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Belletristik
Die "Spiegel"-Bestsellerliste im Oktober

Diesmal mit einem neuen Eichmaß für Kitsch und Schmalz, dem besten Roman über Familienhöllen in Ost und West, belletristischen Auseinandersetzungen mit Rassismus in den USA und einem dreisten Fall von posthumer Ausbeutung.

06.10.2015
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    Dieses Gehirn denkt jahreszeitbedingt in letzter Zeit öfter an Eichhörnchen und Goethes Einsicht, wonach Gott uns die Nüsse gibt, sie aber nicht für uns aufknackt.
    Die aktuelle "Spiegel"-Bestseller-Liste Belletristik
    Diesmal mit einem neuen Eichmaß für Kitsch und Schmalz, dem besten Roman über Familienhöllen in Ost und West, belletristischen Auseinandersetzungen mit Rassismus in den USA, dem Bürgerkrieg in Syrien und auf Sichtbarkeit Flüchtlingen in Deutschland, einem dreisten Fall von posthumer Ausbeutung, einem erfreulichen deutschen Romandebüt sowie Antworten vom Altmeister des Horrors, Stephen King, auf die Frage, was literarische Größe ausmacht.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen herbstlich schwere 4922 Gramm auf die Waage: zusammen 5027 Seiten.
    Platz 10: Harper Lee: "Wer die Nachtigall stört"
    (Deutsch von Claire Malignol, überarbeitet von Nikolaus Stingl
    Rowohlt Verlag, 464 Seiten, 19,95 Euro)
    Der erst jetzt veröffentlichte Erstling Harper Lees "Gehe hin, stelle einen Wächter" – dieser Roman steht auf Platz elf -, hat auch diesen Klassiker der amerikanischen Nachkriegsliteratur wieder auf die Bestellerliste katapultiert. 55 Jahre nach seinem ersten Erscheinen begegnet man Scout und Atticus Finch nicht ohne Rührung und auch nicht ohne Respekt vor Atticus' Kampf gegen den Rassismus seiner Umwelt. Doch fällt beim Wiederlesen auch der Abstand zwischen dieser warmherzig erzählten und sehr berührenden Geschichte aus den Südstaaten und echter Weltliteratur von der halluzinatorischen Kraft eines Franz Kafka auf.
    Platz 9: Rafik Schami: "Sophia"
    (Hanser Verlag, 478 Seiten, 24,90 Euro)
    Der neue Schami ist in den Jahren vor dem Bürgerkrieg in Syrien angesiedelt und erzählt in starken Bildern von Liebe und Exil. Trotz dieser sozusagen "ewigen" Themen könnte "Sophia" aktueller nicht sein: dieser Roman kleidet die unzusammenhängenden Informationen aus den Nachrichten in ein narratives Gewebe und ermöglicht so zwar kein Verstehen, immerhin aber doch ein Ermessen des Unbegreiflichen.
    Platz 8: Isabel Allende: "Der japanische Liebhaber"
    (Deutsch von Svenja Becker, Suhrkamp Verlag, 335 Seiten, 21.95 Euro)
    Allende erzählt von der Liebe einer polnisch-jüdischen Modeschöpferin in Kalifornien zu dem Sohn eines japanisch-amerikanischen Gärtners.
    "Almas Briefe waren die unverhohlenen und angsterfüllten einer Frau, die unter der Trennung leidet; Ichimeis waren wie stilles, klares Wasser, doch konnte man zwischen den Zeilen den Herzschlag seiner Leidenschaft spüren."
    Sätze wie diese machen Isabel Allendes neuen Roman zu einer Art Urmeter des Schmalzes, des verlogenen Sentiments und der falschen Geschlechtertypisierung. Für Allendes Schilderungen der Judenvernichtung in Polen wurde hingegen das Wort "Holo-Kitsch" erfunden.
    Platz 7: Günter Grass: "Vonne Endlichkait"
    (Steidl, 176 S., 28,00 Euro)
    In diesem letzten Buch mit Lyrik, Prosa und Zeichnungen des im Frühjahr gestorbenen deutschen Literaturnobelpreisträgers ist alles da, wofür man ihn lieben und hassen konnte: seine Sinnlichkeit, seine Wortgewalt, seine Zärtlichkeit, aber auch die terrierhafte Unnachgiebigkeit und der mitunter an eine barocke Drehorgel erinnernde derbe Rechthaber-Sound von Günter Grass. Recht neu ist die Erkenntnis, wie stark sich unsere Wirklichkeit mit Nachrichten über Nazigold-Züge in Polen und einer Million Flüchtlinge in Deutschland sich dem magischen Realistismus von Günter Grass angenähert hat. Einiges hat Grass auch seinen Kritikern noch ins Stammbuch zu schreiben:
    "Das Buch wird Euch überleben, Ihr Strichmännchen und Daumen- / schrauber, ihr gesitteten Heuchler und bezahlten Chorsänger, / Ihr nur im Rudel mutigen Kläffer, Euch überschlau studierte / Analphabeten und telegene Scharfrichter, denen – Ihr ahnt es – / das letzte Wort versagt bleibt."
    Auf lange Sicht bestimmt. Für heute sage ich aber: ein gutes Buch!
