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Besatzungskinder
Leben mit ausgerissener Wurzel

Als im Herbst 1944 die ersten alliierten Soldaten Deutschland betraten, verbot die Heeresleitung ihnen freundlichen, vertrauten oder gar intimen Umgang mit Deutschen. Dennoch kamen neun Monate später die ersten Besatzungskinder zur Welt. Sie galten als "Kinder des Feindes". Ihre Mütter wurden als "Amiliebchen", "Russenhure" beschimpft. Viele leiden bis heute an den Folgen.

Von Doris Arp | 09.04.2015
    Drei Kinder mit Schultasche und Schultüte blicken über die Schulter - der schwarze Wolfgang, Brünhilde und die schwarze Sylvia.
    Die Besatzungskinder Wolfgang, Brünhilde und Sylvia an ihrem ersten Schultag (undatierte Aufnahme). (dpa / Koll)
    Propaganda der französischen Heeresleitung beim Einmarsch nach Deutschland:
    "Französischer Soldat, sei misstrauisch gegen Deutsche, welche behaupten, dein Freund zu sein, deutsche Frauen, welche dir zulächeln. Sie bereiten vielleicht dein Verderben vor. Jeder Deutsche, jeden Alters, jeden Geschlechts ist dein Feind, alle Mittel sind Recht."
    "Als die Truppen nach Deutschland einmarschierten, als also noch Krieg herrschte, im April und Mai, sind die meisten Kinder gezeugt worden durch Gewaltnahmen seitens der Alliierten. Massenhafte Vergewaltigungen kamen von Seiten der Roten Armee, sehr viele Vergewaltigungen von Seiten der Franzosen, von Seiten der Amerikaner und durch die Briten sind vergleichsweise wenige Vergewaltigungen erfolgt."
    Die ersten Besatzungskinder kommen Weihnachten 1945 auf die Welt, gezeugt in den letzten Kriegsmonaten. Sie galten als die "Kinder vom Feind", erklärt Silke Satjukow, Leiterin des Instituts für Geschichte an der Universität Magdeburg.
    "Sowohl die Rotarmisten als auch die Franzosen hatten ja erlebt, dass Deutsche in ihrem eigenen Land grausame Dinge zu verantworten hatten. Diese Soldaten, die Franzosen und vor allem die Rotarmisten kamen mit Hass nach Deutschland, und die Propaganda hat ihr übriges getan."
    Fünf Jahre lang haben Silke Satjukow und Rainer Gries die verfügbaren Archive im In- und Ausland durchforstet. Sie verfolgten die Lebensspuren der Besatzungskinder, wie sich Entscheidungen der Alliierten auf das Leben der Mütter und Kinder auswirkten und wie sich Politik und Gesellschaft der jungen Bundesrepublik in den ersten Jahrzehnten ihnen gegenüber verhielten.
    "Ab Juni/Juli und weiter folgend sind die Beziehungen eher freiwillig, es sind sogenannte Bratkartoffel-Beziehungen, so sagen manche, also es sind Versorgungsbeziehungen, aber nicht nur. Es sind auch wirklich viele echte Liebesbeziehungen darunter. Wir haben viele Zeitzeugen befragt, die Kinder einer Liebe gewesen sind."
    Porträt von Silke Satjukow.
    Die Magdeburger Historikerin Silke Satjukow. (dpa / Hamish John Appleby)
    Wie viele solcher Beziehungen es gab, gewaltsame und freiwillige, und wie viele Kinder daraus hervorgingen, darüber gibt es naturgemäß keine Statistik. Die erste und bis heute einzige offizielle Zahl veröffentlichte 1955 das Statistische Bundesamt Wiesbaden. Demnach gehen konservative Schätzungen von 200.000 Besatzungskindern aus. Die Historiker Satjukow und Gries kommen aufgrund neuerer wissenschaftlicher Berechnungen auf mindestens 400.000 Kinder.
    Von den Alliierten vergewaltigt
    "Das ist aus unserer Sicht die minimale Zahl, weil die Frauen häufig nicht erzählt haben, dass die Kinder von alliierten Soldaten stammen. Sie haben sich geschämt, sie waren traumatisiert, sie haben keinen Vorteil davon gehabt, weil sie keinen Unterhalt bekommen haben."
