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Berlinale
Zwischen Staubtuch und Wüstensand

Der Islam ist auch bei den Festspielen ein Thema. Filme aus dem Iran, der Türkei, Israel und Saudi-Arabien erkunden den Alltag von Muslimen anstatt auf spektakuläre Themen wie Terror zu setzen. Was hält die Familie zusammen? Wie viel Geld reicht zum Leben? Und: Was dürfen Frauen?

Von Kirsten Dietrich | 18.02.2016
    Die Finger werden in schwarze Farbe getaucht, dann füllen Fingerabdrücke die leeren Kästchen in einem großen Vordruck. Noch ein Foto für die Kartei, auf dem ein ängstliches Mädchengesicht unter einem schwarzen Kopftuch zu sehen ist – dann kann die junge Frage ihre Hände waschen, bevor die Metalltür hinter ihr abgeschlossen wird. Eine neue Bewohnerin für das Korrektur- und Rehabilitationszentrum für Mädchen, in dem der iranische Regisseur Mehrdad Oskouei seine Dokumentation "Starless Dreams" drehte.
    "Starless Dreams"
    "Starless Dreams" zeigt eine Seite der Islamischen Republik Iran, die in den Nachrichten nicht vorkommt: junge Frauen, manche fast noch Kinder, erschreckend viele trotzdem schon Mütter, die in Konflikt mit der Gesellschaft geraten. Die Gründe sind vielfältig: Drogensucht, Drogenhandel, Kleinkriminalität, manche sind vor Streit mit den selber drogenabhängigen Eltern von zuhause weggelaufen, eine hat den gewalttätigen Vater erschlagen. "Ich hätte nicht gedacht, dass meine Brüder mich anzeigen", sagt sie, immer noch erstaunt. Filmemacher Mehrdad Oskouei lässt die Mädchen ihre Geschichten erzählen. Er zeigt sie beim Herumalbern und beim Weinen, zeigt auch die strengen, aber nicht unfreundlichen Verantwortlichen in der Anstalt. Diese sind selber hilflos, denn entlassen werden dürfen die Mädchen nur in ihre Familien – egal, wie zerrüttet die ist. Einmal begleitet der Film den Besuch des Imams, auch er freundlich, aber letztlich hilflos. Die Mädchen beklagen, dass sie als Frauen und als Straffällige verachtet werden. Der Imam kann darauf nur antworten, dass es eben Aufgabe jedes und jeder Einzelnen sei, zu Ruhe und Frieden in der Gesellschaft beizutragen. Konkretere Hilfestellung dabei hat er nicht anzubieten.
    "Toz Bezi"
    Es sind diese scheinbar unspektakulären Blicke hinter die öffentlichen Kulissen der Gesellschaft, die die Filme aus dem islamischen Kulturraum bei dieser Berlinale so wichtig und spannend machen. Denn sie zeigen, dass es tiefe Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft gibt und dass weder Religion noch politische Ansprüche als Kitt taugen. Eine wichtige Lektion auch für den westlichen Blick auf islamisch geprägte Staaten – und dazu auch noch packendes, ergreifendes Kino. So zum Beispiel im türkischen Film "Toz Bezi" – Staubtuch. Er begleitet zwei kurdisch stämmige Frauen, die sich in Istanbul mit Putzstellen in wohlhabenden Privathaushalten über Wasser halten. Die eine hat ihren Mann wegen dessen Unzuverlässigkeit vor die Tür gesetzt, bräuchte aber einen zusätzlichen Verdiener. Die andere träumt von einer eigenen Wohnung in einem besseren Viertel. Und über beiden schwebt als Drohung die Gentrifizierung, die für Menschen ohne festes Einkommen auch in Istanbul das Leben unbezahlbar macht. So groß ist die Sorge und Not, dass eine der Putzfrauen sogar zum Beten um eine bezahlbare Wohnung in eine Kirche schleicht, weil dieser wundersame Kräfte bei der Erfüllung unmöglicher Wünsche nachgesagt werden.
    "Sufat Chol"
    Der Film "Sufat Chol", Sandsturm, führt in ein Beduinendorf irgendwo in der südisraelischen Wüste. Hier lebt Layla mit ihrer Familie – im Niemandsland, zwischen den überkommenen patriarchalen Traditionen ihrer Gesellschaft und der Moderne, in der sie bei aller Armut und allem Druck durch äußere Umstände eben auch die Möglichkeit hat, zur Schule zu gehen. Dort passiert, was passieren muss: neben der Bildung findet Layla auch einen Freund, allerdings keinen, den die Familie je als Ehemann erlauben würde. Die Sache fliegt auf.
    "Sag mir, dass es nicht ist, was ich denke", sagt Mutter Jalila – auf die halbherzige Abwehr ihrer Tochter antwortet sie mit einer Ohrfeige. Vater Suleiman liebt seine stolze Tochter, will aber das Gesicht vor den anderen Männern nicht verlieren. Mutter Jalila weiß, dass das Dorf einer jungen Frau wie Layla keine Zukunft mehr bietet – doch wenn die geht, verliert Jalila das Recht auf ihre jüngeren Töchter. Jeder in dieser Familie ist gefangen in Erwartungen und Traditionen. Die israelische Regisseurin Elite Zexer eröffnet mit ihrem Spielfilmdebüt einen ganz genauen Blick in diese Gesellschaft. Dabei bleibt sie immer liebevoll: ihre Figuren sind keine Bösewichter, sondern durch Traditionen in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Auch die Männer – und über sie noch einmal mehr die Frauen.
