Lob und Kritik der Mauer

Eine stabile Idee im Hörbild

Menschen strömen vom Westteil Berlins zum Übergang Potsdamer Platz. Nach der Maueröffnung durch die DDR wurde drei Tage später, am 12.11.1989, am Potsdamer Platz ein neuer Grenzübergang eingerichtet.
Mauern trennen Menschen, Menschen überwinden Mauern: Fall der Berliner Mauer am 12.11.1989. © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Von Florian Felix Weyh · 13.08.2018
Mauern – seit US-Präsident Donald Trumps Vorhaben, eine solche zwischen den USA und Mexiko bauen zu lassen, sind Mauern wieder im Gespräch. Doch sind Mauern immer böse? Oder können sie auch gut sein?
Mauern erzeugen Schutzräume, in denen man Vorräte einlagern kann, und Privaträume, die dem Menschen die Entwicklung von Individualität erlauben. Mauern schützen vor widriger Natur und vor Störenfrieden. Mauern schaffen Geborgenheit und vermitteln ein Sicherheitsgefühl. Mauern sind gut!
Hinter Mauern sperrt man Menschen lebenslang ein. Mit einer Mauer hinderte man ein ganzes Volk daran, frei seiner Wege zu gehen. Seit Jahrtausenden halten Mauern Menschen ab, eine Stadt, ein Land, ein Riesenreich zu betreten. Mauern sind böse!

Eine Grundlage der Zivilisation

Ohne Mauern gäbe es keine Zivilisation. Sie sind die steingewordene Idee von Obhut und Strafe, von Schutz und Abwehr. Keine Mauer ist je neutral - aber auch keine von sich aus verwerflich.
Warum bauen manche Zeitalter Mauern auf, warum reißen andere sie wieder ab? Lockt die Attraktivität der Mauer immer dann, wenn die Erinnerung an ihre Tyrannei verblasst? Die Mauer ist nicht gut. Die Mauer ist nicht böse. Die Mauer braucht Türen und Fenster, um menschenfreundlich zu sein.
Der Mauerbau in Berlin im August 1961.
"Warum bauen manche Zeitalter Mauern auf?" Bau der Berliner Mauer im August 1961.© picture alliance / dpa
Ein Streifzug durch Florian Felix Weyhs Hörbild:

Was ist eine Mauer?

Der Brockhaus erklärt in seinem Online-Lexikoneintrag:
"Mauer, althochdeutsch mura, von lateinisch murus, Bauwesen. Meist lang gestreckter Baukörper aus Mauerwerk, im weiteren Sinn auch aus Stampfmassen, aus Lehm, Beton und anderen Baustoffen hergestellte Wände."
Zwei Zeichnungen antiker Mauerbau-Arten
Darstellungen historischer Mauern in Meyers Konversationslexikon von 1897© imago/imagebroker

Politische Mauern zwischen Schutz und Eingrenzung

Lutz Rathenow, Stasi-Beauftragter des Landes Sachsen und Schriftsteller, erinnert sich: "Der Verlust der Mauer hat auch eine Verarmung zur Folge, zumindest in einem Punkt: Die Wut auf die Mauer ist abhanden gekommen. Die Wut war auch ein Motor, der das Leben – zumindest mein Leben – politisiert hat."
Menschen klettern am späten Abend des 09.11.1989 auf die Berliner Mauer am Brandenburger Tor. Am Abend des 09.11.1989 teilte SED-Politbüro Mitglied Günter Schabowski mit, daß alle DDR-Grenzen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin für DDR-Bürger geöffnet werden. Daraufhin strömten binnen weniger Stunden tausende von Ost-Berlinern in den Westteil der Stadt, wo es zu volksfestartigen Verbrüderungen zwischen Bürgern aus Ost- und Westdeutschland kam | Verwendung weltweit
"Die Wut war auch ein Motor, der das Leben politisiert hat", sagt Lutz Rathenow im Rückblick auf den Fall der Mauer.© picture alliance / dpa / Wolfgang Krumm
Walter Ulbricht, ehemaliger Vorsitzender des DDR-Staatsrates, verkündete zum Bau der Berliner Mauer: "Was kann menschlicher sein als all das, was hier geschieht und für den Menschen getan wird? So dient der 13. August wahrer Menschlichkeit."
Der israelische Schriftsteller und Publizist Rafael Seligmann denkt über die inner-israelische Grenze nach: "Diese rund 400 Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Israel und den besetzten Gebieten war offen bis vor einigen Jahren, bis zu den Intifada-Wellen. Um diesen Grenzübertritt zu verhindern, baute Israel einen Zaun, und an bestimmten Stellen wird dieser Zaun durch eine Mauer ersetzt, um den Beschuss von Straßen oder von Häusern aus den besetzten Gebieten, teilweise aus Stadtvierteln, die direkt an Jerusalem angrenzen, zu verhindern.
Ein arabischer Junge fährt im arabischen Teil in Ost-Jerusalem an der Mauer entlang, die den israelischen vom palästinensischen Teil trennt.
Ein arabischer Junge fährt im arabischen Teil in Ost-Jerusalem an der Mauer entlang, die den israelischen vom palästinensischen Teil trennt. © picture alliance / dpa / Oliver Weiken
Das Interessante an dieser innerisraelischen Grenze ist ja Folgendes: dass die Befürworter der Okkupation dieses Gebiet okkupieren wollen, und gleichzeitig – was absurd ist! – bauen sie einen Grenzzaun, weil sie Angst haben vor eventuellen Attentätern. Da stehen sich entgegen einerseits die Gier, Gebiete zu besetzen, weil man der Meinung ist, sie gehören einem, aus historischen Gründen – oder aus religiösen Gründen –, und andererseits hat man Angst konkret vor den realen Menschen."

