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Berliner Festspiele
Jan Fabre stemmt 24 Stunden griechische Tragödie

Der Spektakel-Spezialist Jan Fabre hat praktisch alle mythisch-magischen Gestalten des antiken griechischen Theaters versammelt. Pop-Shows der teuersten Sorte verblassen dagegen. Michael Laages fragt sich allerdings, ob es wirklich 24 Stunden sein mussten.

Von Michael Laages | 29.06.2015
    Porträtfoto des belgischen Malers, Dramatikers, Regisseurs und Choreographen Jan Fabre 2008
    Der belgische Maler, Dramatiker, Regisseur und Choreographen Jan Fabre (AFP / BERTRAND LANGLOIS)
    Zur Ekstase wie die Bachantinnen, zum Irrsinn, zu Mord und Lust. Ein furioser Ensemble-Tanz mit wild zuckenden Schenkeln und Hinterteilen steht am Beginn und am Schluss.
    Samstag, 16 Uhr, erste Szene: Botschaften vom bevorstehenden Untergang des Gemeinwesens, von himmlischen Sendboten ins Hinterteil der Botschafter gesprochen.
    Verdis Friedenssehnsucht hat keine Chance. Eine Stunde später wird Krieg geübt, wie im GI-Drill für den Einsatz in Afghanistan oder im Irak. Und der Krieger Eteokles (er wird auf dem Schlachtfeld enden und von Antigone wider alle Staatsräson begraben werden) beschwört die Zeit, da Gleichgültigkeit zum Verbrechen wird – für "etwas" sterben wollen sollen wir; und er weiß noch, wofür. Wie kämpfen wir heute gegen Krieger, die ihrerseits so denken – im Islamischen Staat zum Beispiel.
    Immer wieder aber auch in griechischen Tragödien kämpfen Männer bis aufs Blut gegen Frauen – einen "Schwanztanz" eröffnen die Männer im Troubleyn-Ensemble, untenrum erst mit Toga, dann ohne; und wie der Ur-Grieche Alexis Sorbas fordern sie "ein bisschen Wahnsinn" für den Mann.
    Ödipus stottert: als Spielball der Götter. Immer wieder kommt die Aufführung nah heran an den Punkt des Unerträglichen: im Entscheiden (oder Nicht-Entscheiden) für den Kampf bis zum letzten und darüber hinaus, im Erzählen von Schmerz bis zum Wahn; im Beharren auf dem Opfer, dem Existenziellen der Tragödie, gegenüber all unserer zeitgenössischen Gemütlichkeit:
    "Ihr bevorzugt wohl das Theater der Heuchelei und der Politik."
    Da rennt, kurz vor Schluss am Sonntag, jeweils eine Ensemblehälfte auf im griechischen Ringkampf zuvor eingeöltem Grund; und die andere Hälfte verwandelt die rennenden, glitschenden Kämpfer mit dem Ajax-Heldentext im Körper per Farbe, Flitter und allerlei Flüssigkeit in bunte Monstren. Der Exzess ist überwältigend: Pop-Shows der teuersten Sorte verblassen dagegen.
    Und was haben wir noch gesehen? Orgien an Wiederholungen, ein Satz in mindestens zwei Dutzend Betonungen heraus geschrien; Bewegung in langsamst möglicher Zeitlupe; Rituale, die kein Ende nehmen wollen. Mussten es 24 Stunden sein? Natürlich nicht. Der eigentliche Inhalt füllt weniger als die Hälfte. Und in den Kriegsbeschwörungen setzt Fabre politisch eher inkorrekt auf Verführung, nicht auf Reflexion.
    Unübersehbar unfassbar ist aber die Energie dieses Ensembles. In Sprache, Bewegung und Ausdruck ist hier ein Typus darstellender Kunst zu bewundern, wie ihn kein deutsches Theater hervor bringt. Aus dem minutenlang tobenden Saal fliegen Blumen in Hülle und Fülle auf die Bühne und von dort wieder zurück ... bei "Troubleyn", dem Ensemble, bleiben einem die Worte weg. Durchatmen – und auf den nächsten Alptraum warten.