Mittwoch, 24. April 2024

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Berlin Ostbahnhof Europas

Als Friedrich der Große einmal in Wien weilte, und mit Kaiser Joseph II. 1770 eine Ballett-Premiere in der Wiener Neustadt besuchte, wollte er mit dem Choreographen ins Gespräch kommen. Schließlich kannte er den berühmten Noverre ja noch aus früheren Berliner Zeiten. Ob die Tänzerinnen hier in Wien ihre Schultern und Arme nicht doch etwas zu sehr in die Luft würfen, fragte Friedrich der Große den Tanzmeister nach der Premiere. Nicht ohne von oben herab noch hinzuzufügen: das sei bei der Primaballerina in Berlin damals doch anders gewesen. Noverre antwortet lakonisch und knapp: "Ebendeshalb war sie in Berlin, Sire!"

Matthias Sträßner | 13.01.1999
    Es gab Zeiten, und das mag man dieser Episode entnehmen, da waren Choreographen, Schriftsteller, Maler froh, wenn sie nicht in Berlin sein mußten, sondern wie etwa Noverre im späten 18. Jahrhundert, in Wien, Paris, Mailand oder Petersburg arbeiten konnten. Es gab aber auch Zeiten, da war man froh, wenn man Berlin erreichte. Und das galt nicht nur für Künstler. Die Rede ist vom Berlin nach dem 2.Weltkrieg, das für Russen zum besonderen Ankerplatz wurde. Üblicherweise teilt man die Zeit von 1919 bis 1931 in drei Perioden: in der ersten Periode von 1919 bis 1921 beherrschen die Emigranten die Szene, die überwiegend antisowjetische und antibolschewistische Ansichten vertreten.

    In der zweiten Periode - sie dauert von Ende 1921 bis Anfang 1923 -, die gleichzeitig auch die spannendste Phase ist, kommt es gewissermaßen zu einer "friedlichen Koexistenz" von "Emigranten, unentschiedenen oder apolitischen Schriftstellern und Künstlern und sowjetfreundlichen Intellektuellen", und erst in der dritten Phase wird Berlin zum Ort der Kristallisation: nämlich der Entscheidung entweder für die definitive Emigration in andere Städte oder für die Entscheidung, wieder in die Heimat zurückzukehren. Das ist das russische Berlin "vor der großen Entmischung, vor der Wandlung zur ‘geschlossenen Gesellschaft’."

    Und wenn schon mit dem Jahr 1927 gewissermaßen das Ende des russischen Berlin einsetzt, und Paris dafür das neue Zentrum der russischen Emigration wird, so blickt Berlin doch auf eine eigene, großartige Geschichte der Russen in dieser Stadt zurück. Hier schreiben Ilja Ehrenburg und Vladimir Nabokov, hier schreibt Sklovsky seine "Zoogeschichte", in "Berlin russki" tanzt und arbeitet die Gsovsky, und in den Salons, Gefängnissen, Botschaften, Bahnhöfen und Cafés wird russisch gesprochen. Busse heißen "Russenschaukeln", der Wittenbergplatz gilt als kleines Sankt Petersburg, Charlottenburg heißt Charlottengrad und der Kurfürstendamm wird "Nöpskij-Prospekt" genannt: ein humorvoller Neologismus aus Nevskij-Prospekt und NÖP, der Abkürzung für die "Neue Ökonomische Politik" der Sowjetunion.

    Berlin war - so macht es das neue Buch von Karl Schlögel über "Berlin Ostbahnhof Europas" deutlich - "Schleusenkammer in das alte, untergegangene Rußland, aber auch Ausgangspunkt jeder Reise in die sowjetische Gegenwart." Dabei gibt sich Schlögel gar keine Mühe, den bunten Haufen der Flüchtlinge vorschnell zu katalogisieren. Gerade die Zusammenhanglosigkeit reizt ihn und mit der Zeit auch den Leser, wenn immer deutlicher wird, wie unterschiedlich die Erwartungshaltung der Deutschbalten, der "Moskauer und Petersburger Deutschen", der Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs, gewesen sein mußte. Dazu die Erwartungen der Flüchtlinge, Emigranten aus Rußland, der russischen Juden und, was nicht das gleiche ist, der Ostjuden, der russischen Zwangsarbeiter im Dritten Reich und schließlich der Sowjetrussen. Daß sich zwischen "Sowdepien", wie die Sowjetische Botschaft in Berlin" genannt wurde, und Petersburg am Wittenbergplatz regelrechte Rivalitäten entwickeln konnten, ist gleichfalls anzumerken. Schlögels Ansatz ist dabei wohltuend direkt: er geht an die Bahnhöfe und Grenzübergänge, und liest, was uns die Fahrpläne heute noch zu sagen haben. Dazu bietet Karl Schlögel viele ungewohnte Eingangstore, um sich mit dem russisch geprägten Berlin vertraut zu machen: so die Tagebücher von Harry Graf Kessler, und dessen Freundin Helene von Nostitz, aber auch die Schriften des Gelehrten Simon Dubnow, der die Geschichte des osteuropäischen Judentums zu seinem Lebenswerk machte. Schlögel schildert die russischen Taxifahrer in Berlin, den Fall "Anastasia" oder auch die Geschichte von Professor Otto Hoetzsch, von dessen deutscher Rußlandkunde auch ein junger amerikanischer Diplomat profitieren konnte: George F. Kennan nämlich, der die Rußlandpolitik der USA später entscheidend mitbestimmen sollte. Oder er mahnt an, daß eine Studie über die eminente Rolle der Übersetzer aus dem Russischen, die meist aus dem deutsch-russisch-jüdischen Milieu stammten, noch aussteht: Studien über Elias Hurwicz und Walter Groeger, über Arthur Luther, der Tschechow übersetzte, über den Mereschkowski-Übersetzer Alexander Eliasberg, ohne alle die auch ein Thomas Mann sich seine "Russische Anthologie" nicht hätte zusammenstellen können.

    Keine Frage, daß Schlögel für dieses Thema ein Experte allen ersten Ranges ist: seine vorausgegangene Monographie aus dem Jahr 1994 über "Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941" ist inzwischen ein Standardwerk der Emigrationsforschung, und das Forschungsprojekt über Emigrationszeitschriften, das der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder erstellt hat, ist knapp vor der Vollendung. Hier ist eher der Hinweis wichtig, wie lesbar Schlögel seine Informationen geformt hat, so daß der russische Wald bei allen Birken durchaus noch zu sehen ist. Wer Schlögels Buch liest, wird freilich auch seine These ernst und belegt finden, daß eine wirklich umfassende Kulturgeschichte der Weimarer Republik, die auch diesen Aspekt berücksichtigt, erst noch zu schreiben ist.