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Berlin-Kreuzberg
Vom Flüchtling zur Quartiersmanagerin

Wafaa Khattab stammt aus einer palästinensischen Familie. Ihre Eltern flohen 1977 mit ihren Kindern vor dem Bürgerkrieg im Libanon. Heute arbeitet die junge Palästinenserin als Quartiersmanagerin in Berlin-Kreuzberg. Ihre Familie teilt das Schicksal vieler Syrer und Iraker von heute und ist ein Vorbild für den Erfolg von Flüchtlingen in Deutschland.

Von Benjamin Dierks | 10.12.2015
    Fußgänger gehen durch Berlin-Kreuzberg
    Mit ihrer Tour durch Kreuzberg will Wafaa Khattab Vorbehalte abbauen, denen sich auch Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak ausgesetzt sehen. (picture alliance / dpa / Hubert Link)
    "And action! The sister of the bride is giving her one golden necklace."
    Eine arabische Hochzeit auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Das Brautpaar steht vor der Traugemeinde und nimmt seine Geschenke entgegen. Der eigens engagierte Moderator verkündet diese einzeln über ein Mikrofon, damit jeder Hochzeitsgast auch mitbekommt, wer was und wie viel schenkt. Gerade hat die Schwester der Braut ein goldenes Halsband überreicht. Die Cousine hat es nicht ganz so üppig, macht aber immerhin 50 Euro locker:
    "The cousin of the bride is giving her 50 Euros."
    Hier findet keine tatsächliche Hochzeit statt. Das Brautpaar und die Gäste werden gespielt von Studenten aus Texas, die zu Besuch sind in Berlin. Regie führt bei dieser kleinen improvisierten Aufführung Intissar Nassar. Die aus dem Libanon stammende Kreuzbergerin führt die Amerikaner durch ihren Kiez, durch Kreuzberg, und will ihnen dabei auch einige Bräuche der türkischen und arabischen Einwanderer näher bringen, die in diesem Viertel leben.
    "OK, if you don't have any questions we move on to the next stop."
    Vorurteile abbauen
    "Kreuzbergtag" nennen Intissar Nassar und ihre Mitstreiterinnen die Tour. Seit nunmehr 15 Jahren wollen sie damit Vorurteile abbauen und Besuchern den berüchtigten Bezirk, seine Bewohner und auch das eigene Leben näher bringen:
    "Wenn man gesagt hat, dass man aus Kreuzberg kam, dann war das, ja, nicht Armutszeugnis, aber man musste erst einmal zeigen, dass es nicht so schlimm ist, wie man denkt."
    Erst wollten sie vor allem Jugendliche aus Brandenburg nach Kreuzberg holen, bei denen sie besonders viele Vorurteile beobachteten:
    "Die ersten Gruppen waren schon ziemlich anspruchsvoll, da musste man ganz schön viel Überzeugungsarbeit leisten. Das war nicht einfach."
    Heute kommen auch internationale Besucher. Viele der Veranstalterinnen stammen wie Intissar Nassar nicht aus Deutschland und haben in Kreuzberg ihre Heimat gefunden. Von außerhalb aber rümpften noch viele über das Viertel und seine ausländischen Bewohner die Nase.
    "Man merkt schon, dass die sich hier nicht wohlfühlen, das ist halt nicht ihr Territorium."
    Intissar und die anderen sind davon überzeugt, dass ihre Arbeit heute, da wieder viele Menschen nach Deutschland einwandern, nötiger ist denn je. Wenn man nur die Menschen und ihre Geschichte kennenlernt, dann muss das Fremde doch seinen Schrecken verlieren, sagen sie.
