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Berlin
Vermeintliche Antipoden auf dem Festival "Intonations"

Zum sechsten Mal hat das Kammermusikfestival "Intonations" im Jüdischen Museum Berlin begonnen. In diesem Jahr bringt die künstlerische Leiterin, die Pianistin Elena Baschkirova, ungleiche Paare auf die Bühne, demonstriert Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten und zieht Schubladen im Kopf bis zum Anschlag heraus.

Von Julia Kaiser | 24.04.2017
    Das Jüdische Museum in Berlin, aufgenommen 18.06.2014.
    Als kleine Schwester des Jerusalem Chamber Music Festivals hat das Festival im Jüdischen Museum Berlin seine Heimat gefunden. (picture alliance / dpa - Alberto Fanego/dpa)
    Musik: Ustwolskaja Trio
    Wie eine düstere Urgewalt, gleichzeitig lyrisch und ätherisch breitet sich Galina Ustwolskajas Trio für Klarinette, Violine und Klavier im verglasten Innenhof des Jüdischen Museums aus. Im Rücken der Zuschauer biegen sich die blühenden Bäume des Museumsgartens im Frühlingssturm, aus das gläserne Dach trommelt mal der Regen, dann fliegen Wolkenfetzen vorbei oder die Aprilsonne scheint auf die Bühne. Wie in einer anderen Welt fühlt man sich beim Festival Intonations, in der nur die Kammermusiker und ihre Zuschauer existieren. Und das soll auch so sein; "Jerusalem in Berlin" heißt das Programm im Untertitel. Geografisch und auch meteorologisch ist das nicht zu übersetzen. Vielleicht aber gedanklich. Denn das Berliner Publikum empfindet den Sog, der von der Pianistin Elena Baschkirova und ihren Gästen auch beim Kammermusikfestival in Jerusalem ausgeht.
    "Sie öffnet das Gehirn, sie öffnet die Seele – sie ist eine unglaublich wichtige Aufgabe, die Musik. Gerade jetzt, in Israel. Das Land ist in einer schrecklichen Situation. Und in diesem Moment mit der Musik können die Leute etwas Schönes haben, nur das – weg vom Stress."
    Ein Festival zum Fühlen und Erleben
    Zu keinem Zeitpunkt geht es der künstlerischen Leiterin um Analyse von Musik, nur um das Fühlen und Erleben. In diesem Jahr bringt sie dabei "ungleiche Paare" auf die Bühne und zieht Schubladen im Kopf bis zum Anschlag heraus.
    "Wenn man Haydn sagt, sagt man Mozart und umgekehrt. Ich mag lieber Liszt oder ich mag lieber Chopin. Warum denkt man nicht an einen anderen Komponisten, sondern immer in diesen Paaren? Das können wir auch bei Schostakowitsch und Prokofiev verfolgen, Debussy und Ravel. Ich dachte mir, das sei doch ein interessantes Phänomen. So habe ich Werke nebeneinander gestellt, bei denen das Publikum Ähnlichkeiten hört, aber auch sehr große Unterschiede."
    Vermeintliche Antipoden stehen hier in ihrer Eigentümlichkeit und persönlichen Vielfalt nebeneinander. Toleranz im Denken wird in dieser Betrachtungsweise geschult, in Berlin wie auch in Jerusalem, wo das längere Kammermusikfestival im September stattfindet. Es gehört zu den Höhepunkten im Kulturleben von ganz Israel, sagt der Präsident des Jerusalem Chambermusic Festivals, Ezekiel Bejnisch.
    Musiker verzichten auf Gage
    Der Pianist Jefim Bronfman komme regelmäßig zum Kammermusikfest in Jerusalem, erzählt Ezekiel Bejnisch, und für das 20. Festival im kommenden Herbst habe sich Martha Argerich angekündigt. Alle Künstler treten ohne Gage auf, ihr Lohn ist die Liebe des Publikums. Aus Bejnischs Mund klingt das kein bisschen kitschig. Elena Baschkirova stimmt ihm zu.
    "Es ist unglaublich existenziell dort, auch für uns, die wir spielen. Man spürt praktisch physisch diesen Durst nach diesen Konzerten. Und das ist natürlich wunderbar für uns, für ein Publikum zu spielen, das nicht satt ist. Hier in Berlin dachte ich, wie das wohl werden würde, bei diesem reichen Angebot, ob die Leute wirklich kommen würden und zuhören. Aber zu meinem Erstaunen und Glück haben wir das geschafft. Wie gesagt, ist das hier eine ganz andere Situation. Trotzdem ähnelt sich das Musik liebende Publikum irgendwie. Wenn die Leute aktiv zuhören, und das tun sie hier – und dort natürlich sowieso, dann spürt man das auf der Bühne und gibt sein Bestes."
    Musik: Tschaikowsky Trio für Klavier, Violine und Violoncello
    "Elena spielt sozusagen Puzzle mit den Musikern"
    In der Qualität und Intensität stehen die Konzerte in Berlin denen in Jerusalem in nichts nach. Auch in den kammermusikalischen Paarungen hat Elena Baschkirova in diesem Jahr vielfach gegensätzliche Künstler zusammengebracht. Die funkelnde Eleganz der Pianistin Elisabeth Leonskaja trifft auf die Pranke des Geigers Guy Braunstein, mit leuchtenden Wangen komplettiert der junge Cellist Edgar Moreau das Trio, bei Tschaikowskys Musik sprühen die Funken. Guy Braunstein ist glücklich erschöpft nach dem Konzert.
    "Elena spielt so zu sagen Puzzle mit den Musikern. Natürlich ist es ganz normal für ein Festival, die Kollegen nur zwei Tage vor dem Konzert zu treffen und dann das Werk zusammen zu lesen. Die große Kunst einer künstlerischen Leiterin ist immer, das richtige Puzzle zusammenzusetzen. Aber Elena ist etwas Besonderes. Sie ist wie kein anderer Mensch, den ich kenne. Sie ist ehrlich mit allem, was sie tut. Sie denkt immer an die Kunst zuerst und danach an PR und Kartenverkauf. Und so muss es sein!"
    Musik: Mossolow "Vier Zeitungsannoncen"
    Vollends in Verzückung versetzt Elena Baschkirova ihre Mitmusiker und das Publikum, als sie kurzerhand für die erkrankte Sopranistin einspringt und sich mit Sprechgesang selbst begleitet. Auf oder vor der Bühne, jeder hat Anteil an den essentiellen Gefühlen, die Musik hier vermittelt.