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Berlusconi und Sarkozy fordern Dinge, "die ohnehin schon im Vertrag sind"

Die SPD-Europaabgeordnete Sippel hat die Forderung Italiens und Frankreichs kritisiert, das Schengen-Abkommen vorläufig auszusetzen. Die Regierungschefs der beiden Länder benutzten die Flüchtlingsfrage, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.

Birgit Sippel im Gespräch mit Gerwald Herter | 27.04.2011
    Gerwald Herter: Jetzt bin ich mit der SPD-Europaabgeordneten Birgit Sippel verbunden. Sie ist Mitglied des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Europaparlament, und sie betrachtet den italienisch-französischen Vorschlag für eine Schengenreform skeptisch. Guten Morgen, Frau Sippel!

    Birgit Sippel: Schönen guten Morgen, Herr Herter!

    Herter: Gerade haben wir es gehört, die Bestimmungen des Abkommens von Schengen können kurzfristig ausgesetzt und Einreisekontrollen damit wieder eingeführt werden. Fordern Sarkozy und Berlusconi sozusagen Änderungen, die der Vertrag längst enthält?

    Sippel: Na ja, das, was Herr Berlusconi und Herr Sarkozy uns gerade vorführen, ist ja im Grunde genommen eine absolute unwürdige Scharade, denn im Kern geht es beiden Regierungschefs überhaupt nicht um Schengen und mögliche Probleme im Schengenraum, sondern es geht ihnen um die Ablenkung von ganz anderen Problemen, und sie benutzen Schengen, um so zu tun, als gäbe es ein Problem in Europa nach dem Motto: Haltet den Dieb!, und lenken damit von eigenem Politikversagen ab.

    Herter: Soweit Ihre Meinung, aber können Sie auch meine Frage beantworten? Änderungen, die der Vertrag längst enthält, werden die da gefordert?

    Sippel: Na ja, es ist ja interessant, dass es nicht nur schon Ausnahmen gibt, um Kontrollen natürlich zuzulassen, weil man keine Außengrenze wirklich wasserdicht machen kann. Insofern werden Dinge gefordert, die ohnehin schon im Vertrag sind. Bemerkenswert finde ich aber auch, dass gestern Herr Berlusconi verkündet hat, dass man nun mit der Rückführung tunesischer Flüchtlinge beginnt – das ist etwas, was er von Anfang an hätte tun können, und man fragt sich, warum er jetzt auf einmal mit dieser Idee rauskommt.

    Herter: Aber finden Sie es denn fair, dass die Flüchtlinge dort Asyl beantragen sollen, wenn sie es wollen, in jenem Land also, wo sie angekommen sind? Das ist klar, dass Italien, Griechenland, Spanien da immer größere Flüchtlingsströme zu verkraften haben als zum Beispiel Deutschland oder Dänemark.

    Sippel: Das ist natürlich eine Frage, die geklärt werden muss, aber auch da müssen wir sagen, worüber reden wir? Wir reden im Falle von Italien über etwa 25.000, 30.000 Flüchtlinge, das ist für ein Land wie Italien mit 60 Millionen Einwohnern sicher noch nicht die Grenze des Erträglichen, wo man sagen muss, da ist Italien mit überfordert. Die deutsche Regierung weist darauf hin, dass wir im vergangenen Jahr etwa 40.000 Flüchtlinge aufgenommen haben. Im Übrigen muss man darauf hinweisen, dass Italien nicht alleine gelassen wird, sondern Italien bekommt schon seit 2010 sowohl finanzielle Mittel als auch personelle Unterstützung von der Europäischen Union und bekommt da wirklich alle Hilfe, die möglich ist.

    Herter: Jetzt muss man aber auch sagen, dass die italienischen Statistiken und Kontrollen einfach nicht so strikt sind wie die deutschen, dass es da wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt, oder teilen Sie diese Einschätzung nicht?

    Sippel: Aber das bestätigt ja nur, dass Italien seine eigenen Hausaufgaben nicht macht, und ganz offensichtlich, wenn man Herrn Berlusconi zuhört, auch nicht bereit sind, die eigenen Hausaufgaben zu machen. Und das kann natürlich nicht sein, dass man jetzt europäische Grundwerte wie etwa den Binnenmarkt mit den offenen Grenzen infrage stellt, weil ein einzelnes Land womöglich seine Hausaufgaben nicht macht, die Kontrollen nicht ordentlich durchführt und die Mittel, die Europa zur Verfügung stellt, eben nicht nutzt, sein eigenes System noch weiter zu verbessern.

    Herter: Ist Berlusconi da undankbar?

