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Beitrittskandidaten
Die EU hat auf dem Balkan viel an Reiz verloren

Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und weitere Balkanstaaten galten lange als sichere EU-Beitrittskandidaten. Doch die Verheißung, mit der EU würde sich alles zum Besseren wenden, hat in den Ländern viel von ihrer Anziehungskraft verloren. Aber: Der EU kommt die Zurückhaltung entgegen.

Von Norbert Mappes-Niediek | 08.02.2017
    Mitarbeiter des Auswärtigen Amts mühen sich bei der Westbalkan-Konferenz in Berlin vor dem Gruppenbild der Außenminister mit den wehenden Fahnen, die umzukippen drohen.
    Steht auf wackligen Füßen: Die Beziehungen zwischen der EU und den Westbalkanstaaten. (dpa/picture alliance/Bernd von Jutrczenka)
    Tauwetter heißt es, wenn - wie in diesen Tagen - vielerorts kräftig das Wasser auf die Blechdächer tröpfelt. Aber auf dem Balkan stellen sich beim Wort Tauwetter nicht nur freudige Gedanken ein. Wenn es taut, heißt das auch: Konflikte brechen wieder auf. Nicht zufällig ist der März in dieser Weltregion stets der gefährlichste Monat:
    "Ich fürchte, dass, wenn der gegenwärtige Trend anhält, die politische Krise in Bosnien-Herzegowina früher oder später durch eine Sicherheitskrise abgelöst wird und dass es möglicherweise wieder zu Gewalt kommt."
    Srećko Latal vom internationalen Netzwerk für investigativen Journalismus in Sarajevo hatte als junger Reporter schon den Krieg der Neunzigerjahre erlebt und über jede der vielen nachfolgenden Krisen berichtet. Befürchtungen wie die vor einem neuen Krieg äußert Latal nicht leichthin.
    Krisen, auch schwere, produziert der zerrissene kleine Nachkriegsstaat Bosnien-Herzegowina im Jahresrhythmus. Aber solange die Hoffnung bestand, dass die ganze Region in absehbarer Zeit ein Teil der Europäischen Union werden würde, gab es Grund, die Krisen nicht allzu ernst zu nehmen.
    "Sobald diese Idee vom Tisch ist, kommen im selben Moment alte Fantasien, wie vor allem die Verschiebung von Grenzen, noch klarer aus der Versenkung wieder hervor."
    Chronische Schwarzseherei?
    In dem unruhigen Jahr 2016 hat der Trost, den die Aussicht auf einen EU-Beitritt versprach, seine Wirkung weitgehend verloren. Nicht nur die Europäische Union steckt nach dem Brexit in einer Zerreißprobe, die ganze Welt hält seit dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA den Atem an. Eine Welt, so Srećko Latal, "die sich überdies in einem ganz anderen Zustand befindet als damals, die polyzentrisch ist und nicht mehr so einfach wie 1990. Heute hätte ein Konflikt auf dem Balkan noch schlimmere Folgen für den gesamten Erdball als damals."
    Aber ist das nicht chronische Schwarzseherei? Offiziell gilt noch immer das große Versprechen für die Länder des Westbalkan, für Serbien, Bosnien, Albanien, Mazedonien, Kosovo und Montenegro, dass sie Mitglieder der EU werden sollen. Abgegeben wurde das Versprechen 2003 auf dem Gipfel in Thessaloniki. Mit Serbien zum Beispiel wird konkret verhandelt. Aber, so der Belgrader Historiker und Publizist Branislav Dimitrijević:
    "Das sind Rituale, und die werden auch dann noch vollführt, wenn sie jeden Sinn verloren haben. So war es auch in den Achtzigerjahren in Jugoslawien. Und viele haben ja den Eindruck, dass die heutige Europäische Union diesem Jugoslawien immer ähnlicher wird."
