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BSG Chemie Leipzig
Verein unter Verdacht

Gab es im Raum Leipzig eine kriminelle Vereinigung, die gezielt Personen aus dem politisch rechten Spektrum attackiert und beleidigt hat? Davon ging die sächsische Justiz jahrelang aus. Die Täter vermutete die Polizei im Umfeld des Leipziger Fußballvereins BSG Chemie. Doch sind die Behörden hier über das Ziel hinausgeschossen?

Von Jennifer Stange | 30.04.2017
    Fans von Chemie Leipzig bei einem Spiel gegen Bernburg.
    Fans von Chemie Leipzig bei einem Spiel gegen Bernburg. (imago sportfotodienst)
    Noch eine knappe Stunde bis zum Anpfiff im Alfred-Kunze-Sportpark. BSG Chemie Leipzig empfängt Askania Bernburg. Chemie-Anhänger Markus Schuhmann verknotet ein grünweißes Transparent am Zaun im Innenraum des Stadions und markiert damit die Kinderspielecke für die ganz kleinen Chemie Fans. Das erste Heimspiel, seit dem Bekanntwerden eines jahrelangen Lauschangriffs:
    "Ja, man macht sich schon Gedanken, man schreibt sich ja auch, man telefoniert ja auch miteinander. Ich hab ja auch viel Kontakt zu den Ultras, um die es da ja wahrscheinlich geht, bei den sogenannten Verdächtigen."
    Ermittlungen in der Fanszene
    Diese Verdächtigen vermutete die Polizei offenbar innerhalb der Fanszene des Fußballvereins BSG Chemie. Drei Jahre lang ermittelte die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen 14 Leipziger. Die mutmaßliche Gruppe sollte hinter 16 Vorfällen stecken, bei denen Personen aus dem politisch rechten Spektrum attackiert wurden. Als einer der Hauptverdächtigen geriet ein Fansozialarbeiter der Outlaws in den Fokus der Ermittlungen. Erfahren hatte er davon im November, per Brief von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden. Das teilte der Träger des Fanprojekts am Montag bei einer Pressekonferenz mit.
    Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt. Dennoch sieht Outlaws-Regionalgeschäftsführer Steffen Kröner in den Ermittlungen ein Novum bundesweit, das die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Fanprojekten, Fußballvereinen und Polizei gefährdet. Er ging an die Öffentlichkeit. Vor allem weil der Mitarbeiter aufgrund seiner professionellen Tätigkeit beobachtet und über Monate abgehört wurde. So gehe es aus den Akten hervor.
    "Es heißt dort beispielsweise, der Kollege sei Teil einer kriminellen Struktur, weil er Transportmittel für Fahrten zu Auswärtsspielen bereitstellt, weil er an Treffen von Fans teilnimmt und Räume bereitstellt und wird auch aufgeführt, weil er eine Bildungsfahrt in den sächsischen Landtag organisiert hat."
    Haltlose Verdächtigungen
    Ermittlungen und Überwachung, weil ein Mann seinen Job macht? Nach drei Jahren stellte die Generalstaatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungen gegen alle 14 Verdächtigen im November letzten Jahres ergebnislos ein. Die Verdächtigungen gegen alle Beschuldigten hatten sich als haltlos erwiesen. Zu diesem Verfahren stellten die Grünen im sächsischen Landtag eine kleine Anfrage. Die Antwort des Justizministeriums Sachsen zeigt das immense Ausmaß der Überwachung: Über 800 Namen, Adressen und Telefonnummern und über 120.000 Verbindungsdaten wurden erhoben.
    Im Visier der Ermittler damals nicht nur Fans des BSG Chemie Leipzig. Auch Spieler des Vereins, und der Vereinsvorstand. Dirk Skoruppa, ehrenamtliches Vorstandsmitglied und Sprecher:
    "Ich persönlich habe davon erfahren, weil ich eben auch selbst Post von der Staatsanwaltschaft bekommen habe, dass ich also auch mit zu dem Kreis gehört habe, wo Abhöraktionen gelaufen sind."
    "Ihre erste Reaktion?"
    "Ja schockiert, ich bin sehr schockiert gewesen, zumal es sich um einen geschäftlichen Anschluss gehandelt hat, wo ich also in meiner Firma auch sehr viele diskrete Gespräche mit meinen Kunden führe und das ist natürlich, hat sehr sehr betroffen gemacht."
    70 Leitz-Ordner dokumentieren das Ausmaß der Ermittlungen. Protokolle von Telefonaten zwischen Freunden, Familienangehörigen und Beschuldigten. Auch Gespräche mit Ärzten, Anwälten und Journalisten wurden aufgezeichnet und ausgewertet. Organigramme sollten die Verbindungen zwischen den mutmaßlichen Mitgliedern der kriminellen Vereinigung und Dritten darstellen.
    Wütende Vereinsmitglieder
    "Viele der Betroffenen, der Beschuldigten aus diesem Verfahren kannten sich, bevor dann, bevor das Verfahren eingestellt wurde, nicht, haben sich erst im Zuge dieser Einstellung kennengelernt", sagt ein Mann Ende Zwanzig mit Dreitagebart und Basecap. In der Halbzeit verkauft er auf dem Norddamm, Stammplatz der Chemie-Ultras, Fanartikel. Auch er gehört zu den Beschuldigten. Seinen Namen will er nicht nennen. Er fühlt sich zu unrecht verfolgt, ungerecht behandelt und hat sich von einem Anwalt beraten lassen.
    "Aber am Ende stellt man fest, dass man hier in Sachsen gar nichts dagegen machen kann, dass hier Grundrechte ausgehebelt werden, dass Demokratie in dem Sinne mit Füßen getreten wird und nichts bei rauskommt, während anderenorts in diesem Bundesland rechte Vereinigungen rassistische Mobs schalten und walten können wie sie wollen. Das ja, das macht mich halt wütend."
    Ein Gefühl, das wohl viele der Betroffenen teilen genauso wie die Ratlosigkeit. Vorstand Skoruppa:
    "Also wir können im Nachgang sowieso gar nichts tun. Wir können nur für eine gewisse Öffentlichkeit sorgen, dass so ein Ausmaß zu Diskussionen und auch dazu führt, dass man sich damit auseinandersetzt."
    Eine Auseinandersetzung, die noch ganz am Anfang steht. Denn viele Fans haben erst diese Woche davon erfahren, weil Betroffene sich lange nicht an die Öffentlichkeit gewagt haben. Plötzlich geht es um mehr als um Fußball. Die BSG Chemie siegte an diesem Abend mit 1:0.