" FAZ", das "Handelsblatt" und die "Stuttgarter Zeitung". Er war Mitglied im Deutschen Presserat und bekämpfte engagiert die Verflechtungen zwischen Wirtschaft, Politik und Journalismus. "Lügen wie gedruckt" lautete der Titel einer Streitschrift, die vor knapp zehn Jahren erschien und in der Heller einen kritischen Blick hinter die Kulissen der Zeitungsmacher warf. Keine feinsinnige Prosa, wie man sich unschwer vorstellen kann. Umso überraschender ist jetzt das literarische Debüt, in dem sich Georg Heller auf ganz anderes Terrain begab.

    "Selten war es, dass Johann Avellis alte Fotos ansah. Niemals stellte er welche auf seinen Schreibtisch oder hängte sie irgendwohin. Jedenfalls nicht von 'den Lieben', von Orten womöglich schon. Orten der Sehnsucht, wie bei jenem Blick durch das gitterne Portal in einen Garten: Die Sonne überlichtet die geschmiedeten Muster, sie durchscheint die Blütenblätter der Magnolien dahinter und glänzt auf ihrem Laub. Von Orten schon, nicht von Frau und Kindern in silbernen Rahmen hinter Glas. Sie leben doch, jetzt holt Rose sie gerade von der Schule ab, heute abend liegen sie in ihren Betten, wenn du nach Hause kommst. Auch dort hängen keine Fotos an der Wand, Ablichtungen der Eltern nicht, die noch leben, doch auch die Bilder der Verstorbenen nicht."

    Johann Avellis, die Hauptfigur dieses schmalen Bandes, mag keine Fotos, er fürchtet sie geradezu. Eingefrorene, versteinerte Augenblicke, die seine Erinnerung attackieren: Johann Avellis hat Angst, dass sie lebendige Empfindungen abtöten. Doch der Beginn dieser Kindheits- und Jugendgeschichte bezeugt das Gegenteil. Das Betrachten der Fotos scheint Erinnerungen und Emotionen zu wecken, die er lange nicht zugelassen hat.

    Zwar lässt er nach kurzer Zeit die Fotos beiseite, zerknüllt gar eines, stellt sich dann aber den inneren Bildern, die sie evozieren. So begibt er sich an eine Bruchstelle seiner Biografie, die in seiner Kindheit liegt. Ein Trauma, das ihn bis heute prägt und das immer noch schmerzt.

    "Er denkt an das Kind, das er mal war. Vertraut ist es ihm und fremd zugleich der Person, die er heute zu sein meint, vergangen und gegenwärtig zugleich. Deshalb nennt er sich in seiner Erinnerung lieber David, so, wie er heute hieße, wenn es nach seiner Mutter gegangen wäre; doch sein Vater wollte keine hebräischen Namen. Seit Johann das von seiner Mama wußte, hätte er lieber so geheißen. Seinen eigenen Sohn würde er David genannt haben, wenn nicht später auch er befürchtet hätte, das könnte dem Jungen schaden in der Welt, in die der dann hineingeboren wurde."

    Die Wahl des Namens mag etwas überdeutlich erscheinen in dieser aus dem Kontext herausgelösten Passage. David steht natürlich für einen unterdrückten Teil von Johann Avellis' Identität: den jüdischen. Aber die Geschichte, die Georg Heller im folgenden sukzessive entwickelt, ist alles andere als plakativ. "Das Kind, das er war. Die Geschichte des Johann Avellis" ist ein ganz stilles Buch. Heller erzählt episodisch, in 23 kurzen Kapiteln, die kaum einmal mehr als sechs oder sieben Seiten umfassen, gibt er den inneren Bildern des Johann Avellis eine atmosphärisch dichte sprachliche Gestalt. In einer bewusst einfach gehaltenen Prosa schreibt er, an der Sprache eines Kindes orientiert, ohne dabei in einen peinlich naiven Jargon zu verfallen. Man folgt den Erinnerungen des Johann Avellis Episode für Episode wie beim Durchblättern eines Fotoalbums, obwohl dieses Motiv nur im ersten Kapitel eingeführt wird und dann nicht wieder auftaucht.

