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Belletristik
Die Spiegel-Bestsellerliste im Oktober

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 24.10.2014
    Dieses Gehirn fragt sich, welche Auswirkungen wohl ein Autorenstreik auf das Leben in unserem schönen Gemeinwesen hätte. Oder gar ein Rezensenten-Streik? Ist es nicht an der Zeit, eine kleine schlagkräftige Einzelgewerkschaft zu gründen? Drei Tage ohne Literaturkritik, und diese Republik hätte ein anderes Gesicht.
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik: Diesmal mit der Chance, lesend reich zu werden, sowie mit amerikanischen Apokalyptikern, ostdeutschen Romantikern und japanischen Existenzialisten, außerdem irregeleiteten Freunden des Familienromans sowie bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigungsbeauftragten und Allgäuer Adelsverächtern.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen mittelprächtige 4956 Gramm auf die Waage: zusammen 4833 Seiten.
    Platz 10) James Frey: "Endgame" (Deutsch von Felis Darwin, Oettinger, 590 S., 19,99 Euro)
    Zwölf Jugendliche aus zwölf Stämmen bereiten sich seit Jahrtausenden darauf vor, in einem von Außerirdischen veranstalteten Spiel auf Leben und Tod gegeneinander zu kämpfen, was der Schreibfabrik von James Frey zum Vorwand dient, Sätze zu fabrizieren wie "Sein Geschlecht wartet seit 9.000 Jahren".
    Eine halbe Million Dollar verspricht James Frey demjenigen, der die seinem Roman enthaltenen Rätsel knackt. Ich erhöhe auf eine Million, wer in diesem gewaltgeilen, in Plastikprosa geschriebenen Schund einen Funken Esprit und Schönheit entdeckt.
    Platz 9) Haruki Murakami: "Von Männern, die keine Frauen haben" (Deutsch von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, 254 S., 19,99 Euro)
    Ein Käfer erwacht eines Morgens in Gestalt von Gregor Samsa, ein Mann erfährt vom Suizid einer früheren Freundin, ein Schauspieler sinnt auf Rache am Geliebten seiner toten Frau: Haruki Murakami ist deshalb einer der genialsten Erzähler der Welt, weil er ein Experte für unsere Seelenabgründe ist und Bilder findet, die ebenso originell wie einleuchtend sind. Wie fühlt es sich an, als Mann ohne Frau zu leben? Es ist wie "mit Ammoniten und Quastenflossern auf dem dunklen Meeresgrund zu liegen." - Genau.
    Platz 8) Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (Diogenes Verlag, 245 S, 21,90 Euro)
    Ein Streit um den Besitz eines Gemäldes zwischen Maler, Model und Auftraggeber lebt nach vier Jahrzehnten wieder auf – ebenso wie die Liebesgeschichte zwischen dem Anwalt und dem mittlerweile todkranken Model, das zwischendurch zur RAF-Terroristin wurde.
    "Seltsam, wie zwangsläufig mein Leben war und zugleich wie zufällig", sinniert der Erzähler. Ungelenk in der Sprache, überfrachtet in der Konstruktion ist dieser Roman eine der großen Zumutungen dieses Literaturjahrs.
    Platz 7) Wolfgang Herrndorf: "Bilder deiner großen Liebe" (Rowohlt, 141 S., 16,95 Euro)
    Eine Nebenfigur namens Isa aus dem Bestsellerroman "Tschick" geistert durch die Seiten dieser phantasmagorischen Road Novel, die Fragment geblieben ist, weil ihr Autor im letzten Jahr starb. Gern würde ich etwas Gutes über dieses Buch sagen; ich habe nur nichts Gutes darin gefunden. Ein Buch für Fans.
    Platz 6) Dave Eggers: "Der Circle" (Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Kiepenheuer & Witsch, 560 S., 22.99 Euro)
    Was geben wir auf, wenn wir uns in den sozialen Netzwerken gemeinmachen? Welchen Preis zahlen wir für die Gratisdienste der Datenkraken im Internet? Dave Eggers Roman über die 23-jährige Mae, die als neue Angestellte der Super-Software-Schmiede Der Circle die Wunder der totalen Transparenz kennenlernt, führt mitten hinein die zentralen Fragen unserer Gegenwart. Ein bitter notwendiger Roman.
