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Belgien
Die neue Regierung im Gegenwind

Belgien erlebt einen heißen Herbst. 100.000 Menschen gingen vor einigen Wochen auf die Straße, um gegen die Sparpolitik der neuen Regierung zu demonstrieren, an der sich Flamen und Wallonen reiben. Heute findet in mehreren Regionen ein Generalstreik statt.

Von Annette Riedel | 24.11.2014
    Luftaufnahme von streikenden Hafenarbeitern in der Provinz Antwerpen.
    Verschiedene Gewerkschaften haben in mehreren belgischen Provinzen aufgerufen, mit Streiks gegen die Sparmaßnahmen der Regierung zu protestieren. (picture alliance / dpa - Luc Claessen)
    Der neuen belgischen Mitte-Rechts-Regierung schlägt heftiger Gegenwind entgegen. 21 Stunden lang lieferten sich Regierung und Opposition zum Teil stürmische Auseinandersetzungen anlässlich der Regierungserklärung Mitte Oktober.
    "Unsere absolute Priorität haben die sozio-ökonomischen Reformen..."
    Charles Michel, Ministerpräsident von der MR, der liberalen Partei aus der französisch-sprachigen Wallonie, spricht selbst neben Französisch fließend Niederländisch. Keineswegs selbstverständlich in einem Land, dessen beide Landesteile, das Niederländisch sprechende Flandern und die frankophone Wallonie keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsamen Parteien, keine gemeinsamen Medien kennen. Michel verteidigt das Konzept seiner Vierer-Koalition aus Liberalen beider Sprachgemeinschaften, den flämischen Christdemokraten und der flämischen N-VA für ökonomische und soziale Reformen. Die Opposition dagegen ist lautstark. Auf der Straße, wie hier bei den in Randale ausartenden Demonstrationen in Brüssel Anfang November.
    Auf der Straße ist der Widerstand gegen die Regierungspolitik initiiert von den Gewerkschaften. Im Parlament angeführt von den beiden sozialistischen Parteien - aus dem flämischen Landesteil und aus dem wallonischen Landesteil. Die Sozialisten sind zum ersten Mal seit fast drei Jahrzehnten nicht an einer belgischen Regierung beteiligt. Die sozialistische Fraktionsvorsitzende, Laurette Onkelinx, gehört zu den Wortführern gegen die von der Mitte-Rechts-Regierung geplanten sozio-ökonomischen Reformen.
    Angst vor den Folgen der Reformen
    "Die Arbeiter werden die Zeche für diese Reformen zahlen - egal ob sie Französisch, Niederländisch oder Deutsch sprechen. Sie alle sind Opfer der geplanten Reformen. Wir werden für sie kämpfen. Ich bin sicher, sie alle werden sich im Widerstand gegen diese Regierung finden."
    Anlass zum Widerstand sehen die Regierungskritiker mehr als genug: Die geplante Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67. Das einmalige Aussetzen der jährlichen automatischen Anpassung von Löhnen um die Inflationsrate. Einsparungen beim öffentlichen Nahverkehr und bei den wenigen föderalen, bi-kulturellen Kultureinrichtungen, darunter das renommierte 'Bozar'– Veranstaltungsort und Museum in Brüssel. Die flämische N-VA steht in der Regierungs-Koalition von den vier Parteien politisch am weitesten rechts. Sie stellt mit Johan van Overveldt unter anderem den Finanzminister. Er weist im Interview drauf hin, warum er an durchgreifenden Reformen keinen Weg vorbei gehen sieht.
    "Wir müssen unsere gesamte Wirtschaftspolitik ändern. Das Unternehmertum muss gestärkt werden. Es muss auch Soziales geben. Aber keine Gesellschaft kann sich um die Schwächeren in ihrer Mitte kümmern, wenn die Wirtschaft ein Friedhof ist."
    An den Reform-Plänen der neuen Regierung reiben sich viele Flamen und viele Wallonen gleichermaßen inhaltlich. Darüber hinaus gibt es bei den französischsprachigen Belgiern ein diffuses Gefühl, irgendwie benachteiligt, nicht angemessen repräsentiert zu sein in dieser Regierung. Obwohl die MR von Regierungschef Michel zwar nur 20 von 150 Abgeordneten im Parlament stellt, aber trotzdem als einzige französisch-sprachige Partei verfassungsgemäß die Hälfte der Regierungsmannschaft.
    "Die Michel-Regierung wird von einer großen flämischen Mehrheit und einer Minderheit der Frankophonen getragen. Das ist das erste Mal in der belgischen Geschichte, dass das so ist."
    Frankophone fühlen sich nicht repräsentiert
    Auch Joelle Milquet von der CD-H sieht das so. Anders als die christdemokratische Schwesterpartei in Flandern, der CD&V, ist die CD-H nicht Teil der Koalitionsregierung.
    "Die Frankophonen spielen eine Nebenrolle in dieser Regierung. Alle Schlüssel-Ministerien sind von der N-VA besetzt."
    Die flämische N-VA Bart de Wevers stellt die größte Fraktion im föderalen Parlament. Sie ist vielen Frankophonen auch deshalb besonders suspekt, weil sie bei ihnen nicht nur in besonderer Weise als die Partei für den Sozialabbau gilt, sondern weil die N-VA tendenziell den Föderalstaat weiter zugunsten der Teilstaaten schwächen möchte. Damit ist sie auch jemandem wie dem Sozialisten Jean-Claude Marcourt ein besonderer Dorn im Auge. Er ist Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister des ärmeren Landesteils Wallonie.
    "Das Denken der N-VA ist unsolidarisch geht nach dem Muster: Ich lebe in einer reicheren Region und deshalb verteidige ich die reiche Region gegen die Arme."
    Die Gewerkschaften haben Charles Michel und seiner Regierung den Kampf angesagt - mit Recht, sagte ein deutschsprachiger Belgier neulich bei der Demonstration in Brüssel.
    "Jetzt mit der neuen Regierung ist jetzt wirklich ein rechtes Regime quasi am Werk, wo den Arbeitnehmern sehr stark in die Tasche gegriffen wird. Und wenn man gleichzeitig sieht, dass große Unternehmen keine Steuern zahlen, dann ist da was grundfaul in diesem Staate."