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Belästigungsvorwürfe gegen Politiker in Großbritannien
"Das ist ein später Sieg des Feminismus"

Nach dem Rücktritt des Verteidigungsministers Michael Fallon müssen sich viele weitere britische Spitzenpolitiker mit dem Vorwurf der sexuellen Belästigung auseinandersetzen. Die Frauen hätten die Nase voll "vom alten Clubleben von Westminster", sagte dazu der Politikwissenschaftler Anthony Glees im Dlf.

Anthony Glees im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 03.11.2017
    Der inzwischen zurückgetretene britische Verteidigungsminister Sir Michael Fallon von den konservativen Tories verlässt am 31. Oktober 2017 No 10 Downing Street nach dem wöchentlichen Kabinettstreffen.
    Der inzwischen zurückgetretene britische Verteidigungsminister Sir Michael Fallon von den konservativen Tories verlässt am 31. Oktober 2017 No 10 Downing Street nach dem wöchentlichen Kabinettstreffen. (imago/i Images)
    Tobias Armbrüster: Fast jeden Tag hören wir zurzeit von neuen Fällen von sexueller Belästigung. Immer mehr prominente Männer weltweit sehen sich Anschuldigungen gegenüber. Angefangen hat das Ganze mit dem Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, mit Schauspielerinnen, die ihm Grabschereien und Vergewaltigung vorwerfen, Vorwürfe, die inzwischen auch gegen viele andere Männer aus dem Showbusiness erhoben werden. In Großbritannien, da hat diese Debatte jetzt auch die erste Reihe der Politik erreicht. Verteidigungsminister Fallon ist zurückgetreten. Wir haben ihn gerade gehört. Er soll vor 15 Jahren bei einem Dinner einer Journalistin mehrmals die Hand aufs Knie gelegt haben. Und wir hören, dass es ähnliche Anschuldigungen offenbar auch gegen eine Reihe weiterer Spitzenpolitiker in Großbritannien gibt. 40 Namen sollen auf einer Liste im Regierungsviertel kursieren.
    Am Telefon jetzt der britische Politikwissenschaftler und Parteienkenner Anthony Glees von der Universität Buckingham. Schönen guten Morgen, Herr Glees!
    Anthony Glees: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: 40 Abgeordnete, Herr Glees. Wie groß ist die Unruhe in der britischen Politik?
    Glees: Die ist sehr, sehr groß. Die Politik bei uns ist eigentlich seit der Brexit-Wahl sehr, sehr labil. Dies aber, was wir heute sehen, das ist keine Hexenjagd, Herr Armbrüster, weil es Hexen nicht gibt. Aber diese Belästiger, diese sexuellen Belästiger im Parlament, die gibt es schon. Und ich glaube, das kommt dadurch: Was in Großbritannien im Gange ist, ist eine Auflösung unserer gesamten politischen Kultur. Gezielt ist das Vertrauen der Wähler in die repräsentative Demokratie, in das Parlament in Westminster überhaupt zerstört. Die Parteien sind gespalten, das Volk ist sehr, sehr unglücklich.
    "Von dem alten Clubleben von Westminster die Nase voll"
    Armbrüster: Dann müssen Sie uns aber trotzdem erklären. Wie konnte es sein, dass solche Fälle, wenn es sie tatsächlich gibt, solche massenhaften Fälle von Belästigungen, wie die jahrelang unter dem Teppich gehalten wurden. Warum wurde darüber nicht gesprochen?