    Sippel: Ich glaube, Herr Berlusconi ist eher ein Politikertyp, der nicht bereit ist, sich mit den eigentlichen Problemen auseinanderzusetzen. Wenn Sie die Bilder gesehen haben von Berlusconi auf der Insel Lampedusa, die nun wirklich als Insel ein massives Problem mit den vielen Flüchtlingen hat, da hatte man den Eindruck: Er öffnet die Show, wer ist der beste Kämpfer auf der Insel?, und nicht als ein Politiker aufgetreten ist, der die Probleme ernst nimmt und mit den Menschen auf dieser Insel diese Probleme angehen möchte. Das aber wäre genau seine Aufgabe. Stattdessen lenkt er ab und versucht, Fehler und Schwächen bei anderen zu finden, anstatt seine eigene Arbeit als italienischer Regierungschef zu tun.

    Herter: Sie hören den Deutschlandfunk, es wird 8:19 Uhr. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel über den Vertrag von Schengen, die italienisch-französischen Änderungsvorschläge und die Flüchtlinge aus dem Norden Afrikas. Frau Sippel, muss auch Deutschland Flüchtlinge aus Nordafrika aufnehmen?

    Sippel: Diese Frage wird sich natürlich daran entscheiden, wie stark die Zahl der Flüchtlinge weiter zunehmen wird. Sollten die Zahlen wirklich dramatisch steigen, müssen wir natürlich über eine Änderung der Frage der Dublin-Verordnung, also der Frage, wo werden Flüchtlinge ihren Asylantrag stellen, neu klären. Andererseits muss man auch ehrlicherweise sagen, dass viele der Flüchtlinge gar keinen Asylantrag stellen, sondern sie kommen, weil sie hier arbeiten möchten. Und an der Stelle müssen die europäischen Staaten sich die Frage stellen, wenn wir denn von einem demografischen Wandel reden, wenn wir davon reden, dass wir Arbeitskräfte brauchen, dann ist auch die Frage nicht nur der Verteilung von Asylbewerbern, sondern auch die Frage, wollen wir aus diesem Kontingent der Flüchtlinge Arbeitnehmer aufnehmen. Die klare Ansage muss aber auch sein, wir können dann womöglich nicht alle aufnehmen und alle anderen, die keinen Asylanspruch haben, müssen dann tatsächlich zurückgeführt werden.

    Herter: Was wollen Sie denn, Frau Sippel, wollen Sie die aufnehmen?

    Sippel: Ich denke, wir brauchen eine gemischte Lage. Wir müssen ganz deutlich sagen, wir können nicht jeden Flüchtling jenseits der Frage des Asylrechtes, jeder, der einen berechtigten Asylanspruch hat, muss selbstverständlich aufgenommen werden, und da müssten auch alle Mitgliedsstaaten ihren Beitrag leisten. Was alle anderen Flüchtlinge angeht, die einfach nur arbeiten wollen, müssen wir kurzfristig prüfen, inwieweit wir zahlenmäßig in der Lage sind, Menschen aufzunehmen, ihnen eine Ausbildung, eine Arbeit zu geben – das wird nicht der größte Teil der Flüchtlinge sein –, alle anderen muss man in ihre Heimatländer zurückführen. Und man muss aber zugleich – und da sind Entwicklungspolitik, Außenpolitik, Handelspolitik gefordert – Perspektiven aufzubauen, damit diese Menschen in ihrer Heimat eine Lebensperspektive haben. Denn sie fliehen ja nicht in ein einfach nur besseres Leben – sie wollen arbeiten, sie wollen eine positive Lebensperspektive, und die müssen sie mittelfristig auch in ihrer eigenen Heimat bekommen.

    Herter: Das hat die EU, früher die EG, schon vor Jahrzehnten ins Visier genommen, bessere Hilfen für diese Menschen in ihren Ländern, damit sie nicht zu uns kommen. Aber muss man da nicht von vielen Versuchen sprechen, die einfach gescheitert sind?

    Sippel: Es gab viel guten Willen, es gab auch durchaus sicher gute Beispiele, aber wir müssen da noch besser werden. Und auch das ist sicher ein Grund für die etwas denkwürdige Politik von Herrn Sarkozy, denn gerade Herr Sarkozy hat ja die Mittelmeerallianz ins Leben gerufen, also einen Verbund der Staaten, die am Mittelmeerraum leben, um dort die Probleme zu lösen. Das ist ihm offensichtlich nicht gelungen. Und ich glaube, wir müssen insgesamt als Europäer erkennen, dass eine verstärkte Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe für diesen nordafrikanischen Raum nicht nur das Werk von Gutmenschen ist, sondern dass das etwas ist, was uns selber langfristig nutzt, indem wir starke Handelspartner haben, aber eben auch, damit völlig unnötige Flüchtlingsströme vermieden werden.

    Herter: Das war die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel über den italienisch-französischen Vorschlag zur Reform des Vertrags von Schengen. Frau Sippel, vielen Dank!