    Paradebeispiel für den Erfolg von Flüchtlingen in Deutschland
    Intissar stammt aus einer palästinensischen Familie. Ihre Eltern flohen 1977 mit ihr und zwei Schwestern vor dem Bürgerkrieg im Libanon. Ein ganz ähnliches Schicksal wie das vieler Syrer und Iraker heute. Auch wenn der Weg damals weniger beschwerlich war. Sie kamen mit dem Flugzeug und nicht per Schlauchboot übers Meer. Nach der Ankunft in Berlin kam Intissars dritte Schwester Wafaa zur Welt. Die heute 33-Jährige hat sich gerade in eines der hippen neuen Cafés gesetzt, von denen es in Kreuzberg viele gibt. Wafaa gehört zu den Gründerinnen des Kreuzbergtags.
    "Für uns war es wichtig, viele Jugendliche nach Kreuzberg zu bringen, um einen persönlichen Kontakt herzustellen, Leute, die niemals einen Blick in eine andere Welt bekommen könnten, mal Türen zu öffnen."
    Wafaa Khattab arbeitet, wenn sie nicht gerade Kreuzberg-Touren leitet, als Quartiersmanagerin in dem Bezirk. Ihr Mann Ali ist bei der Feuerwehr, einer von sehr wenigen arabischstämmigen Feuerwehrmännern in Berlin. Die drei Söhne der beiden gehen auf eine Montessori-Schule. Wafaa und Ali Khattab arbeiten ehrenamtlich mit im Schulgarten, wenn ihr Job ihnen die Zeit lässt. Wenn es ein Paradebeispiel für den Erfolg von Flüchtlingen in Deutschland gibt, ist es die Familie von Wafaa und Intissar. Aber der habe sich nicht von selbst eingestellt, sagt Wafaa Khattab:
    "Wenn ich und meine Geschwister aufgegeben worden wären von der deutschen Gesellschaft damals, dann würden wir tatsächlich alle nicht da stehen, wo wir heute stehen."
    Bildung als Chance für Flüchtlingskinder
    Das ist für Wafaa Khattab eine Lehre, die ihrer Ansicht nach auch heute wichtig ist angesichts der vielen Menschen, die nach Deutschland fliehen:
    "Wir wurden sehr unterstützt von Erziehern, von Lehrern, die es erkannt haben, dass da Potenzial ist, und dass Bildung eine ganz große Chance für diese Kinder und für diese Generation ist. Und das ist das, was ich auch eigentlich gerne weitergeben möchte."
    Die gleichen Vorbehalte, die gleiche Angst, denen sie sich ausgesetzt sah und nach wie vor sieht, beobachtet Wafaa Khattab heute bei vielen Menschen gegenüber Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak. Und sie glaubt, dass ihr Konzept des Kreuzbergtags helfen kann, diese abzubauen:
    "Ich persönlich versuche, meine authentische Person rüberzubringen, um ihnen diese Angst zu nehmen – eine Kreuzbergerin, die mit Leib und Seele Kreuzbergerin ist, durchaus eine arabische Seele hat und sehr froh ist, sich jeden Tag aussuchen zu dürfen, wie viel an arabischem Leben und wie viel an deutschem Leben parat sein kann."
    Wafaa Khattab freut sich, dass diese Verbindung für ihre Söhne schon selbstverständlich geworden ist:
    "Mein Sohn wurde mal gefragt, woher er denn kommt. Und da fand ich seine Antwort so schön, weil er meinte: 'Ich komme aus Kreuzberg'."
    Wafaa weiß, dass noch viel Überzeugungsarbeit vor ihr liegt, damit solch eine Identität auch für die meisten Deutschen selbstverständlich wird. Vielleicht bieten sich dazu bald ganz neue Möglichkeiten.
    "Ali möchte unbedingt ein Haus kaufen. Er möchte auch nach Altglienicke und keine Ahnung wohin. Und ich sage, Ali, ich komme aus Kreuzberg, das geht gar nicht."
    Wenn es nach ihrem Mann geht, muss sich die Kreuzbergerin Wafaa Khattab demnächst auf ungewohntes Terrain einlassen.