    Glees: Das ist eine gute Frage. – Die Fälle gibt es aber. Das ist ganz klar, weil Michael Fallon zurückgetreten ist und andere Leute den Rücktritt angedroht haben, wie zum Beispiel der Vizepremierminister Damian Green. Es ist nicht sicher, dass er sich halten kann heute Morgen. Aber das kommt dadurch, dass die politische Macht der Frauen in unserer Gesellschaft zusammen mit diesem Vertrauensverlust in der repräsentativen Demokratie zusammengestoßen ist. Und es ist diese Macht der Frauen, die von dem alten Clubleben von Westminster jetzt die Nase voll hat. Die Frauen nehmen es nicht mehr hin, so wie sie es in früheren Jahren hingenommen haben. Und natürlich, wir haben führende Frauen in der Politik in Großbritannien in der Vergangenheit gehabt. Man braucht nur den Namen von Margaret Thatcher zu erwähnen. Aber von Margaret Thatcher wurde ja oft gesagt, sie sei der einzige Mann im Kabinett. Was wir jetzt haben sind Frauen, Theresa May …, der Innenminister – Home Secretary – Amber Rudd, das sind Frauen, die Macht haben und als Frauen dort etwas bewirken. Das ist der Unterschied.
    Armbrüster: Das heißt, wir können sagen, das ist sozusagen ein später Sieg des Feminismus?
    Glees: Auf alle Fälle. Das ist ein später Sieg vom Feminismus, der zusammengekommen ist mit dieser viel wichtigeren Sache. Der Feminismus ist nicht unwichtig, aber was jetzt Großbritannien bevorsteht, im Wirtschaftlichen nach der Brexit-Wahl, diese Schwierigkeiten sind zusammen mit der großen Macht vom Feminismus, auch der großen Macht – das muss man sagen – von Twitter und Facebook, von den sozialen Medien, die diese Geschichten sofort verbreiten durch Millionen von Leuten, und besonders Frauen, die sich das anschauen.
    "Eine Frau als Premierminister wird durch diesen Feminismus immer machtloser"
    Armbrüster: Was können wir denn jetzt in den kommenden Tagen erwarten? Bislang ist diese Liste ja immer noch zum großen Teil geheim, wenn ich das richtig sehe. Da sind die Namen zumindest geschwärzt. Können wir in den nächsten Tagen damit rechnen, dass die Namen rauskommen und dass wir dann eine weitere Reihe von prominenten Rücktritten erleben werden? Sie haben gerade den Namen Damian Green ja auch schon genannt.
    Glees: Ja, bestimmt. Ich meine, es sind schon Namen da. Woher diese Liste kommt? – Anscheinend sind das jüngere Leute, die im Parlament arbeiten. Es kann aber auch sein, wissen Sie, Herr Armbrüster, dass eine russische Hilfe dahinter steht. So labil ist die britische Politik zurzeit.
    Die große Ironie hier ist, dass wir eine Frau als Premierminister haben, die durch diesen Feminismus immer mehr machtlos wird. Und wenn es nicht ein Abkommen mit der EU27 gibt, dann geht Theresa May. Dann ist ihre Zeit als Premierministerin vorüber. Wenn dieser Skandal noch mehrere Köpfe im britischen Kabinett abnimmt, dann ist sie in Tagen, vielleicht in Stunden aus, und das macht die Politik bei uns so gefährlich und labil.
    Und man muss fragen: Wer hätte eigentlich ein Interesse jetzt, dass Theresa May abfliegen würde? Das würde zu dem härtesten Brexit führen, und ich hoffe, dass in Deutschland man genau hinguckt. Wenn die Sachen zu schwierig für Frau May gemacht werden, dann verliert Deutschland einen festen Partner.
    Armbrüster: Das müssen Sie uns etwas genauer erklären, Herr Glees. Was genau hat Theresa May mit diesen Vorwürfen zu tun?
    Glees: Sie hat mit diesen Vorwürfen zu tun, weil erstens sie ja eine Frau ist. Aber das, was im Parlament vorgeht, ihre Position sehr schwach macht, die Leute, die ihr abhanden gekommen sind, das waren ihre stärksten Befürworter im Kabinett. Michael Fallon und der Name von Damian Green. Damian Green sagt, das Ganze ist eine große Lüge, er hat nie dies und das gesagt. Aber es bestehen E-Mails, die wir gesehen haben. Wenn Theresa May immer mehr Minister und mit ihr befreundete Minister verliert, dann ist ihre eigene Position verloren. Die Lage für sie ist jämmerlich!