    "Es geht nur um Hoffnung, und die nahm man uns weg"
    Wohin man auch reist in diesen Tagen, wie hier nach Sarajevo oder auch nach Belgrad, nach Skopje oder nach Pristina: Über die verheerenden Folgen, die der Schwund der europäischen Perspektive für den Balkan hat, urteilt die Albanerin Lura Pollozhani nicht anders als der Serbe Dimitrijević oder der Bosnier Latal:
    "2014 hat die EU-Kommission erklärt, es würde in den nächsten fünf Jahren keine EU-Erweiterung geben. Dabei wussten wir das alle sowieso schon. Aber dass sie es so offen gesagt haben, wirkte wie eine Ohrfeige. Nicht mal hoffen sollten wir! Dabei geht es beim EU-Beitritt ja überhaupt nur um Hoffnung, und jetzt nahm man die uns weg! Und was das Wichtigste ist: Die Erklärung hat die Zivilgesellschaft geschwächt."
    Nicht die Regierungen und die politischen Parteien also, sondern die Bürgerorganisationen, die sich am meisten für Europa engagieren. Wer, wie Branislav Dimitrijević, vor diesem Hintergrund noch in die Zukunft blickt, sieht schwarz:
    "Die Europäische Union oder die Mitgliedsländer werden niemals zu dem notwendigen Konsens über den Beitritt von, sagen wir, Serbien finden. Genauso wenig wie zu einem Konsens über die Türkei. Da gibt es den beliebten Witz: Wann kommt die Türkei in die EU? Antwort: Wenn Serbien dort den Ratsvorsitz innehat."
    In Mazedonien ist die Hoffnung schon zerbrochen
    Auf dem Balkan macht sich über die ethnischen und nationalen Grenzen hinweg wieder Sarkasmus breit - wenigstens unter den Bürgern. Die Regierungen in der Region versprühen dagegen munter weiter Zuversicht. Der aufgesetzte Optimismus kommt sowohl ihnen wie den EU-Ländern zupass. Brüssel darf sich freuen, dass die Kandidaten nicht zu sehr drängeln. Und die Regierungen freuen sich über den nachlassenden Druck aus der Europäischen Union, ihre Staaten EU-reif zu machen, die Korruption zu bekämpfen, gründliche Reformen in Angriff zu nehmen. Die einen tun so, als wollten sie sich erweitern, die anderen tun so, als wollten sie beitreten. Florian Bieber, Professor für Südosteuropa in Graz, ist in der EU ebenso wie in der Region selbst ein viel gefragter Experte. Er hält das Verhältnis allerdings nicht für stabil.
    "Eliten sind glücklich damit. Nur: Der Leidtragende ist die Bevölkerung. Ein Großteil der Unterstützung für einen EU-Beitritt der Bevölkerung war gerade dadurch bedingt, dass man sich erhoffte, die eigenen Eliten werden durch die EU kontrolliert und diese Hoffnung zerbricht im Moment."
    Flagge Mazedonien
    In Mazedonien haben die Menschen kaum noch Hoffnung auf einen EU-Beitritt. (AFP/Tomislav Georgiev)
    In Mazedonien ist sie schon zerbrochen. Als sich die Regierung des kleinen Balkanlandes vor zwei Jahren nach mehreren gefälschten Wahlen, nach Verhaftungen von Oppositionellen, nach Druck auf die Medien und auf unabhängige Richter in Richtung Diktatur zu bewegen drohte, griff Brüssel zwar ein. Aber eben nicht, damit es dem offiziell noch Beitrittskandidaten nun europäische Regeln, Gesetze und Überwachung vorschrieb. Weil die EU den Mazedoniern auch nach einem vollen Jahrzehnt Kandidatenstatus nichts versprechen wollte, nicht einmal die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, konnte sie von seiner Regierung auch nichts verlangen. Statt auf europäischen Standards zu beharren, vermittelte der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn ein Abkommen zwischen Regierung und Opposition. Nicht Europäisierung war das Ziel, sondern Ruhe im Hinterhof.
    Die Verheißung hat vieles von ihrem Glanz verloren
    Einen Trumpf hat die so zögerliche Europäische Union tatsächlich noch auf dem Balkan: Aus den Töpfen Brüssels und einiger Beitrittsländer fließen erheblich mehr Mittel nach Südosteuropa als aus jedem anderen Machtzentrum. Russland hat allenfalls billige Energie zu bieten, die Türkei ist nur an lukrativen Großaufträgen interessiert.
