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Sergej Lebedew: "Das perfekte Gift"
Toxische Existenzen

Der in Moskau geborene Schriftsteller Alexander Lebedew attestierte seinem Land im Jahr 2018, es sei "krank vor Angst". Etwas von dieser Atmosphäre der Panik und Paranoia hat Lebedew nun auch in seinen neuen Roman hineingetragen. "Das perfekte Gift" ist nur an der Oberfläche ein Agententhriller.

Von Christoph Schröder | 02.07.2021
Buchcover Sergej Lebedew: Das perfekte Gift und im Hintergrund Vladimir Putin bei einem Krankenbesuch
In Lebedews Gegenwartsroman fordert ein chemischer Kampfstoff seine Opfer (Buchcover S. Fischer Verlag / Hintergrund (Photo ITAR-TASS/ Alexei Nikolsky))
Ein Mann läuft durch eine Stadt, in der er sich seit drei Jahrzehnten versteckt. Sein Gesicht ist umoperiert, seine Identität und seine Biografie haben Spezialisten für ihn neu erfunden. Wyrin heißt der Mann, und er ist vom Jäger zum Gejagten geworden. Als Offizier des KGB, des russischen Geheimdienstes, ist Wyrin in den Westen übergelaufen. Nun lebt er, trotz seiner vermeintlich perfekten Tarnung, in ständiger Angst. Zurecht, wie sich zeigen wird, denn am Ende seines Spazierganges, der ihn zum Essen in einen Landgasthof führt, wird Wyrin auf raffinierte Weise ermordet werden; aufgespürt von den Killern, die die Spur des Verräters verfolgt hatten. Zuvor hatte Wyrin sich im Gehen Gedanken über sein früheres Dasein im Dienst der Sowjetunion gemacht:
"Jetzt – ein Leben später, in einem freien Land – kam es ihm so vor, als hätte er damals einen paranoiden Roman ohne Autor gelesen, den Text aller Texte, geschrieben von einer irren, staatlichen Gedächtnismaschine. Ein Roman mit dem Anspruch, das Leben weitest möglich zu erfassen und eine polizeiliche Kopie davon zu erstellen."
Sergej Lebedews spektakuläre Eröffnung, der als Wespenstich getarnte Rachemord an einem Überläufer, hätte jeder konventionellen Agentenstory gut zu Gesicht gestanden. Doch "Das perfekte Gift" ist kein Thriller, obschon der Roman alle Zutaten dafür enthält. Doch wie schon Wyrins Reflexionen nahelegen, geht es Lebedew unter seiner durchaus rasant gestalteten Plot-Oberfläche um mehr als eine Genreerzählung: Ihn interessieren die Verstellungen, die Täuschungen und Tarnungen im Großen wie im Kleinen, die eine Tätigkeit im Geheimen erfordert. Die irreparablen Deformationen in einer von der Staatsmacht geschriebenen Biografie.
Dabei greift Lebedew historisch weit aus, bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und bis in die Epoche des Nachkriegsstalinismus hinein. Lebedew führt in abwechselnden Kapiteln zwei Menschen geradezu unausweichlich aufeinander zu: Der eine ist Kalitin, ein Biologe und Chemiker, der in einem Forschungslabor auf einer von der Öffentlichkeit abgeschotteten Insel zu Sowjetzeiten einen chemischen Kampfstoff entwickelt hat. Jenes perfekte Gift, das dem Roman seinen Namen gibt, tötet binnen weniger Sekunden und verflüchtigt sich anschließend. Bei der Erprobung des Kampfstoffs, der den Tarnnamen "Debütant" trägt, ist Kalitins Ehefrau seinerzeit ums Leben gekommen:
"Eine winzige Menge der Substanz geriet in den Schutzanzug. Wenige Moleküle, könnte man sagen. Doch es war der Debütant, der wahre Debütant. Der Debütant tötete Vera augenblicklich. Es war das Erste, was er tat, als er auf die Welt kam. Er holte sich den Preis für seine Geburt."

Faszination für das Machbare

Dass Vera selbst vom KGB als Spitzel auf ihren eigenen Mann angesetzt war, ist eine weitere bittere Pointe. Lebedew zeichnet Kalitin als einen von der Faszination der Machbarkeit beseelten Mann, dem die Maßstäbe verloren gegangen sind. Mit dem Zerfall des Sowjetreiches läuft Kalitin in den Westen über und taucht in einem ostdeutschen Dorf unter, im Gepäck einen Flakon, der eine ansehnliche Menge des Debütanten enthält. Nun, in der Gegenwart, reisen zwei KGB-Agenten auf verschlungenen Wegen nach Ostdeutschland, um Kalitin zu eliminieren. Einer von ihnen, Oberstleutnant Scherschnjow, ist die zweite Hauptfigur des Romans. Ein brutaler Folterknecht, in dem sich eine perverse Lust an der Gewalt mit äußerlicher Ungerührtheit paart und dem das professionelle Töten zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Von seinem Sohn Maxim wird Scherschnjow dazu überredet, an Maxims Geburtstag an einem Paintball-Duell auf offenem Gelände teilzunehmen. Hier zeigt sich, dass bei Scherschnjow der Killerinstinkt auch im privaten Kontext nicht mehr auszuschalten ist:
"Maxim, der auf den Rücken gefallen und voller Kunstblut war, stöhnte und versuchte wegzukriechen, stieß sich dabei mit den Füßen vom rutschigen Linoleum ab. Das Das Visier des Helms war von innen nur wenig mit Farbe bespritzt. Von dort schauten Scherschnjow Augen an, die verrückt waren vor Angst und Schmerz."

Bedrohlich aufgeladene Atmosphäre

Kalitin, der desertierte Forscher, ist mit Sicherheit die tiefere und komplexere der beiden Figuren. An seiner Biografie entlang illustriert Lebedew sowjetische Wissenschaftsgeschichte von der Stalinzeit bis in die Gegenwart. Zugleich ist Kalitin ein einsamer Mensch, der, um den Romantitel auch ins Symbolische zu wenden, das in ihn eingesickerte ideologische Gift bis in die Gegenwart nicht losgeworden ist.
"Das perfekte Gift" ist ein spannender und lehrreicher Roman, der durch seine bedrohlich aufgeladene Atmosphäre überzeugt, auch wenn Lebedew ab und an seine existentialistisch dräuenden Reflexionen über das Böse allzu sehr ins Raunen entgleiten. Dafür wird man entschädigt mit eindrücklichen Szenen wie beispielsweise jener, in der eine Horde kontaminierter Affen aus einem unterirdischen Forschungslabor flieht, und mit starken Nebenfiguren wie jener des ostdeutschen, über Jahrzehnte hinweg von der Stasi bespitzelten Landpfarrers.
Dass Lebedew keinen historischen, sondern einen Gegenwartsroman geschrieben hat, liegt auf der Hand. Man denke nur an Namen wie Alexander Litwinenko, Sergej Skripal oder zuletzt Alexej Nawalny.
Die Qualität von "Das perfekte Gift" geht weit über seinen dokumentarischen Wert hinaus. Zwar endet der Roman in einem klassischen Showdown. Der allerdings verweist auf eine tiefere Einsicht: Wenn die eigene Existenz in einem kaum mehr erträglichen Maß toxisch geworden ist, kann der Tod tatsächlich eine Erlösung sein.
Sergej Lebedew: "Das perfekte Gift"
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
256 Seiten, 22 Euro.