Freitag, 29. März 2024

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Berlin, Kabbala

"Ich bin mathematisch eine Null - ich kann Mathe nicht. Ich schreibe auch nicht mit mathematischer Präzision. Ich schreibe nie so, wie andere Leute immer erzählen, daß man schreiben sollte, nämlich daß man sich genaue Pläne darüber macht, was man wie wann wo erzählen will, und dann fängt man irgendwann an. Meine sehr geschätzte Kollegin Patricia Highsmith machte das zum Beispiel immer so. Für die war das Schreiben immer sehr kurz. Weil sie alles im Kopf schon vorher genaustens mathematisch präzis konstruiert hatte. Das kann ich nicht, ich bin völlig unfähig dazu. Insofern ist es also auch ein bißchen selbstironisch, daß ausgerechnet ich mit Zahlen operiere."

Florian Felix Weyh | 01.01.1980
    Voilá - ein Geständnis. Die Lady of Crime, Pieke Biermann, gibt zu, sich deliktisch an Zahlen vergangen zu haben. Eine "Kabbala" nämlich ist ihr neuer Erzählungsband, eine Geheimlehre aus Zahlen, in der jeder Nummer eine Bedeutung zukommt. Wer das Inhaltsverzeichnis aufschlägt, staunt zunächst nicht schlecht. Titel haben die Geschichten nicht, stattdessen bedecken seltsame Codes das Papier. 3'21" etwa, 7'62, 7", 16.50 ... und so weiter. "Guter Werbegag" honoriert man diese Verlagspolitik, denn so recht mag man nicht glauben, daß eine Wortarbeiterin par excellence sich freiwillig aufs glatte Parkett der Mathematik begibt. Doch gemach! Niemand hat Pieke Biermann zu ihren kabbalistischen Kunststückchen gezwungen, am wenigsten der Verlag. Pieke Biermann ist keine Autorin, die sich zu etwas zwingen läßt:

    "Die Geschichten hatten schon immer Zahlen als Titel, von der ersten Geschichte an. Die ist ja von 1991. Diese Geschichten sind in einem Zeitraum von sieben Jahren entstanden. Schon wieder so eine Zahl. Zum Beispiel die Geschichte "3'21", das wußte ich von Anfang an, daß die so heißen wird, und als ich sie geschrieben habe, hatte ich vor, eine Serie daraus zu machen von sieben Geschichten, die alle Zahlentitel haben. Ich hab auch jetzt noch eine ganze Kolonne mit möglichen Zahlentiteln. Es ist ja erstaunlich, wie viele Sachen in unserem täglichen Leben mit Zahlen verschlüsselt oder verkürzt werden. Kucken Sie nur mal Kleinanzeigen an, wenn Leute sich gegenseitig suchen, dann geben die ihre Körpermaße an. Frauen geben oben, Mitte und unten, glaube ich, irgendwelche Breiten an ... Ich bin da nicht ganz genau informiert, aber ... Und Alterszahlen. In der Boulevardpresse steht hinter dem Namen von jemand immer ‘Klammer auf, fünfundvierzig, Klammer zu’. Es ist ganz witzig, wenn man mal so einen Blick dafür hat, findet man überall Zahlen, und die haben Bedeutung, da operieren wir dauernd damit."

    Und so hat der Leser zunächst eine Nuß zu knacken: 3'21"? Wir Rundfunkleute tun uns damit leicht - es ist die Dauer einer O-Ton-Aufnahme. Bei 7'62 wissen die Krimispezialisten Bescheid - klar, ein tödliches Kaliber, gemessen in Millimetern. 16.50 bereitet den strickenden alten Damen unter uns wenig Kopfzerbrechen, denn da war doch mal Miss Marple, die um 16.50 Uhr ab Paddington Station aufbrach. Bei Pieke Biermann geht der Zug allerdings ab Berlin-Lichtenberg, nämlich nach Moskau, und ob Miss Marple sich zwischen den Kurieren der russischen Mafia wohlfühlen würde, sei dahingestellt. Die Welt hinter den Zahlen ist die altvertraute: ein Milieu. Kein blutrünstiges, sondern ein vertrackt illegales, ein Grauzonen- und Grenzüberschreitungsmilieu, in dem kleine Schiebereien und große Mordgelüste an der Tagesordnung sind. Letztere bleiben freilich oft im Kopf stecken, etwa der perfekte Mord an einem nervtötenden Nachbarn. Wichtigste Regel: keine Publizität. Denn: "Was in der Zeitung steht, ist schon Pfusch."