    "Das 'Problem' des Geldes aus der Europäischen Union ist, dass es an Bedingungen geknüpft ist, dass man gewisse Standards einhalten muss, was Transparenz angeht, was Ausschreibungen angeht. Das Geld aus China, aus der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten ist sicherlich weniger als das aus der EU, aber da gibt’s sehr viel Möglichkeiten, dass das Geld dann auf Konten von Politikern oder Geschäftsleuten landet, ohne dass da jemand nachfragt. Das macht dieses Geld, auch wenn es vielleicht weniger ist, für politische und wirtschaftliche Eliten attraktiver."
    Aber auch die Verheißung, mit der EU einem Klub der Reichen beizutreten, hat vieles von ihrem Glanz verloren. Dušan Reljić, Balkanexperte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik, hat die Schattenseiten der Osterweiterung beleuchtet. Die kleinen, ärmeren Nationen im Osten, gleich ob EU-Mitglied oder nicht, haben im freien europäischen Markt, dem sie de jure oder de facto angehören, in kurzer Zeit ein enormes Leistungsbilanzdefizit aufgehäuft. Sie importieren viel, vor allem aus Deutschland, exportieren aber wenig.
    "Damit man nach Deutschland exportiert, muss man gewisse Marktvorteile haben, und der einzige tatsächliche Marktvorteil für Länder wie die Slowakei, für Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Serbien und die anderen ist die billige Arbeitskraft."
    Dieses Ungleichgewicht verheißt auch für die weitere Entwicklung Osteuropas nichts Gutes.
    "Die Menschen sind in einer sogenannten income trap, also einer Falle der mittleren Einkommen. Man erreicht, wie in Ungarn, vielleicht fünf- oder sechshundert Euro für Industriearbeiter, aber es wird nicht mehr."
    Im freien Markt, auch für die Ware Arbeitskraft, gibt es aus dem Missverhältnis einen natürlichen Ausweg: Migration.
    "Weil nicht genug Arbeitsplätze entstehen, gehen die Leute dahin, wo die Arbeitsplätze sind."
    Verbündete in der Flüchtlingspolitik: "Ein Trugschluss"
    Rumänen, Bulgaren, Kroaten können sich in der EU frei einen Arbeitsplatz suchen, die übrigen Balkanländer lockt immerhin die Aussicht darauf. Wird auch dieser Ausweg verstopft, verliert die Europäische Union für die Balkanländer noch weiter an Attraktivität. Als im vorigen Jahr auf österreichische Initiative hin die sogenannte Balkanroute für Flüchtlinge aus Syrien und anderen Staaten geschlossen wurde, galten die Balkanländer für kurze Zeit als Verbündete Europas bei der Abwehr eines Migrationsstroms. Ein Trugschluss, meint der mazedonische Soziologe Goran Janev:
    "Es verbreitete sich auch Furcht vor europäischen Migranten, und das hat zur Folge, dass sich auch für Mazedonien die Migrationskanäle verengen. Manche sprechen von einer halben Million Menschen, von 400.000 oder 600.000, die das Land in den letzten zehn Jahren verlassen haben."
    Österreich, eines der wichtigsten Zuzugsländer für Arbeitnehmer vom Balkan, fordert bereits offiziell, die Freizügigkeit sogar für Arbeitnehmer aus ärmeren EU-Ländern einzuschränken. Florian Bieber bilanziert:
    "Das ist immer noch das Erstaunliche: Dass die Unterstützung für einen EU-Beitritt in den meisten Ländern immer noch relativ hoch ist. Aber das kann sehr schnell kippen."

    Nicht, dass die Veränderung im Verhältnis des Balkan zu Europa unbemerkt bliebe. Aber statt auf die Versäumnisse der eigenen Erweiterungspolitik richtet sich der Blick Europas vornehmlich auf Russland. Wo stehen die Balkanländer in den Konflikten, die Moskau und die EU mit einander austragen? Will Wladimir Putin den Balkan in seine Einflusszone ziehen? Nein, meint Florian Bieber:
    "Es geht nicht um substanziellen Einfluss. Es geht darum, in den Nachrichten, in den Staatsmedien zu sagen: Wir haben es dem Westen mal wieder gezeigt! Und das reicht aus."
    Noch vor drei, vier Jahren, sah es so aus, als stünden in den orthodoxen Balkanländern Serbien, Montenegro, Mazedonien, im serbischen Teil Bosniens pro-westliche Reformer gegen pro-russische Konservative, jetzt nicht mehr:
    "I don’t think there is an ideological division there.”
