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Bekenntnis zur Skepsis

Kann es etwa zuviel Moral geben? Muss die individuelle Freiheit nicht durch ethische Normen gestaltet werden? Verleiht die Moral dem Individuum nicht erst seine Identität? Da wird der Satz des französischen Philosophen Montesquieu aus dem Jahr 1748 überraschen: "So unwahrscheinlich es klingt, selbst die Tugend bedarf der Begrenzung." Individualität entsteht nicht dadurch, dass sich die Menschen einer Moral unterwerfen. Freiheit heißt nicht Gehorsam, sei es gegenüber Gott, dem Vaterland oder der Solidargemeinschaft. Vielmehr fordert die auf Montesquieu zurückgehende Lehre der Gewaltenteilung, dass man solche Mächte beschränkt. Die bekannten Staatsgewalten der Legislative, Exekutive und Judikative werden getrennt, sollen sich gegenseitig kontrollieren und begrenzen. Dadurch gewinnt das Individuum Schutz vor staatlichen Übergriffen und somit seine Freiheit.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 13.09.2004
    In seiner neuen Aufsatzsammlung Individuum und Gewaltenteilung knüpft an diese Lehren Odo Marquard an, einer der großen Skeptiker unter den Philosophen, der letztes Jahr seinen 75. Geburtstag feierte. Er überschreitet aber die rein politische Ausrichtung der Gewaltenteilung:

    Normalerweise würde man ja sagen, erst ist das Individuum da und dann kann es sich die Gewalten vom Hals halten oder auch nicht. Ich glaube, eine starke Tendenz besteht darin, dass erst die Gewaltenteilung da ist und dadurch das Individuum entsteht, und zwar deswegen weil die verschiedenen Gewalten - Sakralgewalten, Wirtschaftskräfte, politische Kräfte, gesellschaftliche Kräfte, Kulturkräfte und so - weil die, wenn sie als viele uns determinieren, dadurch uns Freiheitsräume schaffen, weil jede Determination durch die anderen Determinationen begrenzt wird und dadurch ein Alleinzugriff einer Determination nicht zum Zuge kommt, sondern dass dadurch Freiheitsräume entstehen und dadurch entsteht das Individuum.

    Nicht Vater Staat oder Volksgemeinschaft erschaffen das Individuum, indem sie die Welt gerecht aufteilen, dem Individuum seine Spielräume und Freiheiten anweisen. Dann wäre es davon völlig abhängig bzw. determiniert und könnte sich gerade nicht nach eigenen Vorstellungen entfalten. Individualität entsteht für Odo Marquard vielmehr erst, wenn sich die verschiedenen sozialen Mächte gegenseitig hemmen und ihre determinierenden Kräfte dadurch nachlassen:

    In der Begrenzung der verschiedenen Determinanzen, die durch ein Zugriffsgedränge bei uns auf uns einstürzen und die sich dann wechselseitig behindern beim Zugreifen, dadurch entsteht Freiheit.

    Das Individuum gewinnt für Odo Marquard seine Freiheit folglich nicht dadurch, dass es einer Ethik des Allgemeinwohls folgt. Davon kann es selbst dann noch zuviel geben, wenn eine solche Moral den individuellen Verstandeskräften entspringt. Die moderne liberale Vorstellung seit John Locke und Immanuel Kant unterstellt dem Individuum eine eigene rationale Kompetenz, um einerseits die Welt zu verstehen und zu beherrschen und um andererseits sich selbst und die Gesellschaft dann rational bzw. moralisch gestalten zu können. Dazu bemerkt Odo Marquard:

    Die rationale Kompetenz gehört auch dazu aber eben nur auch. Wir haben also nicht unsere Freiheit dadurch, dass wir eine besondere Souveränität entwickeln, auch nicht eine besondere rationale Souveränität, sondern es ist eine Gemischtheit der Positionen . . die endliche Freiheit ist dadurch vielleicht besser beschrieben als durch Freiheitskonzepte, die eine einzige besondere Determinante zum Ausschlaggebenden machen.

    Kann es also nicht nur zuviel Moral, sondern auch zuviel Vernunft geben? Jedenfalls tritt Odo Marquard nicht nur den großen Fortschrittshoffnungen aufgeklärter Vernunft entgegen, entstammen sie nun dem wissenschaftlich technischen Weltbild oder dem Sozialismus. Er weist vielmehr auch deren Menschenbild in gewisse Schranken, nach dem das Individuum ein primär rationales Wesen ist, das sein Leben vernünftig und geplant von der Bahre bis zur Wiege gestaltet, das also schon in der Lehre an die Rente und die Urenkel denkt. Das Individuum ist nicht Individuum, weil es sich selbst bestimmt oder durch die Sozialsysteme bestimmen läßt. Freiheit und Individualität entspringen nicht der Herrschaft der Vernunft, die die Welt letztlich bürokratisiert, sondern den Zufällen, mit denen sich das Individuum konfrontiert sieht, die sein Leben aufmischen.

    Wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. (. .) Und ich glaube das eben deswegen, weil es eine gewaltenteilige Form von Determination gibt, also nicht eine Abwehr von jeder Determination, sondern eine gewaltenteilige Form von Determinationen, die uns zufallen und durch die wir schließlich der werden, die wir sind. (. .) Wir sind immer unsere Geschichten und die Geschichten sind immer Handlungswiderfahrnisgemische, also wir sind nicht bloß Akteure sondern haben es immer mit Kontingenzen zu tun, also mit Widerfahrnissen, (. .) und dieses Gemisch von Handlungen oder Widerfahrnissen das sind wir, das sind unsere individuellen Geschichten.

    So ist denn Odo Marquard schon vor Jahrzehnten mit dem Schlagwort Abschied vom Prinzipiellen bekannt geworden – und die neue Aufsatzsammlung schließt auch mit älteren Texten daran an. Marquard vertraut nicht mehr auf die Kraft der großen Prinzipien oder der umfassenden Weltbilder. Der Streit der Ideologien prägt sein Denken vielmehr negativ, indem er versucht im Rückgriff auf die antike Skepsis dergleichen Verblendungen zu entgehen. Mit solcher Skepsis will Odo Marquard aber nicht alle groben Gewissheiten schier verschwörungstheoretisch verunsichern nach dem Motto: "Könnte Lady Diana nicht doch umgebracht worden sein? Da bleibe ich lieber skeptisch und denke mir das Schlechteste." Skepsis will vielmehr die Augen dafür öffnen, dass es viele mögliche Sichtweisen der Wirklichkeit gibt, zwischen denen das Individuum wählen kann.

    Und ich bezeichne mich ja normalerweise als Skeptiker, endlichkeitsphilosophischer Skeptiker und meine These ist dann: Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern der Sinn für Gewaltenteilung.

    Dementsprechend bestimmt Odo Marquard auch die Rolle der Philosophie. Für ihn gibt es nicht eine Philosophie, die die Welt richtig erklären soll und dem Menschen sagen, wie er moralisch zu leben hätte. Nein, der Vorteil der Philosophie liegt gerade darin, dass viele Philosophien existieren, die sich im Sinne der Gewaltenteilung gegenseitig verschränken und dem Individuum Möglichkeiten der Auswahl wie der Entscheidung bieten. Ja, Odo Marquard fordert geradezu viele Philosophien und nicht endlich ein Ende des unendlichen philosophischen Streits:

    Also im Grundsätzlichen sind ja die Philosophen mehr oder weniger verschrien dafür dass sie in Grundsatzfragen keine Einigkeit entwickeln und die Geschichte der Metaphysik, die Geschichte der Philosophie insgesamt, seit es sie gibt, ist eine Geschichte von Nichtübereinstimmung in Grundsatzpositionen. Normalerweise ist das ein Einwand gegen die Philosophie: Die können sich ja überhaupt nicht einigen. Meine Vorstellung ist das gerade, dass das eine gute Seite der Philosophie ist aus vielen Gründen.

    Das Individuum soll sich dadurch seiner Endlichkeit bewusst werden und die Dinge nach menschlichem Maß, nicht nach absoluter Moral beurteilen. Daraus könnte dann eine gelassene philosophische Haltung entspringen, die auch Nichtphilosophen helfen würde. Odo Marquard formuliert in traditionellen Worten postmoderne Positionen, die weniger bescheiden und längst nicht so einfach sind, wie sie klingen:

    Die Philosophen im Unterschied zu anderen Fächern sind seit zweitausendfünfhundert Jahren geübt darin, mit verschiedenen Grundsatzpositionen zurande zu kommen. Und das ist das, was die anderen normalerweise erst einmal lernen müssen. Die anderen sind aufgeregt: hier haben wir einen Widerspruch usw. Die Philosophen sagen: na wartet ab, mit einiger Geduld löst sich das auch.

    Odo Marquard
    Individuum und Gewaltenteilung – Philosophische Studien
    Reclam Universal-Bibliothek, 172 S., EUR 4,80