    Denn der Kontrollratsbeschluss vom Oktober 1945 legte fest, dass kein alliierter Soldat auf Unterhaltszahlung und Vaterschaftsanerkennung verklagt werden konnte. Das galt bis Anfang der 50er Jahre. Die Mütter hatten also keine Chance auf Unterstützung.
    "Aber die Mütter nehmen diese Herausforderung an, diese Kinder durch diese schweren Zeiten zu bringen. Mindestens 60, ja 70 Prozent dieser Mütter sagen ja zu diesen Kindern und versuchen sie selbst aufzuziehen", sagt Rainer Gries, Professor am Historischen Institut der Friedrich-Schiller Universität Jena. Nur ein kleiner Teil der Kinder wuchs in Heimen auf, obwohl die offizielle Haltung in Deutschland bis Mitte der 50er Jahre hieß:
    "Die Kinder vom Feind gehören in die Länder ihrer Väter. Sie sollen nicht mit deutschen Kindern zusammen aufwachsen."
    Für die Alliierten waren die Kinder jedoch reine Privatsache. Nur wenige Mütter heirateten und kehrten mit ihren Männern in deren Heimat zurück. Und wenige Soldaten blieben bei ihren deutschen Familien. Die meisten Frauen mussten alleine durchkommen, erzählt Ute Bauer-Timmerbrink.
    "Die Mütter waren ausgegrenzt, wenn so ein Soldat weg war. Dann hatte sie plötzlich einen schlechten Ruf und dann hieß es, die eigenen Männer sind noch im Krieg oder Gefangenschaft oder werden vermisst und die machen sich da schon wieder 'nen schönes Leben. Aber, dass sie häufig auch Flüchtlinge waren, ganz großes Leid als ganz junge Mädchen und junge Frauen erlebt hatten, das wurde alles ausgeblendet. Es war nur Schande, wenn dann eine junge Frau plötzlich schwanger wurde."
    Fast alle Besatzungskinder erlebten mehr oder weniger Ablehnung – wenn nicht in der eigenen Familie, dann draußen auf der Straße, in der Schule, im Viertel. Sie werden beschimpft als "Russen-Bankert", als Kind einer "Ami-Hure", als "Franz Gockel".
    "Toxi - ich bin es, Toxi. Großvater, warum bin ich schwarz."
    1952 wird ein farbiges Besatzungskind zum Kinostar. Das kleine Mädchen heißt vielsagend "Toxi" – und sie soll wie ein Giftpfeil in die Gesellschaft eindringen. Gerade kommen die ersten Besatzungskinder in die Schule, und in der Öffentlichkeit beginnt eine vorsichtige Debatte um Schuld und Sühne.
    "Wir sehen, dass alle, die damit beschäftigt waren, die Politik und die Fürsorger, aber auch die Presse, sich dieser Kinder und ihrer Geschichten annimmt. Sie haben einen Boom an Beiträgen über die Kinder in der Presse, in Magazinen, es werden Filme gedreht, wie zum Beispiel 'Toxi'. Man versucht von oben, könnte man sagen, diese Kinder in die Gesellschaft einzubetten."
    Drei farbige Besatzungskinder und Mitschüler an Tischen im Klassenzimmer, vor ihnen große, glitzernde Schultüten.
    Drei farbige Besatzungskinder sitzen an ihrem ersten Schultag erwartungsvoll im Klassenzimmer (undatierte Aufnahme). (dpa / Koll)
    Besatzungskinder wuchsen oft mit nicht leiblichen Vätern auf
    Ihre Lebenswelt sah anders aus, erklärt der Historiker Gries:
    "In meiner Heimatstadt wurde ein solcher I-Dötz eingeschult, der war top herausgeputzt, der hatte seine Fliege an, der hat sich gefreut auf diesen ersten Schultag. Und der Lehrer sagt zu ihm: Du bist doch ein Bankert, du bist doch ein Ami-Kind, du kommst in die letzte Reihe, neben dir darf niemand sitzen."
    "Es ist für alle das gleiche Empfinden, dass man sich in der Kindheit auf irgendeine Weise nicht angenommen gefühlt hat. Es ist anders als in anderen Familien."