    Das sei keine ideologische Spaltung, sagt die mazedonische Philosophin und Aktivistin Katerina Kolozova, die schon seit vielen Jahren die Hand am Puls ihrer kleinen Nation hat.
    Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze im März 2016.
    Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze im März 2016: Kurz wähnte man sich als Verbündeter bei der Abwehr der Flüchtlinge. (picture alliance / dpa / Georgi Licovski)
    Die Waage neigt sich nach Osten
    Serbien, das größte Land der Region, hat vor acht Jahren einen Richtungswahlkampf geführt: EU-Mitgliedschaft - und damit möglicher Verzicht auf das abtrünnige Kosovo - oder Allianz mit Russland. Das pro-russische Lager verlor die Wahl. Dessen Führungspartei spaltete sich daraufhin und wechselte zum größeren Teil ins pro-europäische Lager. Die Schlacht schien geschlagen. Ein Missverständnis, so der Belgrader Historiker Branislav Dimitrijević. Eine jahrhundertealte Mittlerrolle zwischen Ost und West macht nicht einfach nach einer Wahl einer stabilen Westbindung Platz:
    "Das ist eine traditionelle Spaltung; sie hat nur einige neue Aspekte bekommen. Noch aus meiner Kinderzeit in den Achtzigerjahren kann ich mich erinnern, dass wenn zwei sich in der Kneipe gestritten haben, der eine für die Russen und der andere für die Amerikaner war."
    Und jetzt neigt die Waage sich eben nach Osten.
    Wo Russland als Sympathieträger ausfällt, in den islamisch geprägten Regionen des Balkan, wie dem größeren Teil Bosniens, in Albanien, dem Kosovo und im Westen Mazedoniens, gilt der kritische Blick von Westen dagegen dem Islamismus - und dem Liebeswerben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
    Aber die Türkei nutzt die Sympathien, die ihr vom Balkan aus entgegenschlagen, bislang nur wirtschaftlich. Politischer Islam ist vor allem im albanischen Raum noch immer ein Tabu, und gerüttelt wird daran einstweilen nur sehr zaghaft. Im Kosovo zumindest aber droht, wenn der Einfluss der EU schwindet, weniger eine Hinwendung zum Islamismus als vielmehr eine Verhärtung des verbreiteten Nationalismus. Der von der EU erzwungene Dialog zwischen den einstigen Kriegsgegnern Serbien und Kosovo steht inzwischen vor dem endgültigen Abbruch. Ein schon erreichtes Abkommen, nach dem die serbische Minderheit im Kosovo eine weitgehende Autonomie erhalten soll, erweist sich als nicht durchsetzbar. Der kosovarische Politologe Jeton Mehmeti:
    "Als einzige Alternative zur EU-Perspektive kennt man hier den sogenannten Beitritt zu Albanien, ein Groß-Albanien also. Die Idee wird von Zeit zu Zeit debattiert. Besonders wenn es um den Sport geht, darum, ob wir zwei Nationalmannschaften haben sollen oder nur eine, wird die Diskussion sehr lebendig."
    Serbien und Mazedonien rutschen in die Autokratie
    Nach Mazedonien rutscht auch das größte Balkanland, Serbien, unter seinem starken Mann, Regierungschef Aleksandar Vučić, allmählich in die Autokratie - nicht so offen und deutlich wie in Mazedonien, aber dafür umso nachhaltiger. Branislav Dimitrijević:
    "Ich glaube, es ist die Strategie der gegenwärtig Regierenden, also der Partei von Vučić, bis in die Kapillargefäße hinein die Mechanismen der Macht zu übernehmen, schön Schritt für Schritt, namentlich über die lokale Ebene."
    Das heißt: über die Stadt- und Gemeindeverwaltungen, die Lokalradios. Oppositionelle werden nicht verhaftet, sie verstummen einfach. Journalisten, die Vučić und die Regierung kritisieren, müssen mit teuren Zivilprozessen rechnen. Häufige vorgezogene Wahlen dienen der Akklamation, dem Beweis dafür, dass es außer der allmächtigen Regierungspartei nichts und niemanden gibt, der hier etwas zu sagen hätte. Dusan Reljić:
    "Egal, wie klein diese Opposition ist und wie wenig sie Zugang zu den großen Medien hat: Nichtsdestoweniger gibt es den Versuch der Regierung Vučić, auch diese Opposition im Parlament auszumerzen."

