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Berliner Volksbühne
"Pelléas et Mélisande" als Beethoven-Recital

Was David Marton aus Maeterlinck macht, ergibt allenfalls sehr grob eine Geschichte. Vielmehr geht es um Musik: gespielt, gesungen gesampelt – irgendwie pädagogisch. In Zeiten, in denen Chilly Gonzales mit kabarettistischem Klavier-Unterricht Jubelstürme erntet, kann man mit Beethoven-Sonaten an der Volksbühne nicht schief liegen.

Von Karin Fischer | 15.01.2015
    Der Mann am Flügel spielt Beethoven-Sonaten, unbeirrt, eine nach der anderen. Alle 32 wird er nicht schaffen an dem Abend, die Frau aber bemerkt er gar nicht, die in Reisekleidung und mit einem Köfferchen herein kommt und an den Flügel tritt, als wollte sie mitsingen. Dass der Musiker Jan Czajkowski alias Golaud Mélisande hier so überhaupt nicht wahrnimmt, zeigt deutlich: Die beiden leben in unterschiedlichen Welten.
    "Rühr mich nicht an! Rühr mich nicht an, oder ich stürze mich ins Wasser..."
    Dass er sie trotzdem als seine Frau mit nach Hause nimmt, führt zu Verwicklungen: Sein Bruder Pelléas, eine Art Seelenverwandter Mélisandes, gewinnt das Vertrauen der geheimnisvollen Fremden, den Gatten plagt die Eifersucht; ein verlorener Ring spitzt die Lage zu, am Ende sind die Titelfiguren tot.
    Was David Marton aus Maeterlinck macht, ergibt allenfalls sehr grob eine Geschichte ganz unterschiedlicher verfehlter Liebschaften. Auf die es dem Regisseur aber auch nicht wirklich ankommt. Die Musik ist hier Teil der Botschaft, zwei Flügel, ein Klavier, eine Heimorgel, eine Violine und eine Gitarre sind im Einsatz. Marton hat wieder seine Schar von Musikerinnen und Musikern mit Spielern aus dem Ensemble ergänzt, das linkische, uneigentliche Spiel gehört mit zum Konzept. Mélisande kann ihr diffuses Unglück oft nur gegen die dominante Rolle von Beethoven und trotz Sonaten-Dauerberieselung in die Welt schreien:
    "Ich weiß nicht, ich leide. Ich bin nicht glücklich hier..."
    Mélisande tritt als großäugiges superblondes Weibchen auf; Ehemann Golaud als unnahbarer Langweiler; Pelléas ist ein jungenhafter Ahnungsloser, der nicht mal seiner Gitarre Töne entlocken kann, und Arkel der einsame greise König, der seine Macht auf beeindruckende Textmassen stützt. Ihm hat David Marton eine Buñuel-Geschichte hinzu erdacht, mit der Geigerin Nurit Stark als grau gekleidete "Viridiana". Musik in jeder Form, gesungen, gesampelt, als Orchester-Einspiel, liefert eine eigenständige Interpretationsebene zur Königskinder-Geschichte, trennt die Sphären von Kultur und Natur und bietet vor allem Anlass für Momente großer Komik: wenn Marie Goyette alias Geneviève sich mit Lilith Stangenberg als Mélisande ein Gesangsduell liefert (französischer Gassenhauer gegen Marianne Faithfull) oder wenn Pelléas und Mélisande zum Schluss als fast flüsterndes Pop-Duo auftreten.
    Chaotisches Bühnen-Setting, bekannte Volksbühnen-Größen und ein Hang zum Slapstick
    Ganz in der Tradition eines Christoph Marthaler oder Clemens Sienknecht stehen die absurd witzigen, von Mutter Geneviève eingestreuten "persönlichen Nachrichten", in ihrer Alltäglichkeit wiederum ein Gegenentwurf zum großbürgerlich-musikalischen Setting:
    "Am Sonntag geht die Sonne im Osten auf. Der Hund des Gärtners weint. Großmutter isst unsere Bonbons. Der Priester ist nervös, wir sagen: Der Priester ist nervös."
    Die Bühne zeigt verstreut abgefallene, abgesägte Äste, tote Natur in Form von ausgestopften Tieren oder Landschaften auf Leinwand. Das kleine, zweistöckige Häuschen mit Minizimmern hinterm Lattengerüst als Schloss von König Arkel erinnert an Bert Neumanns Bühnenbilder aus Holzverschlägen. Das ist natürlich kein Zufall: David Marton kennt den "Markenkern" der Berliner Volksbühne und reichert den ganz erfolgreich mit seinen Musik-Ideen und weit reichenden Assoziationen an: ein chaotisches Bühnen-Setting; bekannte Volksbühnen-Größen wie Hendrik Arnst oder Lilith Stangenberg; den Hang zum Slapstick; und die Chuzpe, wie Frank Castorf große Erzählungen für allerlei Unfug auszubeuten. Dazu kommt, wie in diesem Fall, eine kongeniale Übersetzung von Emotion in Musik.
    Bei Maeterlinck stehen innerseelische Vorgänge im Vordergrund. Bei Marton wird Pelléas mit Hilfe von Beethoven ermordet. Dem kulturkritischen Umgang mit klassischer Musik ist sogar eine gewisse Pädagogik nicht abzusprechen. In Zeiten, in denen Chilly Gonzales mit einer Art kabarettistischem Klavier-Unterricht in der Kölner Philharmonie Jubelstürme erntet, kann man mit Beethoven-Sonaten an der Volksbühne nicht schief liegen. Nach Castorfs Dekonstruktions- und Riminis Dokumentar-Theater erkundet dieses "Schauspiel mit Musik" in der Tradition eines Christoph Marthaler neue Horizonte.