    "Der Satz ‘Was in der Zeitung steht, ist schon Pfusch’ steht ja in einem bestimmten Zusammenhang", erklärt Pieke Biermann. "Das denkt sich eine Person, von der man die ganze Zeit lang das Gefühl vermittelt kriegt, die ist drauf und dran, zur Killerin, zur Rächerin zu werden, weil sie sich über irgendwas fürchterlich ärgert und zur Waffe greifen möchte. Und das, worüber sie sich ärgert, ist Pfusch. Alle Leute pfuschen, und sie hat darunter zu leiden. ... Der Typ, den sie als erstes umbringen will, der ist nämlich auch ein Pfuscher obendrein. Deswegen verachtet sie ihn auch. Deswegen steht so was wie der in der Zeitung. Sie will natürlich nicht in die Zeitung, weil sie will ja nicht auffliegen. Sie will das perfekte Verbrechen begehen. Also ist das, worüber geredet wird, was auffällt, was irgendwie Fragen hinterläßt und dann gar noch in der Zeitung steht, das gescheiterte Verbrechen."

    Die Heldinnen in Pieke Biermanns Erzählungen haben gegenüber Männern einen gravierenden Nachteil: Sie denken zuviel. Denken ist der Feind der Tat, vor allem der illegalen. Wer denkt, kommt früher oder später zum Ergebnis, daß Aufwand und Ertrag in keinem vernünftigen Verhältnis stehen. Besser ist: Erst schießen - dann denken. In 7'62, dem inneren Monolog einer Polizeischarfschützin, fällt beides zusammen, Denken und Schießen. Das ist nicht minder ungewöhnlich als die Frau selbst.

    "Ich kenne keine Polizeischarfschützin persönlich", so Biermann."Ich weiß aber, es gibt welche. Und ich habe mir diese Figur damals - das ist, glaube ich, ‘91 oder ‘92 gewesen - im Prinzip ausgedacht, aber auf der Basis dessen, was ich weiß. Einerseits von Polizisten in solchen Einheiten, andererseits natürlich von Frauen in solchen Positionen, wo sie nun überhaupt nicht gerne gesehen sind und noch sozusagen Pionierleistung machen müssen. Frauen in militärischen Abteilungen, wo's um Waffen oder gar Flugzeuge oder so geht, sind vergleichbar. ... Ich kenne das Dilemma von so einer Frau natürlich, wenn auch aus anderen Ecken. Und ich hab mich dann kundig gemacht über die Sachen, die mir gefehlt haben. Zum Beispiel: Ich hatte keine Ahnung von Waffen, woher auch?"

    Also fängt die Autorin an herumzutelefonieren, denn das gesprochene Wort wiegt im Leben schwerer als das geschriebene, und im geschriebenen Wort hört man bei Pieke Biermann den oralen Ursprung deutlich durchklingen. Zu Recherchen besucht sie lieber ein gerichtsmedizinisches Institut als eine Bibliothek. Bei den Berliner Forensikern, von denen sie Details über Schußwunden erfahren will, bekommt sie zu hören: "Mit Schußwunden haben wir keine Erfahrung." Nanu? Mitten in der Großstadt? "Aber die Information, daß es in Berlin zu dem Zeitpunkt - Westberlin - eigentlich noch Schußwaffenwissen kaum gab in der Rechtsmedizin, ist wieder hochgradig interessant", erläutert Pieke Biermann. "Es gab ja kaum Schußwaffen, Waffengebrauch war absolut verboten. Wir haben in Deutschland immer noch die schärfsten Gesetze, verglichen mit Europa, was Handfeuerwaffen betrifft, und Westberlin war davon noch viel freier. ... Vorher hatten wir ein paar Jagdschützen und Sportschützen in ihren Vereinen, die hatten ihre legalen Waffen, und da passierte im Prinzip auch nicht viel. Also wenn früher hier jemand tatsächlich erschossen wurde, dann war das eine ungeheure Ausnahme und auch deswegen relativ schnell zu ermitteln, weil die Waffen ziemlich bekannt waren."