    Nicht um Westen oder Osten geht es dabei mehr; die Autokratie entfaltet ihren Charme ganz unabhängig von der Himmelsrichtung. Wird aber auf dem Balkan der Erfolg der role models in Moskau, Ankara oder auch Washington kopiert, ist der Weg in den Konflikt vorgezeichnet. Nationalismus ist in der Region keine bloße Selbstbesinnung auf das Eigene. Die herbeigewünschten Grenzen der Staaten, Reiche und Einflusszonen überlappen einander so weit, dass Kompromisse selbst bei gutem Willen schwierig sind. Seit dem vorigen Jahr wird nun überall auf dem Balkan der Ton schärfer: zwischen Kroatien und Serbien, zwischen Serbien und dem Kosovo, innerhalb Bosniens.
    Der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic jubelt nach seinem Wahlsieg
    Der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic. (picture alliance/dpa/Andrej Cukic)
    In den Fantasien der Kosovaren kommt der Beitritt nicht mehr vor
    An Warnungen hat es nicht gefehlt. Man möge die Balkanstaaten möglichst rasch in die EU aufnehmen und nicht darauf bestehen, dass sie alle ihre gegenseitigen Probleme vor dem Beitritt lösten - schließlich sei die EU ja auch dazu da, zwischenstaatliche Probleme zu relativieren und durch ihre bloße Existenz zu entschärfen: Das war jahrelang die Formel. Aber die Gunst der Stunde ist vorbei. Florian Bieber:
    "Ich glaube, dass es kein Zufall ist, wenn die ungarische Regierung vor Kurzem gesagt hat, man bräuchte eine möglichst schnelle und bedingungslose Aufnahme der Westbalkanstaaten in die Europäische Union. Das heißt, das ist ein eher besorgniserregendes Signal, weil es heißt, sie erhoffen sich da Verbündete zu gewinnen."
    In den Fantasien der Kosovaren kommt die EU-Mitgliedschaft schon gar nicht mehr vor; zu fern ist der Gedanke inzwischen. Zunächst würden sie gern, wie alle anderen Bürger von Balkanstaaten, ohne Visum nach Europa reisen können, und dann, sagt Jeton Mehmeti:
    "Dann glaube ich manchmal, dass wir bilaterale Verträge mit EU-Ländern schließen sollten, besonders mit Deutschland. Das würde beiden Ländern nützen. Wir haben gut ausgebildete Arbeitskräfte - also gut, vielleicht nicht so toll ausgebildet, aber wenigstens jung und frisch und energisch, die dort arbeiten und wieder zurückkehren könnten."
    Europa baut die Mauer immer höher
    Der Bosnier Srećko Latal hält die Bedrohung für den Frieden, die vom Balkan ausgeht, für schon so groß, dass ihr nur mit einer Umgestaltung der Europäischen Union beizukommen wäre - mit einem Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten, wie es in Krisen immer wieder diskutiert wurde.
    "Ich denke, das ist die einzige Lösung. Sie hilft nicht nur der Europäischen Union, ihre immer größeren internen Unterschiede auszugleichen. Es würde auch helfen, dass einer dieser Kreise, die dann entstehen, bewusst für die Balkanstaaten eingerichtet wird."
    Aber statt sich zu reformieren, baut Europa die Mauer immer höher. Florian Bieber:
    "Die Diskussion in der EU, die geht im Moment immer in die Richtung: Wir müssen auf mehr Standards, höheren Standards bestehen, aufgrund der vergangenen Erfahrungen. Aber es gibt keine Standards der Welt, die hoch genug wären, dass man für alle Zukunft versichern kann, dass es keine Rückschritte gibt. Das heißt: Das ist eigentlich eine illusorische Hoffnung. Man muss die Mechanismen in der EU stärken, wie man damit umgeht, wenn Regierungen systematisch rechtsstaatliche Normen brechen. Dann kann man sagen: Na gut. Wenn das gesichert ist, dann kann man vielleicht auch leichter Staaten aufnehmen, wo man nicht hundertprozentig sicher ist, weil man einen Mechanismus in der Hand hat, etwas zu tun nach einem Beitritt."