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Belcanto-Arien
Einblick in vergessene Perlen

Etwa bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den Opernhäusern Europas "Belcanto" gesungen. Mezzosopranistin Joyce DiDonato widmet sich auf "Stella di Napoli" unbekannteren Werke dieser Italien entstandenen Gesangstechnik. Ein Genuss, urteilt Rezensent Klaus Gehrke.

Von Klaus Gehrke | 26.10.2014
    Die US-Mezzosopranistin Joyce DiDonato hält die Grammy-Trophäe in die Höhe.
    2012 gewann die US-Mezzosopranistin Joyce DiDonato den Grammy. (picture alliance/dpa/Michael Nelson)
    Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti oder Gioacchino Rossini sind nicht nur gefeierte Vertreter des "Belcanto"; Werke wie "Norma", "Lucia di Lammermoor" oder "Il barbiere di Siviglia" gehören heute selbstverständlich zum Repertoire jedes bedeutenden Opernhauses. Allerdings widmen die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato sowie Chor und Orchester der Opéra de Lyon unter Riccardo Minasi sich auf ihrer CD nicht diesen berühmten Klassikern, sondern Opern, die gesangstechnisch zwar ebenso hohe Anforderungen an die Solistin stellen, es aber dennoch nicht in die erste Belcanto-Liga geschafft haben – wie beispielsweise Rossinis 1822 komponierte "Zelmira", die heute kaum noch aufgeführt wird.
    Entdeckungsreise in eine versunkene Epoche
    In Paris, wo Rossini seit 1855 wohnte, erlebte er das langsame Verschwinden der meisten seiner Werke aus dem Bühnenrepertoire sowie das Verlöschen der Belcanto-Ära noch mit. Verdis Opern und Mascagnis, Leoncavallos oder Puccinis Musikdramen dominierten auch in Neapel, der einstigen Belcanto-Hochburg. Das Musikleben dort zu Beginn des 19. Jahrhundert stellt Joyce DiDonato sich laut Booklet vor als "eine Welt, die Andy Warhols New York der 60er Jahre im Neonschein oder Gertrude Steins Paris der 20er Jahre gleicht; eine Brutstätte der Kreativität, voller Risikobereitschaft, ein Vulkan künstlerischen Schaffens, mit dem sich die bestehende Kunstlandschaft von Grund auf veränderte. Hier in Neapel wurde ein Stern nach dem anderen geboren, entstand eine Melodie nach der anderen. Dass ich nun Anfang des 21. Jahrhunderts mit dieser lebendigen, atemberaubend emotionalen Zeit des "schönen Gesangs" in Beziehung treten kann, erhellt meine musikalische und künstlerische Seele wie eine Supernova."
    Unbekannte "Sterne"
    "Stella di Napoli" heißt nicht nur DiDonatos neue CD, sondern auch eine Oper von Giovanni Pacini, einem Zeitgenossen Rossinis und Donizettis – wobei Stella hier nicht "Stern" bedeutet, sondern der Name der Hauptfigur ist. Sie gehört zu den rund 80 Bühnenwerken, die Pacini komponierte und die zum größten Teil im Dunkel der Musikgeschichte verschwunden sind. Wie die Cabaletta der Stella ist auch die Arie der Lucia aus der Oper "Le nozze di Lammermoor" von Michele Carafa eine Weltersteinspielung. 1785 als Sohn einer neapolitanischen Adelsfamilie geboren, schlug Carafa zunächst eine Offizierslaufbahn ein, wandte sich dann aber der Musik zu. Er komponierte 36 Opern, die eine deutliche Nähe zu seinem Freund Rossini aufweisen. Die ist auch in "Le nozze di Lammermoor" zu spüren, die 1829, sieben Jahre vor Donizettis ungleich berühmter "Lucia di Lammermoor", entstand.
    Meisterin der Messa di voce
    Es sind in der Tat geradezu unerhörte Kostbarkeiten, die die Mezzosopranistin Joyce DiDonato und der Dirigent Riccardo Minasi hier ausgewählt haben. Und sie stehen den berühmten Belcanto-Arien in nichts nach, was die stimmtechnischen Anforderungen angeht. Diese meistert die US-amerikanische Sängerin mit Bravour und einem schier unglaublichen Gespür für Leichtigkeit auf der einen sowie subtile Dramatik auf der anderen Seite. Darüber hinaus beherrscht sie perfekt die Kunst des Messa di voce-Gesangs, die sie beispielsweise im sogenannten "Gebet" der Maria Stuarda aus Gaetano Donizettis gleichnamiger Oper eindrucksvoll demonstriert.
    Beeindruckende Gesamtleistung
    Nicht nur die volltönende und ungemein klangsinnliche Mezzosopranstimme von Joyce DiDonato ist ein Genuss, sondern auch das Spiel des sensibel und transparent agierenden Orchesters. Riccardo Minasi leitet die Musiker und den Chor der Opéra Lyon nach den Maßstäben der historisch informierten Aufführungspraxis und zaubert damit ein überaus farbiges, schlankes und facettenreiches Klangbild. "Stella di Napoli" gibt einen überaus interessanten Einblick in eine Musikepoche, von deren damaligen Hauptvertretern heute nur drei, nämlich Rossini, Bellini und Donizetti, als Meister des "Belcanto" gelten; dabei bieten auch die anderen vier auf der CD versammelten Komponisten wie etwa Giovanni Pacini durchaus sehr Hörenswertes – was meisterhaft dargeboten wird.