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Berserker, Rächer und Schwebende in Bronze

Heute gilt er als der bedeutendste expressionistische Bildhauer Deutschlands, ein Mythos: Als der Bildhauer Ernst Barlach am 24. Oktober 1938 starb, wurden seine Werke jedoch von den Nationalsozialisten als "entartete Kunst" klassifiziert und aus den Museen entfernt. Und dies, obgleich er mit seinen Skulpturen international bereits hohes Ansehen erlangt hatte.

Von Rainer Berthold Schossig | 24.10.2008
    Als Ernst Barlach an einem Oktobertag 1938 im Alter von 68 Jahren in einer Rostocker Privatklinik starb, lag ein schlimmes Jahr hinter ihm: 1937 war er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen und in der NS-Aktion "Entartete Kunst" waren 381 seiner Werke beschlagnahmt und aus deutschen Museen entfernt worden. Die Reichskammer der Bildenden Künste hatte ein Ausstellungsverbot gegen ihn verhängt und seine öffentlichen Denkmäler in Kiel, Güstrow und Hamburg waren geschleift worden.

    Von heute gesehen mutet es geradezu absurd an, dass die Nationalsozialisten gerade jenen Mann, der heute im Ausland als der vielleicht "deutscheste" Künstler betrachtet wird, derart verbissen verfolgten. War Barlach doch zeitlebens kein Ideologe:

    "Ich begehre nichts anderes, als schlecht und recht Künstler zu sein. Es ist mein Glaube, dass dasjenige, was nicht durch Worte auszudrücken ist, durch Formen in den Besitz eines anderen übergehen kann."

    1870 in Wedel an der Niederelbe geboren, wächst Barlach im mecklenburgischen Schönberg, in Ratzeburg und Hamburg auf. An der Dresdener Akademie studiert er Skulptur, Studienaufenthalte in Paris vertiefen seine Kenntnisse. Doch er bleibt in der nordischen Provinz. Seine keramischen Entwürfe tragen noch den Stempel des Pariser Jugendstils. Er schreibt erste Dramen. Doch seine künstlerische Suche mündet in eine schwere Lebenskrise, aus der ihn erst 1906 eine Reise nach Russland erlöst:

    "Im Wartesaal des Berliner Friedrichstraßenbahnhofs, während der Zeiger der Uhr auf elf zu rückt, geht es schon russisch her. Man ist fleißiger Leser von Dostojewski gewesen, und wie man ins Gedränge schaut, gibt es einen Ruck, und man sagt: Sieh da, swydsigalnow! - Die Kamele werden noch getränkt, dann - in Gottes Namen - auf die Wüstenreise!"

    So der nächtliche Beobachter Barlach in seinen "Notizen einer Russlandreise" in einer historischen Aufnahme.

    "Zwei junge Russen sitzen einander gegenüber, der eine ein bebrillter, Tee trinkender Prometheus, der so fleißig nach der Uhr sieht, als müsse die Weltgeschichte noch vor Mitternacht in eine entscheidende Wende eintreten. Der andere ein Jüngling, dessen Züge ein rastloses Winkel- und Achsen-Verstellen treiben, einen Tanz von Mienen, den ich nicht verstehe."

    Aus Russland kommt Barlach mit schweren Gestalten im Skizzenbuch zurück, Raumverdrängende, erdige Figuren mit breiten Gesichtern. Einfältige sind es und Einsame, Hirten und Bettlerinnen, Wanderer und Ausschreitende unterwegs, in gleichsam vom Gegenwind der Geschichte gebauschten Gewändern. Bald auch Berserker, Rächer und Schwertzieher. Der Taumel des Ersten Weltkriegs zieht Barlach in den Bann. Fünf Jahre später kehrt er als Pazifist und Gottsucher heim.

    "Alle meine Gestalten sind wohl nichts anderes als zum Sprechen und Handeln geborene Stücke dieses unbekannten Dunkels, sehnsüchtige Mittelstücke zwischen einem Woher? Und einem Wohin?"

    Die Bibel wird Barlachs Vorlagenbuch; Beter und Sänger, Trauernde und Hungernde treten auf. Er will das Unsichtbare sichtbar machen, das Unaussprechliche ausdrücken. Er schreibt das Drama: "Der arme Vetter". Er findet nun sowohl als Schriftsteller wie auch als Grafiker breite Anerkennung. Zugleich mehren sich scharfe Angriffe nationalistischer Kritiker. Barlachs Werk überlebte das Tausendjährige Reich, beide deutsche Staaten suchten sie zu seinen Erben zu machen. Der Stückeschreiber Bertolt Brecht bekannte sich emphatisch zu ihm:

    "Barlach ist einen der größten deutschen Bildhauer. In seinen Skulpturen triumphiert die menschliche Substanz, das gesellschaftliche Potential herrlich über Entrechtung und Erniedrigung."

    Doch die Gralshüter des "Sozialistischen Realismus" ließen Barlach in der Versenkung "bürgerlicher Verfallskunst" verschwinden, seine Gestalten seien, "grau, rückwärtsgewandt, passiv und von tierischer Dumpfheit". Erst seit der Wende wurde aus dem deutsch-deutschen Zankapfel Barlach wieder ein gesamtdeutscher Künstler.