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Berlin
Abitur am Campus Rütli

Rütli-Schule! 2006 stand dieser Name für eine gescheiterte Bildungs- und Integrationspolitik. Heute ist aus der bekanntesten Problemschule der Republik ein Vorzeigeprojekt geworden: das Campus Rütli. Der erste Jahrgang nach der Katastrophe macht nun das Abitur.

Von Kemal Hür | 02.07.2014
    Klaus Wowereit steht in einem Klassenzimmer und schüttelt die Hand eines dunkelhaarigen Schülers.
    Bild aus Problemzeiten: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD, 2.v.r.) begrüßt Schüler der Berliner Rütli-Schule im Jahr 2010 (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    "Alles richtig gemacht. War's schwer? – Hmm, bisschen."
    16 Grundschulkinder sitzen in einer Klasse in Vierergruppen. Statt Buntstifte und Hefte haben sie verschiedene Obstsorten vor sich auf den Tischen. Sie riechen mit verbundenen Augen an dem geschnitten Obst und versuchen es zu erkennen. Eine andere Gruppe versucht es durch Ertasten unter einem Tuch: Ananas, Orangen, Äpfel, Papaya... Vor acht Jahren hätten Medien berichtet, dass Rütli-Schüler damit nach Lehrern werfen. Heute herrscht hier ein anderes Klima, freut sich die Schulleiterin Cordula Heckmann, die eine große Gruppe von Journalisten durch den Campus Rütli führt.
    "Ich freue mich sehr. Ich bin sehr dankbar. Ich freue mich sehr. Und ganz bisschen bin ich auch stolz."
    Alle 23 Schüler haben das Abitur bestanden
    Stolz besonders darauf, dass 23 Schüler das Abitur bestanden haben. Das sind die ersten Schüler, die nach dem Brandbrief von vor acht Jahren auf die Sekundarstufe gekommen sind. Rückblick: Anfang 2006 schreiben die Lehrer und die damalige Leiterin der Rütli-Hauptschule einen Brief an die Schulbehörde. Der Brief ist eine Kapitulation. Darin beklagt sich das Kollegium über Gewalt und unlösbare Probleme mit den Schülern. Wochenlang berichten Medien darüber. Der Name Rütli wird zum Synonym für eine gescheiterte Schule. So sprechen damals die Schüler in die Mikrofone und Kameras:
    "Wir sind hier aus Neukölln. Wir ficken jeden, im Gegensatz zu dir. Keiner legt sich an mit uns."
    "Die Schüler finden's auch cool, aggressiv zu sein. Die finden das gut, und die streiten sich dann, die schlagen sich dann. Wer der Stärkere ist, der ist der beste Junge."
    "Die Schüler selber werfen mit Stifte rum, machen alles kaputt in der Klasse."
    Verhaltensauffällige Schüler, an die sich die Lehrerin Hilde Holtmanns gut erinnert.
    "Die Schüler sind immer noch da."
    Heute habe sie aber andere Möglichkeiten, die Probleme anzugehen, sagt Holtmanns, die vor acht Jahren an dem Hilferuf der Schule beteiligt war.
    "Ich habe heute die Möglichkeit, die Eltern anders einzubeziehen. Ich setze die Sozialpädagogen ein. Die Sprachbarriere ist nicht mehr da. Da spricht der türkische oder arabische Sozialpädagoge mit den Eltern."
    Die Rütli-Schule von 2006 ist Geschichte
    Die Rütli-Schule von 2006 gibt es nicht mehr. Auf dem Campus Rütli haben sich die damalige Hauptschule und die Realschule sowie eine benachbarte Grundschule zu einer Gemeinschaftsschule zusammengeschlossen. Auf dem Areal befinden sich außerdem Kindertagesstätten, ein Jugendfreizeitheim, Spielplätze, eine Sporthalle und eine Galerie. In Planung sind auch Werkstätten, Gebäude für Beratungsdienste, ein Elternzentrum und ein weiteres Schulgebäude. Der komplette Umbau soll 32 Millionen Euro kosten. Das Geld kommt von Stiftungen, dem Berliner Senat, dem Bezirksamt Neukölln und privaten Spendern. Geld allein führt aber nicht zum Erfolg, sagt Christina Rau, Schirmherrin des Campus Rütli.
    "Das Erfolgsrezept ist, dass vor Ort wirklich alle Institutionen, die sich für Bildung engagieren und für Bildung verantwortlich sind, dass die gemeinsam gehandelt haben."
    Nach dem Motto „Kein Kind, kein Jugendlicher darf verloren gehen", arbeiten Erzieher, Lehrer, Eltern, Sozialpädagogen, Schulpsychologen und politisch Verantwortliche von der Kinderkrippe bis zum Mittleren Schulabschluss oder Abitur zusammen. In einer sogenannten pädagogischen Werkstatt entwickeln sie gemeinsame Ideen. Musikalische und sportliche Zusatzangebote bieten den 900 Schülern über den Ganztagsbetrieb hinaus weitere Anreize. Die 20-jährige Rozan, deren Eltern aus dem Libanon stammen, war schon 2006 an der Rütli-Schule. Jetzt gehört sie zu den ersten Abiturienten. Die Veränderungen hat sie bewusst wahrgenommen.
    "Jetzt haben wir ja auch Elterncafé. Und die Sozialarbeiter versuchen auch viel mit den Eltern in Kontakt zu treten, die Lehrer auch. Und das ist für mich persönlich ganz besonders wichtig, dass man auch Unterstützung von außerhalb kriegt."
    Die Abiturientin Adriana hat eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Sie findet es gut, dass es an der Schule jetzt auch Lehrer mit Migrationshintergrund gibt – zumal der Anteil der Schüler aus Einwandererfamilien knapp 85 Prozent beträgt.
    "Falls es mal Probleme geben sollte, die ausländischen Lehrer, die wissen manchmal einfach besser mit den Schülern und mit den Problemen umzugehen. Die kennen dann schon das Temperament der Schüler. Und dann können sie mit den Situationen besser umgehen."
    Rozan und Adriana wollen beide Lehrerinnen werden. Wenn sie am Freitag ihre Abiturzeugnisse bekommen, wollen sie sich gleich um Studiumplätze bewerben. Daran hätte 2006 kein Schüler geglaubt, sagt die Lehrerin Hilde Holtmanns.
    "Man kann ihnen vermitteln, eine gute Schulbildung ist ein Weg in die Zukunft. Das hat ein Schüler vor acht Jahren niemals gesagt. Keiner sprach vom Studium."