    Viele Besatzungskinder wuchsen entweder ohne oder mit Vätern auf, die gar nicht ihre leiblichen Väter waren. Auch Ute Baur-Timmerbrink erfuhr erst im Alter von 52 Jahren, dass ihr richtiger Vater ein US-Soldat war. Gespürt habe sie schon als Kind, dass irgendetwas nicht stimmte. Doch das Thema war tabu, wie in den meisten Familien der Besatzungskinder. Aber Kinder fühlen oft, dass etwas nicht stimmt. Häufig suchen sie die Gründe bei sich selbst. Zusammen mit den Erfahrungen von Ausgrenzung und Stigmatisierung kann das zu einer lebenslangen psychischen Herausforderung werden, wie die Porträts in dem Buch "Wir Besatzungskinder" zeigen.
    Diese Nachkriegskinder sind besonders anfällig für psychische Störungen. Das bestätigt erstmals auch eine kürzlich veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der Universität Leipzig und Greifswald. Die Suche nach den Vätern könne aber mit der eigenen Lebensgeschichte versöhnen, meint Ute Bauer-Timmerbrink. Die 69-Jährige hat es vor einigen Jahren selbst erfahren und seither vielen hundert Besatzungskindern bei der Suche nach ihren Wurzeln geholfen.
    "Das hat mir ein Besatzungskind gesagt: Jetzt kann ich endlich auf beiden Beinen stehen. Ich habe das ganze Leben nur auf einem gestanden. Das heißt, so lange man nicht weiß, wo man herkommt, diese Identität nur zur Hälfte hat, ist das eine Problem, das sich über Jahrzehnte durchzieht. Ich möchte eigentlich wissen, wo habe ich denn die andere Hälfte her, wo sind meine Wurzeln."
    Auf die Gesellschaft wirkten die Kinder vom Feind wie Katalysatoren. Das ist eine These der Historiker Satjukow und Gries in ihrem Buch "Bankerte!". Sie zwangen förmlich zur Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne. Eine echte Aufarbeitung und damit auch Integration der Kinder gelang aber erst langsam in den späten 60-er Jahren, als die Feinde von einst zu neuen politischen Freunden wurden.
    Allein Frankreich ging einen Sonderweg. Schon 1945 erklärte man die Kinder von französischen Soldaten als "Enfant d'Etat". Ihre Rückführung war deshalb offizielle Politik.
    Frankreich holte seine gesunden Besatzungskinder zurück
    "Man hat tatsächlich geglaubt, dass es so viele Kinder sein würden, dass es substanziell dem seit dem Ersten Weltkrieg ausgeblutetem französischen Volk auf die Beine helfen kann."
    Schätzungen gehen von etwa 20.000 Kindern in der französischen Besatzungszone aus. Einige Tausend wurden in Pouponnièren, französischen Säuglingsheimen, gesammelt und sorgfältig ausgewählt. Die Historiker beschreiben eine regelrechte Selektion der Kinder. Nur die gesunden und starken Babies sollten die Rheinseite wechseln, alle anderen in Deutschland bleiben.
    "Am Ende sind es dann doch nur 1.500, die den Weg über den Rhein gefunden haben. Übrigens nicht nur über den Rhein. Die Dunkelhäutigen, die wurden in die Überseegebiete, mit Vorzug nach Nordafrika geschickt."
    Diese zur Adoption vermittelten Kinder wurden so gründlich mitsamt aller Akten französisiert, dass es bis heute extrem schwierig ist, ihre Wege zu verfolgen, sagt der Historiker. Das beklagt auch Ute Baur-Timmerbrink. Die Suche nach den Vätern und ihren Schattenfamilien werde auch nach 70 Jahren teilweise politisch erschwert:
    "Wir haben die Möglichkeit, in Amerika offiziell erlaubt, die Auszüge aus der Militärakte unserer Väter zu bekommen. Das gleiche gilt für alle europäischen Kriegskinder, und davon gibt es Hundertausende in den Ländern, die die deutsche Wehrmacht besetzt hatte. Denen wird heute in der Dienststelle der deutschen Wehrmacht in Berlin ganz engagiert geholfen. Das fehlt uns in Frankreich, das fehlt uns in England, und von der Sowjetunion gar nicht zu reden. Da gibt es ganz große Unterschiede, und da müssen wir auch politisch dran bleiben."
    Zwei Bücher zum Thema:

    Silke Satjukow/Rainer Gries, „Bankerte!" Besatzungskinder in Deutschland nach 1945, Campus Verlag Februar 2015 Frankfurt a.Main. ISBN 978-3-593-50286-1

    Ute Baur-Timmerbrink, „Wir Besatzungskinder" Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen, Ch. Links Verlag Berlin, März 2015. ISBN 978-3-86153-819-6.