    "Einen dicken Fischgrätmantel hat das Kind an, das auf dem Foto eine Schultüte im Arm hält, beim Lächeln gibt es eine Zahnlücke preis. Noch keine sechs Jahre alt war David, als er in die Schule kam. Auf dem nächsten Foto spielen die Kinder Ball. Wir hatten ein Siedlungshaus in einem Vorort von Berlin, sagt Johann Avellis, wenn er davon erzählt. Die Kinder rennen auf einem großen Platz herum, am Rand sind niedrige Häuser zu erkennen, hinter Hecken und erwachsenen Birken. Kam der Bolle, der die Milch ausklingelte, noch mit einem Pferdewagen? Johann Avellis weiß es nicht mehr genau. Er erinnert sich an vorgespannte Pferde, hält das aber kaum für möglich."

    Was wie eine harmlose Kindheitsgeschichte aus dem Berlin der 30er Jahre anfängt, entwickelt sich rasch zur Geschichte einer Ausgrenzung, deren existentielle Bedrohung nur ganz allmählich ins Kinderbewusstsein eindringt. Erzählt werden lediglich Bruchstücke, deren Kontext der Leser sich selbst erschließen muss. Der jüdische Vater hat die Familie bereits Anfang der 30er Jahre verlassen, die Kinder wachsen allein mit der Mutter auf, eine entschiedene Nazigegnerin, die sich jedoch um Unauffälligkeit bemüht. Die Kinder werden protestantisch erzogen. Zum Freundeskreis zählen einige Juden, deren tödliche Gefährdung auch der junge Johann Avellis intuitiv spürt, bis er schließlich - von den Nazis als "Halbjude" oder so genannter Mischling klassifiziert - selbst dazu gehört. Die Mutter flieht mit den Kindern, kann dem Jungen jedoch, als gegen Kriegsende das Untertauchen unmöglich wird, das Zwangsarbeiterlager nicht ersparen. Es sind Georg Hellers eigene Erfahrungen, die er in der "Geschichte des Johann Avellis" literarisch verarbeitet hat: in so stark verdichteter Form, dass man hier nicht von Bewältigungsliteratur sprechen kann. Die letzten Episoden sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der sich formierenden Bundesrepublik angesiedelt. Da ist dieser Johann Avellis, Georg Hellers alter ego, noch immer ein Junge, ein schwer traumatisierter Heranwachsender, der um seine Identität ringt. Berührend ist eine Episode, in der der Junge nach seiner Befreiung als Landarbeiter auf einem Bauernhof unterkommt, wo die körperliche Arbeit unter einer fürsorglichen Obhut beinahe meditativen Charakter gewinnt.

    "David jätet mit der Theres zusammen diesen riesigen Acker. Die Furchen laufen am Horizont zusammen. Sie hacken und bücken sich, um die Disteln zu ziehen, sie hacken und bücken und hacken und bücken. Vorn links fangen sie an, und abends sind sie tatsächlich hinten angekommen mit Hacken und Bücken, Hacken und Bücken."

    Auch darum, wie man in einem Land weiterlebt, in dem man verfolgt wurde und in dem man noch immer stigmatisiert ist, geht es in diesem Buch, und um die Frage, wer als Opfer des Naziregimes anerkannt wird und wer nicht. "Halbjude" oder "Volljude", KZ oder "nur" Zwangsarbeiterlager - auch mit Opferklassifizierungen war dieser Johann Avellis konfrontiert.

    Georg Heller hat vor knapp vier Jahren einen Band mit Aufsätzen, Briefen und Vorträgen unter dem Titel "Endlich Schluss damit? "Deutsche" und "Juden" - Erfahrungen" veröffentlicht. Angeregt zu diesem Band hatte ihn die Debatte um Martin Walser, die er als symptomatisch ansah für eine völlig verkrampfte Situation, in der kein Platz ist für eine differenzierte Diskussion. "Das Kind, das er war. Die Geschichte des Johann Avellis" ist Georg Hellers sehr persönlicher Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte.

    Das macht das Buch lesenswert, wenngleich es sehr wohl einige debüt-typische Holprigkeiten enthält. Martin Walser übrigens hat Hellers Manuskript dem Rowohlt Verlag empfohlen, sonst hätte dieses späte Debüt möglicherweise keine Chance gehabt.