Ohne Mauer kein Paradies

Der Kunsthistoriker und Publizist Hans von Trotha erklärt: "Das Paradies hat definitiv eine Mauer! Alle mittelalterlichen Paradiesdarstellungen sind Mauerdarstellungen. Das klassische Bild vom Paradies ist Maria im Paradiesgärtlein. Da sieht man eine zinnenbewehrte Mauer, innen ist Gras. Grasbänke, Wiesen, Tiere, Pflanzen, Heilige, die irgendwelche Instrumente spielen und Maria. Und interessant ist: Oft sehen wir hinter den Zinnen Baumwipfel! Sprich: Diese Wiese und diese Mauer sind nicht auf dem Boden, sondern irgendwo oben. Das hebt das Bild in den Himmel. Und irgendwo da im Himmel ist diese Mauer, und hinter der Mauer ist das Paradies."
Und im weiteren: "Ich glaube, dadurch dass wir Mauern errichten, provozieren wir eine Projektion! Wir provozieren, dass von der anderen Seite der Mauer das Paradies auf uns projiziert wird. Das heißt nicht, dass wir es selber so erleben. Und viele der Flüchtlinge, die gekommen sind, sind ja auch schwer enttäuscht. Wenn man aufbricht, hofft man, dass man an einen besseren Ort kommt. Also Reisen ist immer Hoffen. Und auch Fliehen ist ja eine genötigte, aber eine Form des Reisens. Und dadurch, dass ich eine Mauer errichte, steigere ich diese Hoffnung natürlich noch. Also das Unerreichbare wird natürlich immer schöner.

Trumps Mauer als Satire der Realität

Der Kriminloge Peter-Alexis Albrecht erklärt: "Trumps Idee, dass auch die Mexikaner das bezahlen, ist gar nicht so schlecht. Denn die Mexikaner sollen ja ihre Bevölkerung schützen, nach Amerika zu kommen. Das ist die Satire der Realität.
Würden die wissen, was sie im Süden Los Angeles’ erwartet, die Mexikaner, dann sind da Millionen Menschen, die in den Slums von Los Angeles kujoniert werden und die in schlimmsten Verhältnissen leben. Und daher ist der Bau dieser mexikanischen Mauer aus meiner Sicht ein Akt der Humanität."

Mauern in Trümmern

"Mauern zwischen Staaten sind im Normalfall ein Symbol der Hilflosigkeit", erklärt Rafael Seligmann. Hans von Trotha meint: "Die Mauer wird irgendwann als Relikt einer Zeit sein, in der es ein Wort gab, von dem die Leute gar nicht mehr wissen, wie man es schreibt, und das war 'Privatsphäre'."
In seinem Memoir "Unruhestifter" erinnert sich der Feuilletonist und Schriftsteller Fritz J. Raddatz an eine Begegnung mit Elias Canetti: Er "erklärte mir, wie sehr auch ein Haus Individualität besitze, sie gar erzeuge als Wehr gegen das Außen, gegen die als Feinde empfundenen anderen, dass schon eingeschlagene Türen und Fenster diese mühsam errichtete Abgrenzung zunichte machen; wenn das Abgrenzende zerstört ist, sei eine empfindliche Grenze verletzt."
Elias Canetti in Zürich 1977
"Zerstörung des Abgrenzenden": Der Schriftsteller Elias Canetti in einer Aufnahme von 1977.© Museum Strauhof Zürich; © Bildarchiv Elias Canetti Erben durch Carl Hanser Verlag, München
Und Rafael Seligmann glaubt: "Die Menschen gelangen am Ende dorthin, wo sie hingelangen wollen. Sie müssen genug Geduld aufweisen, genug Energie, genug Gewalt, aber eine Mauer ist auf Dauer kein Konzept. Jede Mauer wird scheitern."
Denn: "Mauern zwischen Staaten sind im Normalfall ein Symbol der Hilflosigkeit."

(Eine Wiederholung vom 20. März 2017. Die ganze Sendung als PDF- und als TXT-Dokument.)
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