    So streift man en passant noch eine Randglosse des Kalten Krieges und wird daran erinnert, daß Berlin ein besonderes Pflaster ist. Der Doyen der Schußwundenforschung sitzt in Bonn - Rückschlüsse kann jeder selbst ziehen. Daß es in Berlin vierzig Jahre lang ruhiger gewesen sei, weil nicht ständig Schüsse durch die Luft peitschten, wäre indes eine Fehlannahme. Es ist laut in der Metropole, hektisch, kreischend, ohrbetäubend. In Pieke Biermanns "Berlin, Kabbala" legt sich der Großstadtlärm als akustisches Muster über und unter den Text. Der Leser muß hören können, manchmal sogar mitsprechen, um Dialekten und Soziolekten einen Sinn abzugewinnen. Biermann über die Wurzeln ihres Sprachgefühls: "Meine Schwiegermutter ist Pfälzerin, was garantiert, daß das Mammele in einer Geschichte wirklich original Pfälzerisch spricht. Die Dialogstückchen, die das Mammele sagt, sind O-Ton, absoluter O-Ton, auch in der Konstruktion von verrücktem Witz. Die war so, und wir haben uns alle herzlich amüsiert und sie sich mit ... Ich kann eine ganze Menge Dialekte und vermutlich auch eine ganze Menge Soziolekte, weil ich mich ja in allen möglichen Ecken rumgetrieben habe. Ich bin ja nicht mehr zwanzig, sondern siebenundvierzig, da kriegt man schon was mit."

    Originalton lautet das Stichwort, und schon nach wenigen Seiten kommt einem "Berlin, Kabbala" atmosphärisch wie ein berühmter Klassiker des O-Tons vor: Döblins "Berlin Alexanderplatz". Hoch über dem Olivaer Platz in der Nähe des Kudamms thront die Autorin am Fenster und lauscht der Stadt ihre Geschichten ab. Wie wär's mit "Berlin Olivaer Platz" als Alternativtitel? "Das klingt sehr plausibel, aber erstens sind nicht alle, sondern nur manche der Geschichten am Olivaer Platz angesiedelt. Bei anderen bleibt das offen, wo die spielen, oder sie haben mehrere Orte. Insofern wäre "Berlin, Olivaer Platz" schon wieder irreführend. Das fände ich jetzt wieder gemein, dem Leser gegenüber. Ich führe ja gerne in die Irre, aber nur, wenn Leser auch was dafür kriegen. Das würde ich also als Etikettenschwindel empfinden. Zweitens: Ich sitze nicht mit einem DAT oder irgendeinem anderen Rekorder da, sondern mit meinen verdammten zwei Ohren und zwei Doppelfenstern, beziehungsweise drei Doppelfenstern, da wo ich arbeite, habe ich so eine Art Kanzel, so einen Erker mit drei Fenstern. Die sind eben verdoppelfenstert, aber ich höre trotzdem alles mögliche. Das geht in meine Ohren rein, und wahrscheinlich ist mein Hirn so eine Art Speicherplatz, wo sich irgendwie was aussortiert, was dann hängenbleibt, nach unten sinkt und dann irgendwann wieder hochkommt. Ich glaube, der kleinere Teil fliegt irgendwann wieder raus, ohne daß ich's merke. Aber ich registrier halt viel." Wach muß er sein, der ideale Leser der Biermannschen Prosa. Dann nämlich entfaltet sich der ganze Witz, die vielen kleinen subtilen Anspielungen und Gemeinheiten, der zeithistorische Kontext, die ironischen Kommentare. In die Kategorie "Einschlafhilfe" gehören die sieben ausnahmslos bösartig-brillanten Kriminalerzählungen gewiß nicht. Und obendrein vertiefen sie die humanistische Bildung - auf Pieke-Biermann-Art, versteht sich: "Ossi ossini Lopez est ist einfach eine Parodie auf ‘homo homini lupus est’. Ich hatte auch schon mal eine andere Variante, ich glaube in irgendeinem Roman kommt die vor, die heißt: Femina feminam lupara est. Wissen Sie, was eine Lupara ist? Das ist die abgesägte Schrotflinte, mit der die alte, traditionelle sizilianische Mafia ihre Gegner umgebracht hat."

    Link: Eine Kritik zu Pieke Biermanns "Vier,fünf,sechs"