Donnerstag, 25. April 2024

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Berliner Festival Ultraschall
Stimme in all ihren Facetten

Die Stimme in all ihren Facetten steht im Zentrum des diesjährigen Ultraschall Festivals. Mittlerweile ist die Stimme längst in vielfältigsten Varianten in der Neuen Musik angekommen. Das Festival-Programm zeugt davon.

Von Julia Spinola | 21.01.2017
    Ein Mikrofon
    Stimme in all ihren Facetten. (Imago / McPHOTO)
    Es ist eine beredte Musik des Schweigens und Verschweigens, die die Musiker des Kuss Quartetts im Heimathafen Neukölln mit größter Prägnanz und Empfindsamkeit zu Gehör bringen: eine Musik der unterdrückten, zerrissenen und zum Verstummen gebrachten Stimmen.
    Der britische Komponist Harrison Birtwistle ließ sich zu seinem 18-teiligen Werkzyklus "Pulse Shadows" von der fragilen Poesie des rumänisch-jüdischen Dichters Paul Celan inspirieren. Er widerstand jedoch klug der Versuchung, die zerbrechlichen Verse Celans im traditionellen Sinne zu vertonen.
    Noch subtiler als in den Vokalstücken des Zyklus wird der Bezug auf die dichterische Stimme Celans in den neun instrumentalen, nur für Streichquartett komponierten Sätzen realisiert, von denen vier gespielt wurden. Das englische Wort "Pulse" bedeutet sowohl "Impuls" als auch "Takt". Und tatsächlich hat Birtwistles Musik etwas von einer schattenhaften Impulslandschaft, wie man den Titel "Pulse Shadows" frei übersetzen könnte. In einem dichten, polyfonen Geflecht zerstückelter Stimmverläufe gestalten die kurzen Sätze einen seismografischen Nachhall der Schrecken der Shoah, die in Celans Poesie allgegenwärtig sind. Und auch Birtwistles "Nine Settings of Lorine Niedecker" für Sopran und Violoncello, die zwischen den Instrumentalstücken erklangen, scheinen sich einer Sphäre der Verschwiegenheit zu entringen.
    Die Sopranistin Moica Erdmann erweckte die klingenden Aphorismen Birtwistles mit einer schlanken, hoch flexiblen Tongebung ebenso klug wie sinnlich zum Leben. Sie hat dem leuchtenden, beinahe instrumental reinen Timbre, über das sie verfügt, inzwischen noch eine Fülle an weiteren, betörend schillernden Klangfarben hinzugewonnen. Mit ihnen veredelt sie auch das 17 Minuten dauernde Stück für Streichquartett und Singstimme des japanischen Komponisten Dai Fujikura, mit dem Titel "Silence seeking solace".
    Im unmittelbaren Vergleich mit einem hoch verdichteten Meisterwerk der neuen Musik, wie György Kurtágs 3. Streichquartett "Officium breve", wirkt es bei aller Klangfantasie an diesem Abend freilich ein wenig redselig. Kurtág schrieb ein eindringliches Miniatur-Requiem auf seinen Freund, den ungarischen 12-Ton-Komponisten Endre Szervánszky, der während des Zweiten Weltkriegs Juden vor der Deportation gerettet hatte. Die brillanten Musiker des Kuss Quartetts entlocken ihren Instrumenten hier in ihrem rhetorisch fantasievollen Spiel alle nur denkbaren Varianten einer Mimikry an die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Stimme.
    Wie plump wirkt gegen die ökonomisch verknappte aber zugleich überbordend gestaltenreiche Musik Kurtágs das groß dimensionierte KlangWerk 11 op. 64 von Erhard Großkopf, mit dem das Festival im Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin eröffnet wurde.
    "Ich baue ein Haus und hoffe, dass die Musik einzieht", erklärte Großkopf im Podiumsgespräch. Sein Wunsch erfüllte sich nicht. Die Konstruktion aus Zeitproportionen und wuchtigen Orchesterklängen blieb leer. Höchst gelungen stellt dagegen Johannes Kalitzke die gesellschaftliche Bedeutung der Stimme des Individuums in einer zunehmend kommerzielleren Welt ins Zentrum seines neuen Cello-Konzerts. Es trägt den Titel "story teller".
    Überbordend bunt wie ein Warenhaus klingt Kalitzkes Musik, in der die Solo-Stimme des Cellos von zunehmend schrilleren Orchestermassen und gesampelten Klängen überwältigt, ja geradezu vergewaltigt wird. Insgesamt gelingt dem Ultraschall- Festival mit der Konzertration auf das Motto "Stimme" eines der interessantesten und vielseitigsten Programme seit Jahren.