    Platz 6: Stephen King: Finderlohn
    (Deutsch von Bernhard Kleinschmidt, Heyne, 542 Seiten, 22,99 Euro)
    Nach "Misery" denkt Stephen King in seinem neuen Kriminalroman erneut über die eigentümliche Bewandtnis zwischen mörderischen Fans und literarischem Ruhm nach. Ende der 70er-Jahre wird eine Legende der US-amerikanischen Literatur Opfer eines Raubmords. 40 Jahre später findet ein Junge einen Koffer mit über 100 Notizbüchern des gefeierten Autors. Ein spannender Krimi und obendrein eine kluge Meditation über Autor und Öffentlichkeit, Leben und Literatur.
    Platz 5: Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen"
    (Knaus Verlag, 353 Seiten, 19,99 Euro)
    Ein starkes Buch zu einem relevanten Thema: Ein emeritierter verwitweter Altphilologe überwindet sein Phlegma, engagiert sich für Flüchtlinge in Berlin und unterzieht sein bisheriges Leben einer kritischen Revision.
    "An Grenzen verkehren sich manchmal Dinge",
    weiß die Erzählerin Jenny Erpenbeck und vermeidet souverän die Falle des Sozialkitschs. Ein berührender Roman über Orte der Zuflucht im Leben und Denken.
    Platz 4: Jonathan Franzen: "Unschuld"
    (Deutsch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Rowohlt, 830 Seiten, 26,95 Euro)
    Wie lässt sich mit moralischer Integrität im Kapitalismus leben? Sind Internet und DDR zwei Formen von Totalitarismus? Und war die DDR tatsächlich die "Republik des schlechten Geschmacks"? Jonathan Franzen stellt in seinem Roman "Unschuld" diese Fragen, erzählt wie gewohnt von dysfunktionalen Familien, diesmal aber in Ost und West, etwa vom sexsüchtigen Sohn eines ZK-Mitglieds in der DDR, von einem nachvollziehbaren Mord und von einer Frau, die vor einer Milliarde Dollar wegläuft. Ein Roman, so mitreißend und berührend wie ein Schmöker von Charles Dickens, gleichzeitig so frech wie ein Essay von Slavoj Zizek, ein Fest für alle wahren Leser und ein literarischer Triumph!
    Platz 3: Rebecca Gablé: "Der Palast der Meere"
    (Lübbe Verlag, 957 Seiten, 26 Euro)
    Zum fünften Mal widmet Rebecca Gablé der englischen Adelsfamilie Waringham einen Historienroman, inzwischen ist sie mit ihrer Familiensaga im 16 Jahrhundert zur Zeit von Königin Elisabeth und Francis Drake angelangt.
    "Nichts verwandelt Menschen in schlimmere Bestien als die Überzeugung ihrer religiösen Überlegenheit",
    erklärt ein Augenzeuge der Bartholomäus-Nacht. Auch wenn die Story um Freibeuter, Sklaverei und den Beginn des britischen Weltreichs handwerklich solide gemacht und wacker erzählt ist, wünsche ich dieser deutschen Autorin etwas vom auch formalen Wagemut einer Hilary Mantel, um aus der mitunter erstickenden Konventionalität und den Aporien des historischen Romans zu springen.
    Platz 2: Dörte Hansen: "Altes Land"
    (Knaus, 287 S, 19,99 Euro)
    Dörte Hansen besitzt ein gutes Gespür für Psychologie, das sie die bis in die Enkelgeneration nachwirkenden Traumata von Flucht und Vertreibung aufspüren lässt, sowie einen scharfen soziologischen Blick für die Milieus der "Landlust"-Abonnenten in der Stadt und der Apfelbauern und Aussteiger im Alten Land. Das reicht für eines der angenehmsten Romandebuts dieses Jahres.
    Platz 1 der aktuellen "Spiegel"-Bestsellerliste Belletristik:
    David Lagercratz nach Stig Larsson: "Verschwörung"
    (Deutsch von Ursel Allenstein, Heyne, 605 Seiten, 22,99 Euro)
    Dieser vom Vater und Bruder genehmigten Fortsetzung des mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt gestorbenen schwedischen Bestsellerautors der "Milleniums"-Trilogie Stig Larsson haftet mehr als nur ein Rüchlein literarischer Leichenfledderei an. Manche Gerichte schmecken beim Wiederaufwärmen ja besser. Der Investigationsjournalist Mikael Blomkvist und die abgründige Punkerin Lisbeth Salander sind aber literarisches Fast Food von der Sorte Pommes oder Backfisch, die man lieber kein zweites Mal vorgesetzt bekommt. Wer sich durch die 601 Seiten von "Verschwörung" quält, hat einen mittelmäßigen Schwedenkrimi um Achtjährige mit Asperger-Syndrom, Experten für Künstliche Intelligenz, Big Data und die NSA gelesen und wird die Frage "Darf man das?" mit der Frage "Braucht's das?" beantworten. Eine schöne Ironie dieser Bestsellerliste liegt darin, dass just Stephen Kings Roman "Finderlohn" auf Platz sechs jene Fragen über Autorschaft, Werktreue und der Abgeschlossenheit eines literarischen Kosmos beantwortet, die die Diskussion über diese schwache und unnötige Fortsetzung aufwirft.