Freitag, 19. April 2024

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Bertelsmann-Studie
"Angela Merkel schläfert das Land gerade ein"

Lebendiger, attraktiver und kontroverser müssten die Debatten im Bundestag werden, sagte Sven-Christian Kindler von Bündnis 90/Die Grünen im DLF. Unter der Großen Koalition werde im Parlament zu regierungskonzentriert debattiert. Es müsse viel mehr über die grundsätzliche Ausrichtung der Gesellschaft gesprochen werden.

Sven-Christian Kindler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 09.12.2014
    Dirk Müller: Es wird die wenigsten wirklich überraschen: Nur die wenigsten in Deutschland haben in den zurückliegenden Monaten eine Bundestagsdebatte im Radio oder auch im Fernsehen verfolgt. Besonders unter den Jüngeren trifft Politik kaum noch auf Interesse. Das geht aus einer neuen Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor. Darüber hat mein Kollege Jasper Barenberg mit dem Grünen-Abgeordneten Sven-Christian Kindler gesprochen, mit 29 Jahren einer der jüngsten Parlamentarier in Berlin.
    Jasper Barenberg: Nur jeder Vierte in Deutschland hat in den letzten Monaten eine Bundestagsdebatte im Radio oder im Fernsehen verfolgt, steht unter anderem in dieser Studie. Herr Kindler, wie sehr schockiert Sie das möglicherweise?
    Sven-Christian Kindler: Ich finde, die Bertelsmann-Studie zeigt, dass wir auf jeden Fall ein Problem mit dem Parlamentarismus in Deutschland haben und dass wir dringend viel dafür machen müssen, dass wir wieder mehr Interesse wecken und dass es immer wieder lebendiger und attraktiver wird, auch dem Parlament und auch den Debatten im Radio oder im Fernsehen zu folgen, was im Bundestag abgeht. Weil natürlich das, was da diskutiert wird, was dort entschieden wird, zentral für unsere Gesellschaft ist. Aber angesichts dessen, wie die Große Koalition und Angela Merkel gerade versuchen, auch das Land einzuschläfern, verwundert mich das leider nicht, ehrlich gesagt.
    Barenberg: Nun hat die Studie ja festgestellt, dass es im Vergleich zu den 80er-Jahren etwa nur noch halb so viel Interesse gibt inzwischen. Das kann ja nicht nur an der Großen Koalition liegen. Wieso gerät das Parlament insgesamt über diese Zeit betrachtet so gründlich ins Abseits aus Ihrer Sicht?
    "Europäisierung der Demokratie hat stattgefunden"
    Kindler: Ich glaube, es gibt mehrere Entwicklungen, die dabei eine Rolle spielen. Ich glaube, das ist einerseits, dass Entscheidungen natürlich auch inzwischen auf globaler und europäischer Ebene getroffen werden. Ich bin auch gerade in Brüssel. Die Europäisierung der Demokratie mit dem Europäischen Parlament ist natürlich sehr wichtig. Das heißt, das nationale Parlament hat auch nachher weniger Befugnisse.
    Andererseits ist es, glaube ich, so, dass einfach Medien weniger berichten über den Bundestag. Auch da müssen, glaube ich, die Medien sich selbstkritisch fragen, was im Fokus steht. Ich finde, Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, hat auch zurecht kritisiert, dass zum Beispiel die Eröffnungssitzung nicht von ARD und ZDF übertragen wird und irgendwelche Soap Operas oder Talkshows gezeigt werden. Auch da, finde ich, ist die Frage, was öffentlich-rechtliche Medien und andere Medien berichten.
    Aber drittens, glaube ich, ist es schon so, dass es strukturelle Probleme auch gibt in der Art, wie wir debattieren. Es ist zum Teil, glaube ich, auch zu langweilig, irgendwie zu regierungskonzentriert. Ich glaube, das Parlament muss sich selber einfach mehr erstreiten, und ich glaube, dafür brauchen wir Reformen in der Art, wie wir debattieren im Parlament, gerade was die Fragestunde und die Regierungsbefragung angeht.
    Barenberg: Sie haben die Berichterstattung erwähnt und in der Tat nennt die Studie ja auch diesen Punkt und sagt, die Berichterstattung sei zurückgegangen, um 40 Prozent in den letzten gut zehn Jahren. Nun ist es auf der anderen Seite so, dass beispielsweise der Kanal "Phönix" jede Bundestagssitzung live überträgt und dass man den Bundestag inzwischen auch live online verfolgen kann. Das Angebot ist doch eigentlich da.
    Mehr Debatten darüber, "was schief in der Demokratie" ist
    Kindler: Das Angebot ist da und ich kenne auch mehrere Freunde von mir, oder auch Bekannte, die mich ansprechen, wenn sie "Phönix" geschaut haben. Auch der Deutschlandfunk überträgt das ja und auch im Livestream kann man das schauen. Trotzdem ist ja die Frage, wie debattieren wir im Bundestag, und da, glaube ich, ist es einfach extrem notwendig, dass es spannender wird. Die Große Koalition macht im Moment sehr viel Selbstbeschäftigung. Wir haben das Prinzip Rede und Gegenrede, dass jemand aus der Regierung redet, aus den Koalitionsfraktionen, und dann die Opposition antwortet. Das ist nach einer halben Stunde, nach einer Stunde vorbei, je nachdem wie lang eine Debatte ist, und dann kommt noch die Hälfte der Zeit Selbstbeschäftigung der CDU/CSU und SPD, die sich dann gegenseitig beweihräuchern. Das ist für die selber ja auch sehr einschläfernd und langweilig. Das ist, glaube ich, ein Problem.
    Das zweite Problem ist, dass, glaube ich, zu wenig grundsätzliche Debatten im Bundestag gefahren werden. Wir brauchen natürlich einen Rahmen, in dem debattiert wird über die grundsätzliche Ausrichtung unserer Gesellschaft, und das ist das Grundgesetz. In dem Rahmen brauchen wir aber Alternativen: Wo soll unsere Gesellschaft hingehen. Wir haben mehrere Krisen momentan: die Spaltung zwischen Arm und Reich, wir zerstören unsere Erde irgendwie, unsere Lebensgrundlagen, die Natur und die Umwelt, und wir haben eine schwere Krise auch im Kapitalismus, wenn man sich die letzte Finanzkrise und die anhaltende Finanzkrise anschaut. Aber wenn alle Parteien in die Mitte rücken und diese Diskussionen nicht mehr stattfinden im Bundestag, in den zentralen Debatten dort, dann, glaube ich, läuft auch was schief in der Demokratie, und ich glaube, dass der Bundestag und der Parlamentarismus, so wie er momentan ausgelegt ist, wenig an diesen Alternativen bei grundsätzlichen Richtungsentscheidungen hervorbringt.
    Müller: Der Grüne-Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler im Gespräch mit meinem Kollegen Jasper Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.