    Platz 5) Paulo Coelho: "Untreue" (Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes Verlag, 315 S., 19.90 Euro)
    Eine 31-jährige verheiratete Genfer Journalistin namens Linda hat eine Affäre. Dabei denkt Linda gefühlsduselige Sätze wie: "Ausgiebig lieben heißt ausgiebig leben." Oder: "Für immer lieben heißt für immer leben." Oder: "Die Liebe, das Einzige, was bleiben wird, wenn die Menschen einmal nicht mehr sind."
    Ich habe den Verdacht, außer der Liebe werden selbst dann noch die Kitschromane von Paulo Coelho überleben. Denn sterben kann nur, was einmal gelebt hat. Das Amüsanteste bei der Lektüre dieses untoten Buchs war eine Werbekarte des Diogenes Verlags mit dem Aufdruck: "Während Sie lesen, haben andere Sex. Sorry." Tat mir in diesem Fall auch leid.
    Platz 4) Ken Follett: "Kinder der Freiheit" (Deutsch von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher, Lübbe Verlag, 1211 S., 29,99 Euro)
    Wer wie Ken Follett nicht davor zurückschreckt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts als Geschichte von fünf Familien zu erzählen, würde vermutlich am Beispiel von zehn Familien die Geschichte unserer Galaxis erzählen. Dieses Romankonzept ist schlicht schwachsinnig und führt zu Szenen mit DDR-Flüchtlingen mit Erektionsproblemen nach der Flucht durch Mauertunnel und weißen Kennedy-Beratern, die weinende schwarze Frauen aus dem Martin Luther King-Umfeld in den Schlaf streicheln. Absurd peinlich.
    Platz 3) Volker Klopfer und Michael Kobr: "Grimmbart" (Droemer Verlag, 479 S., 19,99 Euro)
    Woran erkennt man Kitsch im Krimi? Ganz sicher an Dialogen wie: "Weißt du, du warst immer da. Ehrlich. Und du bist ein brutal guter Vater. Und jetzt ... Jetzt wirst du ein genauso guter Großvater."
    Das ist indiskutabel. Aber die Konträrfaszination, die von der bräsigen Behäbigkeit des von seiner Frau zärtlich "Butzele" genannten Kommissar Kluftingers auf den Seiten dieses Regionalkrimis um Bordellbetreiber und verarmte Schlossherren ausgeht, trägt erstaunlicherweise sogar über solche Untiefen hinweg. Auch diesmal hat mich der von mannigfaltigen Wahrnehmungs-Beschränkungen beeinträchtigte Kluftinger insbesondere im interkulturellen Dialog mit seinen japanischen Gegenschweigern amüsiert.
    Platz 2) Nele Neuhaus: "Die Lebenden und die Toten" (Ullstein Verlg, 554 S., 19,99 Euro)
    Lesen wir nach 554 Seiten die letzten beiden Sätze dieses Romans: "Hinter den Bergen des Taunus versank feuerrot die Sonne, die Gäste applaudierten und pfiffen begeistert. Konnte es einen schöneren Augenblick für einen Kuss geben?"
    Thema dieses spannungslosen Krimis ist Organhandel; Damit muss die Autorin sich auskennen, denn Nele Neuhaus verhökert in ihrem Schreiben fortwährend Hirn gegen Herz. Auf die Dauer schlägt das arg auf den Magen.
    Platz 1) der aktuellen Spiegelbestsellerliste Belletristik: Lutz Seiler: "Kruso" (Suhrkamp Verlag, 484 S., 19,99 Euro)
    Der deutsche Buchpreis hat diesen herausragenden Roman über eine ungewöhnliche Männerfreundschaft und Freiheit in der Diktatur an die Spitze der deutschen Bestsellerliste katapultiert. Das so etwas möglich ist, zählt zu den besten Seiten des literarischen Lebens in unserem Land. Der wichtigste Satz in "Kruso" steht in meinen Augen auf Seite 217: "Poesie war Widerstand". Dieser Satz gilt für die DDR im Jahr 1989 genau so wie für die Bundesrepublik 2014.