    Armbrüster: Herr Glees, wir müssen noch über ein anderes Phänomen in dieser ganzen Sache sprechen. Ich glaube, das ist ein Umstand, den wahrscheinlich viele sehen, die die Nachrichten der letzten Tage verfolgt haben - hier bei uns in Deutschland die Nachrichten aus Großbritannien -, die sich diese Frage stellen. Das ist ja alles jetzt nicht der erste, ich sage einfach mal ganz salopp, Sex-Skandal, von dem die britische Politik erschüttert wird. Wir haben solche Skandale häufiger in den letzten Jahren und Jahrzehnten gehabt, sehr viel häufiger als etwa bei uns in Deutschland. Und da stellt sich die Frage: Sind britische Politiker besonders anfällig für solche sexuellen Übergriffe? Und wenn ja, woran liegt das?
    "Poltik ist eine Machtsache, und Sex ist auch eine Machtsache, wenn Sex falsch gemacht wird"
    Glees: Ich glaube, die sind besonders anfällig, eben weil die Politik, das ist eine Machtsache, und Sex ist auch eine Machtsache, wenn Sex falsch gemacht wird. Die beiden kommen zusammen in der britischen politischen Kultur. Und ich glaube, die britischen Frauen, die politische und gesellschaftliche Macht haben, haben jetzt die Nase voll davon, und das ist der Unterschied. Dass es immer Sex-Skandale in Großbritannien gab, das ist doch ganz klar. Als ich Schuljunge war, gab es den Profumo-Skandal bei MacMillan, wo John Profumo, der Kriegsminister damals, mit einer Prostituierten zusammen geschlafen hat.
    Aber die Häufigkeit jetzt, es ist, als ob die Kultur der sexuellen Freiheit aus den 60er-Jahren – alle diese Leute waren ja Studenten, viele waren Studenten in den 60er- und 70er-Jahren –, das Studentenleben ist ins Erwachsenenleben und ins politische Leben übertragen worden. Was als sexuelle Freiheit für Männer angesehen worden ist, was von Frauen angenommen worden ist, wird jetzt als tiefe sexuelle Belästigung und Beleidigung angesehen. Ich glaube, Herr Armbrüster, es ist gut so. Aber dass es eine gründliche Veränderung in der britischen politischen Kultur darstellt, daran darf kein Zweifel sein.
    Armbrüster: Ganz kurz noch, Herr Glees. Welche Rolle spielen in diesen ganzen Enthüllungen die britischen Medien, die britischen Zeitungen vor allem?
    Glees: Die Zeitungen sind völlig verwirrt. Sie wissen nicht genau, wie sie das abspielen. Die Zeitungen wie zum Beispiel Daily Mail, Sun, Daily Express haben immer Frauenseiten gehabt, wo von Gewicht abnehmen und neuer Medizin berichtet worden ist. Die Zeitungen sind auch die Zeitungen, die die alte Kultur besonders der Tories unterstützt haben. In den Boulevard-Zeitungen sieht man genau, wie verwirrt man ist. Die Frauen vom Daily Mail gestern und vorgestern …, die Frau, die Michael Fallon …, die von Damian Green belästigt wurde, diese Frau wurde im Daily Mail wirklich zerstört. Ihr Charakter wurde zerstört. Sie wurde so dargestellt, als ob sie eigentlich eine halbe Prostituierte war. Das zeigt, die Zeitungen wissen nicht, die können auf einmal nicht für die Macht der Frauen in Großbritannien sein und auf der anderen Seite die alten Politiker der Tories und der Labour Party so unterstützen, wie es einmal gut ging.
    Armbrüster: Wir erleben offenbar gerade einen Gezeitenwechsel in der politischen Kultur in Großbritannien, sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees. Ich danke Ihnen vielmals, Herr Glees, für das Gespräch heute Morgen.
    Glees: Gerne geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.