    "Die Mädchen gehen zur Uni, und dann gehen sie in ihre Dörfer zurück – und ihre traditionelle Welt stößt auf die moderne. Seit ich die Beduinendörfer besuche, sehe ich den Wandel. Es wird sich etwas verändern, ich weiß nur nicht, in welche Richtung."
    Elite Zexer hat selber enge Freunde unter israelischen Beduinen, ihre präzisen Beobachtungen hat sie im Film verarbeitet. "Sufat Chol" ist nicht ohne Hoffnung – aber mahnt zur Geduld. Im Film trifft Hauptfigur Layla eine schwere Entscheidung. Gegen ihre Familie will sie sich die Freiheit nicht erkämpfen – sie kann nur den jüngeren Schwestern die Chance auf eine selbst bestimmtere Zukunft erhalten.
    "Junction 48"
    Noch ein Blick ins Innere einer engen arabischen Gemeinschaft, noch einmal von einem israelischen Regisseur. Udi Aloni erzählt in "Junction 48" vom Alltag junger Palästinenser in der Stadt Lod, in der Nähe von Tel Aviv. In Lod leben Israelis und Palästinenser mehr schlecht als recht zusammen, ein Großteil der angestammten arabischen Bevölkerung wurde nach 1948 vertrieben, Juden gezielt angesiedelt. Aus Lod kommt der Rapper Tamer Nafar, die zentrale Stimme des palästinensischen Hiphop. Das Drehbuch für "Junction 48" ist an seine Biographie angelehnt, Nafar ist einer der Autoren und spielt auch die Hauptrolle. "Junction 48" erzählt schonungslos von der Bedrückung der palästinensischen Bevölkerung, die auf angestammtem Land zu Bürgern zweiter Klasse gemacht werden. Der Film erzählt aber auch von den Verwerfungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, in der junge Menschen mit den strikten Verhaltensregeln der Alten immer weniger anfangen können und junge Frauen für ihr Recht kämpfen, für sich zu sprechen – selbst wenn das auf einer öffentlichen Bühne im Duett mit einem Rapper passiert.
    "Diese neue Generation von Künstlern ist leidenschaftlich in Bezug auf die Situation der Palästinenser und in Bezug auf Selbstkritik. Und sie kann unterscheiden: zwischen einem Juden und einem Besatzer, zwischen arabischem Stolz und arabischen Nebensächlichkeiten."
    Die Mutter von Hauptfigur Kareem wandelt sich im Film von einer kommunistischen Kämpferin zu einer muslimischen Heilerin – diese Seite von Religion habe man gezielt betont, sagt Salwa Nakkara über ihre Rolle.
    "Denn jetzt leben wir in einer Welt der Fanatiker auf allen Seiten – wir benutzen im Film die Religion nur, um Kraft in einem spirituellen Sinn zu bekommen. Um weiterleben zu können, muss man aus der Realität heraus einen solchen neuen Ort schaffen."
    "Barakah meets Barakah"
    Ein Islam, der heilend wirkt, der ganz auf den einzelnen fokussiert –genau diese Ausprägung der Religion wird auch in einem Film aus Saudi-Arabien gezeigt wird, als einziges Auftreten der religiösen Institution. "Barakah meets Barakah" erzählt eigentlich eine unmögliche Liebesgeschichte: zwischen einem kleinen städtischen Angestellten und einem glamourösen It-Girl, die vial Social Media ein Leben jenseits gesellschaftlicher Grenzen zu führen scheint. Mit schier unglaublicher Leichtigkeit schlägt der Film humoristische Funken aus den strikten Regeln, die in Saudi-Arabien für das öffentliche Leben gelten, macht sich lustig über Prüderien, Doppelleben und die Unmöglichkeit, als vielleicht aneinander interessierter Mann und Frau auch nur ein kleines Gespräch zum Kennenlernen zu führen. Doch hinter der Leichtigkeit wird die Sehnsucht spürbar: nach Sinn, wenn die geistliche begabte Hebamme zum Privatritual gegen Unfruchtbarkeit gebeten wird. Und die Sehnsucht danach, die engen öffentlichen Räume zu öffnen. Hauptdarstellerin Fatima AlBanawi setzt dabei vor allem auf das Internet.
    "Viele versuchen, anstelle der saudischen Frauen zu sprechen, anstelle von Saudis überhaupt, auch saudischer Männer: darüber, wie sie sind und wie ihre religiöse Identität geformt wird. Aber es hat immer gefehlt, dass wir selber etwas zu dieser Erzählung beitragen. Das ist mir sehr wichtig: dass ich aktiver Teil dieser Unterhaltung werde, nicht nur Zuschauerin von außen."
    Fatima AlBanawi hat übrigens einen Abschluss in Religionswissenschaften aus Havard. Sie lebt jetzt wieder im saudischen Dschiddah, wie der Rest der Filmemacher. Auch "Barakah meets Barakah" zeigt: islamische Gesellschaften sind vielschichtiger, als es das Gesicht vermuten lässt, das sie nach außen zeigen. Die Menschen in ihnen sind nicht blind für die Moderne, weder für die Verheißungen noch für die Probleme. Alle Versuche, über diese Moderne einen wie auch immer religiös gefärbten Deckmantel zu werfen, werden nicht von Dauer sein. Man muss nur genau genug hinsehen, um die Ansätze dafür zu entdecken. Das ist die Hoffnung, die die Filme aus der arabischen und islamischen Welt bei dieser Berlinale teilen.