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Berlin
Hauptstadt der Schulschwänzer

In Berlin schwänzen die Schüler so viel wie nirgendwo anders in Deutschland. Manche von ihnen sogar mehrere Wochen pro Schulhalbjahr. Die zuständigen Behörden gehen mit den Verweigerern höchst unterschiedlich um.

Von Daniela Siebert | 30.01.2017
    Schüler auf dem Weg in ein Geschäfts- und Bürohaus.
    Schüler schwänzen aus unterschiedlichen Gründen, manchmal aus Langeweile, manchmal aufgrund von Leistungsdruck. (dpa)
    Ein Einkaufszentrum in Berlin-Mitte. An Orten wie diesen halten sich Schulschwänzer gerne auf, besonders jetzt im Winter. Es ist 11 Uhr vormittags, ein Junge, vielleicht 14 Jahre alt, schaut sich Tiere in einem Aquarium an. Ich spreche ihn an, ob er jetzt nicht eigentlich in der Schule sein müsste?
    "Nein, unsere Lehrerin ist krank, und deswegen haben sie gesagt: Meine Klasse hat keine Schule."
    Trotzdem erweist sich mein Verdacht als richtig: Mit Schuleschwänzen kennt er sich aus: "Wenn ich schwänze, sie rufen gleich die Eltern an. Geht nicht."
    Ein paar Minuten später, eine andere Etage: zwei Jungs mit Basecap, vielleicht achte Klasse.
    Warum er schwänzt? Zu viel Druck
    "Ich gehe schon zur Schule, aber manche Stunden schwänze ich, vor einer Woche hat meine Schule meine Mutter angerufen und Bescheid gesagt, dass ich sehr viele Stunden geschwänzt hab – und was ist dann passiert? Na ich habe Ärger bekommen, ich habe meiner Mutter erklärt warum und dass ich das nicht mehr machen werde."
    Warum er schwänzt? Zu viel Druck sagt er, seine Mutter wolle immer, dass er im Unterricht der Beste sei.
    Das ist ein typisches Motiv, warum Jugendliche teilweise ausgiebig Schule schwänzen berichtet Brita Feustel. Sie ist Straßensozialarbeiterin beim Verein Gangway in Neukölln und hat oft mit betroffenen Jugendlichen zu tun.
    "Ganz oft ist Mobbing im Spiel, und Schule an sich ist auch ein System für viele Jugendliche, was auf Abwertung oder auf Leistung basiert, die sie nicht bringen können, ganz oft sind es Probleme, die sie nicht alleine lösen können, werden damit alleine gelassen und nehmen dann den Weg, dass sie sagen: Das macht keinen Sinn mehr, ich gehe."
    Auch Kathrin Wurth, Lehrerin an einer Oberschule in Wedding erlebt Leistungsdruck als häufigen Grund fürs Schwänzen. Außerdem: "Meine Beobachtung ist, dass ganz oft die Schüler in einer persönliche Krise sind. Probleme im Elternhaus, die Eltern haben sich getrennt, zum Teil leben die Kinder in Wohngruppen, das ist so der eine Bereich, der andere Bereich ist, dass Schüler keine Perspektive mehr sehen, also hoffnungslos überfordert sind."
    Der Bezirk Neukölln verhängt besonders oft Bußgelder
    Die Schulämter in den verschiedenen Berliner Bezirken ahnden das Schwänzen sehr unterschiedlich. Sie haben die Wahl zwischen verschiedenen Optionen. Elternansprache, Bußgelder, Zuführung zum Unterricht durch die Polizei.
    Der Bezirk Neukölln verhängt besonders oft Bußgelder. Laut Statistik über 500 mal im letzten Schuljahr. Das ist gut so, sagt Schulstadtrat Jan-Christopher Rämer von der SPD.
    "Weil wir überzeugt davon sind, dass die Schulpflicht nicht nur eine Angebotsstruktur des Staates ist, sondern dass das etwas ist, dem nachgekommen werden muss. Das fordern wir dann auch ein, auch gegenüber den Erziehungsberechtigten und wir haben leider auch viele Eltern, die desinteressiert gegenüber ihren Kindern sind, und der Weg über das Portemonnaie ist für uns eine Variante, wie wir uns bemerkbar machen. Das klappt ja immerhin so, dass wir nicht mehr Platz 1 in der Statistik haben."
    Den hat nun der Bezirk Mitte. Dort wurden monatelang überhaupt keine Bußgelder fürs Schwänzen verhängt. Die Leitung des Schulamtes ist nicht besetzt, auch sonst scheinen personelle Ressourcen ein Kernproblem zu sein. Schriftlich teilt man uns mit, man würde gerne mehr mit den Eltern und den jungen Menschen zusammenarbeiten. Aber:
    "Dazu bedarf es ausreichend Personals in Schule und Jugendamt, das auf diese fachlichen Anforderungen reagieren kann; aktuell fehlt es aber an Personal, sodass es ein Umsetzungsproblem bei den vereinbarten Verfahren gibt."
    Kleinklassen als Mittel gegen hartnäckiges Schwänzen
    Die Straßensozialarbeiterin Brita Feustel hält persönliche Zuwendung für den Königsweg, um Langzeitschwänzer wieder in die Schule zu holen, sie bräuchten individuelle Hilfe und müssten Vertrauen aufbauen. Lehrerin Katrin Wurth wünscht sich mehr Druck auf die Eltern damit die verantwortlich handeln und für die Lehrer einfacheres Zusammenarbeiten mit Jugendämtern und Psychologen. Schulstadtrat Rämer hofft auf eine Koordinierungsstelle "Schuldistanz", die die verantwortlichen Akteure verzahnt.
    Im Koalitionsvertrag der neuen Berliner Landesregierung wird jedenfalls die Einführung von Kleinklassen außerhalb des Schulbetriebes angekündigt, um hartnäckiges Schwänzen zu kurieren, außerdem soll es mehr Jugendhilfemaßnahmen geben. Doch Papier ist geduldig: Die Jugendlichen merken davon noch nichts, die beiden Jungs aus dem Einkaufszentrum verweisen auf eine Mitschülerin.
    "Sie kommt manchmal so mehrere Wochen nicht zur Schule, die hat einfach keinen Bock. Ich glaube nicht, dass da irgendjemand was macht."